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Konvention von Reichstadt – Wikipedia

Schloss Reichstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Anlässlich der Balkankrise trafen sich am 8. Juli 1876 Kaiser Franz Joseph I von Österreich-Ungarn und der russische Zar Alexander II zu Geheimgesprächen, deren Ergebnisse später von Historikern vereinfachend als Konvention von Reichstadt (auch: Vereinbarung von Reichstadt) bezeichnet wurden.

Die Monarchen einigten sich eine Woche nach der Kriegserklärung Montenegros an das Osmanische Reich mündlich auf Nichteinmischung in den serbisch-osmanischen Krieg und vorab auf die Neutralität Österreich-Ungarns in einem möglichen Krieg Russlands gegen das Osmanische Reich. Es bestehen lediglich teilweise widersprüchliche Aufzeichnungen beider Seiten zu der geheimen mündlichen Vereinbarung.

Für den Fall eines Sieges des Osmanischen Reiches über Serbien und Montenegro vereinbarte man, die Grenzen vor dem Krieg wiederherzustellen. Die Christen sollten geschützt werden, Montenegro in seinen bisherigen Grenzen unabhängig werden. Serbien sollte nicht unabhängig werden, aber osmanische Festungen sollten nicht wieder errichtet werden. In Bosnien und Herzegowina waren Verwaltungsreformen durchzuführen.

Für den Fall eines Sieges Serbiens und Montenegros wurde der Balkan in Interessenzonen unterteilt, die Annexion bosnisch-herzegowinischer Gebiete durch Österreich-Ungarn und die Grenzen von Balkanstaaten wurden besprochen, wobei der Umfang unklar blieb.[1]

Die Vereinbarung wurde im böhmischen Reichstadt (heute Zákupy) geschlossen. Anwesend waren außer Zar Alexander II. und Kaiser Franz Joseph die Außenminister Alexander Michailowitsch Gortschakow und Gyula Andrássy.

Die geheim bleibenden Gebietsvereinbarungen wurden im geheimen Budapester Vertrag und im öffentlichen Berliner Vertrag 1878 inhaltlich weitgehend bestätigt, ohne dass diese Bezüge allen Beteiligten bekannt waren.

  • Andrassy

    Andrassy

  • Franz Joseph

    Franz Joseph

  • Alexander II.

    Alexander II.

  • Gortschakow

    Gortschakow

Die Verhandlungen in französischer Sprache fanden wegen der Geheimhaltung in einem privaten und informellen Rahmen statt. Die Ergebnisse des Treffens sollten besonders auf russischen Wunsch hin nicht in einem offiziellen Schriftstück festgehalten oder protokolliert werden. Dies erklärt teilweise, dass es Unterschiede zwischen den von beiden Seiten angefertigten Aufzeichnungen gibt. Andrassy diktierte seine Version dem russischen Botschafter in Wien, Novikow. Unabhängig von diesem Vorgang diktierte Gortschakow Alexander Jomini eine Niederschrift. Beide Aufzeichnungen wurden von der anderen Seite nicht beglaubigt.

So war vor allem die Reichweite der österreichischen Annexionen in Bosnien und Herzegowina umstritten. Bedingt durch diese Unstimmigkeiten wurden die geheimen Regelungen in der Konferenz von Konstantinopel und im Budapester Vertrag noch einmal verhandelt, aber größtenteils bestätigt bzw. ergänzt. Auch der Berliner Kongress entsprach weitgehend den Vereinbarungen.

Allgemein bekannt wurde nach dem Willen der Beteiligten nur die Vereinbarung zur Nichtintervention, nicht aber die anderen Vereinbarungen.[2] Entgegen der vereinbarten Geheimhaltung teilte die russische Seite jedoch direkt nach dem Gespräch dem serbischen Fürsten mit, im Falle der Niederlage würde das Territorium Serbiens nicht geschmälert.[3]

Die geheimen Aufzeichnungen und damit die Details der Vereinbarungen waren lange Zeit Gegenstand von Vermutungen und Fehleinschätzungen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die österreichischen Akten des Staatsarchivs mit dem Titel Résumé des pourparlers secrets de Reichstadt publiziert, die schon Eduard von Wertheimer in seiner Biografie Graf Julius Andrássy, sein Leben und seine Zeit, nach ungedruckten Quellen, Band 2, erschienen 1910, eingesehen und im Kapitel Entretien de Reichsstadt verarbeitet hatte. Das Résume hatte nach Wertheimer auch die Bezeichnung aide-mémoire. Der Text der russischen Aufzeichnungen wurde 1922 von der Sowjetunion publiziert und offenbarte Unterschiede zu den österreichischen Aufzeichnungen.[4]

Die österreichischen Aufzeichnungen, die zuerst 1920 von Alfred Francis Pribram veröffentlicht wurden,[5] bestehen aus einem Fließtext mit nur einer Spalte, die russischen aus zwei Spalten, die zweite mit Kommentaren. Sie war unterteilt in gegenwärtige und zukünftige Regelungen.

Die Frage der Gründe der inhaltlichen Unterschiede ist nach George Hoover Rupp nicht aufzuklären. Lediglich in der Frage der Übernahme Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn scheint gesichert, dass Russland niemals von der Annexion der Herzegowina durch Österreich-Ungarn ausging und dieser erst später unter dem Druck des Krieges zustimmte: "Suffice it to say that Russia, feeling Austrian support a sine qua non for the war, at length agreed to the high price exacted."

Wonder has long been expressed that Russia at Reichstadt so readily agreed to the high price exacted by Austria. It is now disclosed that these terms were in dispute and that Russia agreed to them only after six additional months of negotiation.[6]

  • Nichteinmischung in den serbisch-osmanischen Krieg, solange die Türken „keine exzessive Gewalt gegen Christen anwenden“ (russische Version) oder "bis der Krieg seitens der Türken einen „Vernichtungscharakter“ annimmt (so die österreichische Version).
  • Die österreichischen Häfen Klek und Cattaro seien zu schließen, über die die Parteien Waffen und Munition erhielten (österreichisch: nach der Unabhängigkeit Montenegros, russisch: sofort).
  • österreichische Neutralität im Falle eines russischen Angriffs auf das Osmanische Reich (siehe: Russisch-Osmanischer Krieg von 1877/78) – nicht im österreichischen Text
  • Aufteilung des Balkans in eine russische und eine österreichische Einflusssphäre
  • Annexion bosnischen oder bosnisch-herzegowinischen Gebietes durch Österreich-Ungarn
  • Russland gewinnt Bessarabien und Gebiete im Südkaukasus zurück
  • Ein slawisches Großreich wird ausgeschlossen (Großserbien und/oder Großbulgarien)

ln den Details jedoch zeigen sich deutliche Unterschiede der Aufzeichungen Gortschakows und Andrassys:[7]

Gebiet, Region, Land österreichisch-ungarische Niederschrift (Andrassy) russische Niederschrift (Gortschakow)
Serbien erhält im Falle des Sieges eine gewisse Vergrößerung erhält im Falle des Sieges Teile Altserbiens und Bosniens
Montenegro erhält im Falle des Sieges einen Teil der Herzegowina erhält im Falle des Sieges die ganze Herzegowina und einen Adriahafen
Bosnien und Herzegowina wird – bis auf den an Montenegro fallenden Teil der Herzegowina – von Österreich-Ungarn annektiert nur der Westen („Türkisch-Kroatien“) und einige angrenzende Teile Bosniens werden von Österreich-Ungarn annektiert, der Rest fällt an Serbien (keine österreich-ungarischen Rechte auf Teile der Herzegowina erwähnt)
Bulgarien und Rumelien werden autonome Provinzen innerhalb des Osmanischen Reiches werden unabhängige Fürstentümer
Albanien wird eine autonome Provinz innerhalb des Osmanischen Reiches nicht erwähnt
Griechenland erhält Epirus und Thessalien sowie Kreta erhält Epirus und Thessalien (Kreta nicht erwähnt)

Bismarck, der den Inhalt der Vereinbarungen nur teilweise und nur über mündliche Mitteilungen der österreichischen Seite kannte, äußerte in seiner Autobiografie Gedanken und Erinnerungen, die Konvention von Reichstadt, nicht der Berliner Kongress, sei "die Grundlage des österreichischen Besitzes an Bosnien und der Herzegowina und hatte den Russen während ihres Krieges mit den Türken die Neutralität Österreichs gesichert".[8][9]

  1. Peter F. Sugar: East European Nationalism, Politics and Religion. Taylor & Francis, 2024, ISBN 978-1-04-024428-9 (google.de [abgerufen am 10. Februar 2025]).
  2. "Die Mächte, denen nicht mehr mitgeteilt wurde, als daß man übereingekommen sei, an dem Prinzip der Nichtintervention festzuhalten, ..." https://archive.org/details/wertheimer-graf-julius-andrassy-v-2/page/334/mode/1up?q=reichstadt&view=theater S. 334
  3. Eduard von Wertheimer: Graf Julius Andrassy v 2. 1910, S. 350 (archive.org [abgerufen am 10. Februar 2025]).
  4. George Hoover Rupp: “The Reichstadt Agreement.” In: The American Historical Review. Band 30, Nr. 3, April 1925, S. 503–510, doi:10.2307/1835578, JSTOR:1835578.
  5. Die Politischen Geheimverträge Oesterreich-Ungarns, 1879–1914, nach den Akten des Wiener Staatsarchivs. Von Pribram Alfred Franzis, O. ö. Professor der Geschichte an der Universität Wien. Band I. (Vienna and Leipzig: Wilhelm Braumüller. 1920. Pp. vii, 327.) The Secret Treaties of Austria-Hungary, 1879–1914. By Dr. Pribram Alfred Franzis, Professor of History in the University of Vienna. English edition by Coolidge Archibald Cary, Harvard University. Volume I. Texts of the Treaties and Agreements, with Translations by Myers Denys P. and D'Arcy Paul J. G. (Cambridge: Harvard University Press; London: Humphrey Milford, Oxford University Press. 1920. Pp. xvii, 308.) https://mek.oszk.hu/07100/07162/pdf/secret02pribuoft.pdf
  6. George Hoover Rupp: The Reichstadt Agreement. In: The American Historical Review. Band 30, Nr. 3, 1925, S. 503–510.
  7. vgl. Wladimir Petrowitsch Potjomkin: Geschichte der Diplomatie, Zweiter Band: Die Diplomatie der Neuzeit (1872–1919), Berlin: SWA-Verlag 1947, S. 46/47.
  8. Otto von Bismarck: Otto von Bismarck - Gedanken und Erinnerungen. Anaconda Verlag, 2015, ISBN 978-3-7306-9092-5 (google.de [abgerufen am 27. Januar 2025]).
  9. Zeno: Bismarck, Otto von, Gedanken und Erinnerungen, Zweites Buch, Siebzehntes Kapitel, 1. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 10. Juni 2016; abgerufen am 27. Januar 2025.
  • Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 6). 1977, ZDB-ID 184291-2, S. 56–71.
  • Charles Jelavich, Barbara Jelavich: The Establishment of the Balkan national states. 1804–1920. University of Washington Press, Seattle 1977, ISBN 0-295-95444-2, S. 147 ff. (A history of Central Eastern Europe 8).
  • Serge Maiwald: Der Berliner Kongress 1878 und das Völkerrecht. Die Lösung des Balkanproblems im 19. Jahrhundert. Wissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1948.
  • Alexander Nowotny: Österreich, die Türkei und das Balkanproblem im Jahre des Berliner Kongresses. Böhlau, Graz u. a. 1957 (Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses 1878. 1), (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 44).