peter-hug.ch

Seite 57.73, Frankreich (Verfassung. Verwaltung) | eLexikon

  • ️Peter Hug, Sollrütistr. 24, CH-3098 Schliern b. Köniz
  • ️Thu Feb 25 1875
mehr

Verfassung. Die Verfassung ist republikanisch und beruht auf der von der Nationalversammlung angenommenen Konstitution vom 25. Febr. 1875 und einigen polit. Akten aus den Jahren 1875, 1879, 1884, 1885 und 1887, welche dieselbe ergänzen. Hiernach regiert der Präsident der Republik mittels der Minister, sowie unter Mitwirkung des Senats (Erste Kammer) und der Deputiertenkammer (Zweite Kammer). Seine Gewalt ist die vollstreckende. Die Deputiertenkammer wird nach Gesetz vom 15. Febr. 1889 durch allgemeine direkte Wahlen, die arrondissementsweise vorgenommen werden, gebildet.

Jedes Arrondissement, das nicht mehr als 100.000 E. hat, wählt einen Deputierten, und für jede weitern 100.000 oder einen Teil davon einen weitern Deputierten. Der Wähler muß Bürger und 21 J. alt sein, ein deputierter Bürger muß 25 J. alt sein. Die Deputiertenkammer besteht jetzt aus 584 Mitgliedern, die auf 4 Jahre, der Senat aus 300, welche seit dem Gesetze vom 9. Dez. 1884 allein durch die Departements und Kolonien auf 9 Jahre gewählt werden. Alle drei Jahre scheidet ein Drittel der Senatoren aus; die Wahl geschieht durch ein besonderes Kollegium, bestehend aus den Deputierten des Departements, den Generalräten, den Kreisräten und besondern Delegierten der Municipalräte, die für jede Wahl besonders gewählt werden.

Ein Senator muß Franzose und mindestens 40 J. alt sein. Senat und Kammer versammeln sich alljährlich am zweiten Dienstag des Januar und müssen mindestens fünf Monate versammelt bleiben. Beide beginnen und beendigen ihre Sitzungen zu gleicher Zeit. Der Präsident verkündigt den Schluß der Sitzung und hat das Recht, die Kammern zu außergewöhnlicher Zeit zusammenzurufen; er ist verpflichtet sie zu berufen, sobald die halbe Mitgliederzahl jeder Kammer darauf anträgt. Der Präsident kann die Kammern vertagen, aber nicht auf längere Zeit als auf einen Monat und nicht öfter als zweimal während derselben Sitzungsperiode. Jeder Senator und jeder Deputierte hat das Recht der Initiative; zu einem Gesetz gehört die Zustimmung beider Kammern; indes muß jedes Finanzgesetz zuerst der Deputiertenkammer vorgelegt und von derselben angenommen werden.

Der Präsident der Republik wird durch die zur Nationalversammlung vereinigten beiden Kammern nach Stimmenmehrheit erwählt, und zwar auf sieben Jahre; er ist wieder wählbar. Auch ihm steht selbstverständlich die Initiative für die Gesetzgebung zu. Er verkündet die von beiden Kammern angenommenen Gesetze und überwacht die Ausführung derselben. Er hat das Recht der Begnadigung, verfügt über die bewaffnete Macht und ernennt alle Civil- und Militärbeamten, einschließlich der Chefs der Ministerialdepartements.

Paris

Bild 12.719a: Paris
* 2 Paris.

Die Botschafter und Gesandten der fremden Mächte sind bei ihm beglaubigt. Jeder seiner Erlasse muß von einem Minister gegengezeichnet sein. Der Präsident kann unter Zustimmung des Senats die Deputiertenkammer auflösen, muß aber dann die Wahlkollegien innerhalb dreier Monate zu neuen Wahlen zusammenberufen. Die Minister sind insgesamt den Kammern für die allgemeine Politik der Regierung und jeder ist für sein persönliches Thun verantwortlich. Der Präsident ist nur im Falle des Hochverrats verantwortlich. Bei Todesfall oder sonstiger Vakanz müssen beide vereinigte Kammern (der «Kongreß») sofort zur Wahl eines neuen Präsidenten schreiten. Der Sitz der vollstreckenden Gewalt und der beiden Kammern ist seit 1879 wieder in Paris. [* 2] -

Vgl.   Brie, Die gegenwärtige Verfassung F.s (Berl. 1893).

Verwaltung. Die Verwaltung ist von der Gesetzgebung sowie von der Justiz scharf geschieden und bildet ein System der Centralisation. Es bestehen folgende Ministerien:

1) des Innern, 2) der auswärtigen Angelegenheiten, 3) der Finanzen, welchem seit 1887 Post und Telegraphie unterstellt sind, 4) der Justiz (Großsiegelbewahrer), mit dem des Kultus vereinigt, 5) des Handels und der Industrie, welchem seit 1889 das Departement der Kolonien zugeteilt ist, 6) des Ackerbaues, 7) des öffentlichen Unterrichts und der Künste, 8) der öffentlichen Arbeiten, 9) des Krieges, 10) der Marine. Selbständig ist der Rechnungshof gestellt. Unter dem Präsidium des Justizministers ist ein Staatsrat eingesetzt, welcher sein Gutachten über die Entwürfe von Gesetzen und Dekreten und über die Verwaltungsreglements, sowie über alle Fragen, die ihm durch den Präsidenten der Republik oder die Minister vorgelegt werden, abgiebt und über Rekurse in streitigen Verwaltungssachen und über Annullierungsgesuche wegen Machtüberschreitung seitens der verschiedenen Verwaltungsbehörden entscheidet. Seine Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik ernannt. Zur Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Verwaltungsbehörden und Gerichten ist ein besonderes Tribunal berufen (1872). Der Centralverwaltung der Ministerien schließt sich die Departemental- oder Provinzialverwaltung an. An der Spitze jedes der 87 Departements (s. Tabelle, S. 58) steht ein Präfekt, der die Befehle und Entscheidungen der Minister vollzieht; seine Gehilfen, die Präfekturräte, bilden als Kollegium den Präfekturrat, der in einer Reihe von Verwaltungsrechtssachen in erster Instanz entscheidet.

Außer seiner Stellung als Regierungsorgan ist er aber auch Vertreter der Interessen des Departements, das zugleich Verwaltungsbezirk und Selbstverwaltungskörper und als letzterer jurist. Person ist. Dem Präfekten steht der Generalrat zur Seite. Der letztere ist aus so vielen Mitgliedern zusammengesetzt, als das Departement Kantone hat, und wird von dem Volke nach dem allgemeinen Wahlrechte auf Grundlage der für die Gemeindewahlen aufgestellten Listen gewählt.

Nur müssen die Generalräte, deren Ernennung auf 6 Jahre erfolgt, im Departement wohnen oder darin eine direkte Steuer zahlen. Alle 3 Jahre wird ein Dritteil erneuert; doch sind die Austretenden wieder wählbar. Der Generalrat verteilt die auferlegten Steuern über die Bezirke, berät über die finanziellen Angelegenheiten des Departements, wobei seine Beschlüsse zum Teil der höhern Bestätigung unterworfen sind, und äußert seine Ansichten in allen Dingen, über welche er zu Rate gezogen wird.



Frankreich (Gerichtswe

Bild 57.74: Frankreich (Gerichtswesen)
* 3 Seite 57.74.

Jeder Generalrat beruft jährlich aus seiner Mitte eine ständige Departementalkommission, welche dem Präfekten an die Seite gesetzt ist. Die Unterabteilungen des Departements, die Arrondissements, haben je einen Unterpräfekten au der Spitze, der eigentlich nur Agent des Präfekten ist. Ihm steht ein gewählter Kreisrat (Conseil d'arrondissement) zur Seite, dessen jährliche Sitzung die Dauer von 15 Tagen nicht überschreiten darf. Die Kantone, in welche das Arrondissement zerfällt, haben keine administrative Bedeutung, sondern dienen nur zur Grundlage für Wahlen und für die

mehr

Rekrutenaushebungen; auch hat in jedem Kanton [* 4] ein Friedensrichter seinen Sitz. An die Provinzialverwaltung reiht sich die Gemeindeverwaltung. Da die Gemeinde zugleich Verwaltungsbezirk und selbständige Korporation ist, vereinigt auch der Maire (ähnlich dem Präfekten) den doppelten Charakter des Regierungsbeamten und des Repräsentanten der Gemeinde in sich. Der Maire und die Adjunkten werden vom Municipal-(Gemeinde-)rat gewählt (außer in Paris). Als Beauftragter der Regierung hat er deren Aufträge zu vollziehen, die Ausführung der Gesetze zu überwachen und sowohl die allgemeine wie die Ortspolizei (vorbehaltlich der besondern für Paris, Lyon [* 5] und die Städte von über 40000 E. bestehenden Bestimmungen) zu handhaben.

Seine Beschlüsse (arrêtés) müssen zum Teil vom Präfekten oder Unterpräfekten bestätigt werden. Auf Strafen kann nicht er, sondern nur das Polizeigericht erkennen. Als Vertreter der Gemeinde verwaltet er die Gemeindegüter, ordnet die Ausgaben und Einnahmen, legt das Budget vor, vertritt die Gemeinde vor Gericht u. s. w. Auch ist er Civilstandsbeamter, hält die Civilregister und vollzieht die Civiltrauungen, doch unter Aufsicht der Justizbehörde (Staatsprokurator).

Der Maire ernennt meistenteils die Gemeindebeamten. Sein Gehilfe und Stellvertreter ist der Adjunkt, deren es in Gemeinden von über 2500 E. mehrere giebt. Sowohl das Amt des Maire wie das des Adjunkten (der überhaupt keine eigentümlichen Funktionen übt) ist unbesoldet. Dem erstern zur Seite steht der Gemeinderat (Conseil municipal), den die Einwohner der Gemeinde wählen. Wähler sind alle Franzosen, die mindestens 21 J. alt sind, seit 6 Monaten in der Gemeinde wohnen und ihre bürgerlichen Rechte besitzen.

Bevölkerungsstatistisc

Bild 2.851a: Bevölkerungsstatistische Karten
* 6 Bevölkerung.

Wählbar sind alle Franzosen, die das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben, wenn sie entweder in die Wählerlisten der Gemeinde eingetragen oder zu einer der direkten Steuern veranlagt sind. Der Gemeinderat besteht mindestens aus 10 Mitgliedern, und die Zahl steigt mit der Bevölkerung [* 6] bis zur Höhe von 36 bei 60000 und mehr Einwohnern, abgesehen von den besondern Bestimmungen für die in mehrere Mairien geteilten Städte. Der Gemeinderat faßt Beschlüsse (il règle) über die Verwaltung der Gemeindegüter, welche dem Unterpräfekten mitgeteilt werden müssen und die der Präfekt nicht ändern, aber in manchen Fällen (wegen Gesetzwidrigkeit) aufheben kann; er berät (délibère) das Gemeindebudget, ferner über Kauf, Verkauf u. s. w. von Gemeindegütern, über Bauten und Reparaturen, über Annahme von Schenkungen und über Prozeßangelegenheiten, doch müssen Beschlüsse dieser Art dem Präfekten oder dem Minister des Innern zur Genehmigung vorgelegt werden; er begutachtet (donne son avis) endlich alle Gegenstände, die man ihm vorlegt, wie Kirchensteuersachen, Wohlthätigkeitsangelegenheiten u. s. w. Die Sitzungen des Gemeinderats sind seit 1884, in Paris seit 1886 öffentlich. Die ordentlichen Sitzungen finden jährlich viermal auf die Dauer von je 14 Tagen statt, außerordentliche können vom Präfekten, Unterpräfekten oder Maire berufen werden; letzterer muß sie berufen, wenn die Mehrheit des Gemeinderats es verlangt.

Gerichtswesen. Die Justizpflege steht unter dem Justizminister und zerfällt in die Civil- und Kriminalgerichtsbarkeit. Die Civilgerichtsbarkeit wird geübt durch Friedensgerichte, Kreisgerichte und Appellhöfe. Das Friedensgericht besteht aus einem Richter, der kein Rechtsgelehrter zu sein braucht, und zwei unbesoldeten Stellvertretern. Der Friedensrichter ist sowohl wirklicher Richter als auch Vermittler. Fast kein Prozeß darf beim Kreisgericht anhängig gemacht werden, der nicht vorher zur Vereinbarung der Parteien vor dem Friedensrichter verhandelt worden ist.

Das Kreisgericht (Tribunal d'arrondissement), Tribunal erster Instanz, welches Civil- und Strafkammern (Chambres correctionnelles) bildet, besteht nach der Größe des Kreises aus mehrern besoldeten Richtern und mehrern unbesoldeten Stellvertretern, die aus den Advokaten genommen sind. In erster Instanz gehört zu seinem Ressort alles, was gesetzlich nicht einem andern Gericht zugewiesen, in erster und letzter Instanz die Sachen bis zu 1500 Frs.; in zweiter und letzter Instanz entscheidet das Tribunal über Appellationen gegen friedensrichterliche Urteile. In jedem der 362 Arrondissements befindet sich ein Tribunal erster Instanz, in jedem der 2868 Kantone ein Friedensrichter.

Algerien, Marokko und

Bild 1.347a: Algerien, Marokko und Tunis
* 7 Algerien.

Der Appellhof (26 sind vorhanden, außerdem 1 in Algerien [* 7] und 6 in den Kolonien) ist zusammengesetzt aus 10-23 Präsidenten und Räten (Paris 72), die mehrere Kammern bilden: für Civilprozeß, für korrektionelle Appellationen, für Versetzung in Anklagestand. Die Assisen können nur sprechen, wenn ihnen die Anklagekammer des Appellhofs die Sache zugewiesen hat. Der Appellhof ist gewöhnlich zweite, in wenigen Fällen nur eigene Instanz. Die Handelsgerichtsbarkeit wird versehen:

1) von den 214 Handelsgerichten, deren Mitglieder von den Kaufleuten und Fabrikanten unter sich auf 2 Jahre gewählt und von der Regierung bestätigt werden;

2) von den Gewerbegerichten (Conseils de prud'hommes), welche hauptsächlich über Streitigkeiten zwischen Fabrikanten oder Meistern und Gesellen oder Arbeitern und über Streitigkeiten aus Lehrverträgen entscheiden. Die Handelsgerichtsbarkeit bedarf weder der Anwälte noch Advokaten. - Die franz. Strafrechtspflege unterscheidet drei Grade von Vergehungen (infractions) gegen das Gesetz: Polizeiübertretungen (contraventions), Vergehen (délits) und Verbrechen (crimes).

Die erstern urteilt das Polizeigericht (Friedensrichter) ab, das jedoch nur auf 15 Frs. Geldstrafe oder 5 Tage Gefängnis erkennt. Appellation ist nur gestattet, wenn die Strafe mehr als 5 Frs. beträgt, und zwar an die Korrektionellkammer (das Zuchtpolizeigericht) des Tribunals; dieselbe ist aus drei Richtern zusammengesetzt und richtet in erster Instanz über alle Vergehen, welche keine Verbrechen sind, aber einer höhern Strafe als der Polizeistrafe unterliegen.

Die Appellation gegen die Urteile der Kammer geht an den Appellhof. Die Verbrechen gehören vor das Forum [* 8] der Assisenhöfe, die alle Quartale in jeder Departementshauptstadt abgehalten werden und aus Richtern und Geschworenen bestehen. Außer den Verbrechen sind auch noch Preßvergehen jeder Art sowie polit. Vergehen und Verbrechen den Assisenhöfen zugewiesen. Die Richter sprechen nur die gesetzliche Strafe aus über das von 12 Geschworenen mit absoluter Mehrheit anerkannte Verbrechen. Ausnahmegerichte sind verfassungswidrig, aber es bestehen verschiedene von dem Gesetze vorgesehene Specialtribunale: die Administrativgerichte, Kriegs- und Seegerichte, Disciplinarkammern der Notare und Anwälte und Disciplinarbehörden für das

Fortsetzung Frankreich: → Seite 57.75 || wesen. - Der Kassationshof entscheidet niemals über die streitige Sache, sondern nur über