Seite 57.117, Frankreich (Geschichte 1879-87) | eLexikon
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- ️Thu Nov 23 1876
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versagte. Um sich aus der Verlegenheit zu helfen, legte sie 23. Nov. 1876 einen Gesetzentwurf vor, wonach die militär. Ehren nur den aktiven Militärs erwiesen werden sollten. Diese offenkundige Hinneigung zu klerikalen Tendenzen erregte einen solchen Sturm, daß das Kabinett Dufaure 2. Dez. den Gesetzentwurf zurückziehen und einer Tagesordnung zustimmen mußte, die bei der künftigen Anwendung des Bestattungsreglements die beiden Grundsätze der Gewissensfreiheit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz aufrecht erhalten wissen wollte. Da das Kabinett nunmehr weder im Senat, dem es zu liberal, noch in der Abgeordnetenkammer, der es zu klerikal war, eine Mehrheit hatte, so nahm es seine Entlassung. Nach langen Verhandlungen kam dann 12. Dez. ein neues Ministerium zu stande, in dem Jules Simon, Mitglied der gemäßigten Linken, die Präsidentschaft und das Portefeuille des Innern übernahm, Martel die der Justiz und des Kultus, alle andern Portefeuilles in den Händen ihrer bisherigen Inhaber blieben.
Auf die Agitation der Klerikalen, die von Mac-Mahon verlangten, er solle alle Mittel anwenden, um der Unabhängigkeit des Papstes Achtung zu verschaffen, kennzeichnete Simon 3. Mai 1877 angesichts der ital. Garantiegesetze die Reden von einer Gefangenschaft des Papstes als Übertreibungen. Darauf beklagte sich der Papst öffentlich darüber, daß der franz. Ministerpräsident ihn als einen Lügner bezeichnet habe. Dies hielten die Ratgeber Mac-Mahons für einen günstigen Anlaß, um mit der parlamentarischen Herrschaft aufzuräumen.
Infolge eines Schreibens des Marschalls an Simon, worin jener seinen Zweifel ausdrückte, ob das Ministerium noch genug Einfluß in der Kammer habe, reichte das Kabinett 16. Mai seine Entlassung ein, worauf 17. Mai ein aus Legitimisten, klerikalen Orleanisten und Bonapartisten zusammengesetztes Ministerium gebildet wurde, worin der Herzog von Broglie das Präsidium und die Justiz, Fourtou das Innere übernahm. Am 23. Juni erteilte der Senat die von der Regierung verlangte Zustimmung zur Auflösung der Kammer, die 25. Juni erfolgte.
Das Resultat der von Gambettas Agitation beeinflußten Neuwahlen vom 14. und 28. Okt. war, daß etwa 320 Republikaner und 210 Monarchisten, darunter 112 Bonapartisten, gewählt wurden. Da das Ministerium mit einer republikanischen Kammermehrheit von 110 Stimmen nicht verhandeln konnte und überdies am 4. Nov. auch die Generalrats- und Bezirkswahlen vorwiegend republikanisch ausfielen, so gab es 20. Nov. seine Entlassung ein, und 23. Nov. wurde ein reines Geschäftsministerium ernannt, an dessen Spitze der General de la Rochebouet stand.
Aber die Kammer erklärte am Tage darauf, daß sie zu einem Ministerium, das die Verneinung der Volksrechte und der parlamentarischen Rechte sei, nicht in Beziehung treten könne, und die Budgetkommission weigerte sich, der Kammer die Bewilligung der direkten Steuern vorzuschlagen. Darauf wurde Dufaure vom Marschall mit Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt, das 14. Dez. 1877 zu stande kam und worin er die Justiz, Waddington das Auswärtige, Say die Finanzen, Freycinet die öffentlichen Arbeiten übernahm. Sämtliche neue Minister gehörten der republikanischen Partei an, und fünf von ihnen waren Protestanten.
Paris
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Paris.In der Session von 1878 bewilligte die Kammer das Amnestiegesetz für alle Preßvergehen des J. 1877 und für alle Vergehen gegen das Vereinsgesetz. Durch das Dekret des Präsidenten vom 26. Juni wurden etwa 1300 Teilnehmer am Communeaufstand begnadigt, nachdem schon vorher 890 amnestiert worden waren. Die Weltausstellung in Paris [* 2] wurde 1. Mai eröffnet, die Enthüllung der Statue der Republik auf dem Marsfeld 30. Juni als nationaler Festtag gefeiert. Bei den 5. Jan. 1879 vorgenommenen Senatorenwahlen wurden 60 Republikaner und 15 Monarchisten gewählt, während 56 Monarchisten und 19 Republikaner ausgetreten waren.
Dadurch erhielten die Republikaner, und zwar die gemäßigten, auch im Senat eine Mehrheit von 58 Stimmen. Freilich war damit auch Mac-Mahons Stellung wankend geworden. Die Republikaner verlangten die Absetzung der bonapartistisch gesinnten Generale und ihre Ersetzung durch jüngere, von Gambetta begünstigte. Da Mac-Mahon die Unterzeichnung der hierauf bezüglichen Dekrete verweigerte, bot das Ministerium seine Entlassung an. Aber ein Ministerium, das ihm nicht die nämlichen Dekrete vorgelegt hätte, zusammenzubringen war ihm unmöglich, daher er selbst 30. Jan. 1879 Dufaure die Niederlegung seines Amtes ankündigte.
17) Unter der Präsidentschaft Grévys (1879-87). Sofort traten Senat und Kammer zum Kongreß zusammen und wählten den Präsidenten der Kammer, Jules Grévy, mit 563 von 713 Stimmen zum Präsidenten von Frankreich, worauf die Kammer 31. Jan. mit 314 gegen 91 Stimmen Gambetta zu ihrem Vorsitzenden wählte. Nun konnte sich aber auch das Ministerium Dufaure nicht mehr halten, und 4. Febr. bildete Waddington ein neues Kabinett, in dem er neben dem Präsidium das Auswärtige, Ferry das Unterrichtsministerium übernahm, Say und Freycinet ihre Posten behielten.
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Versailles.Das linke Centrum, die gemäßigte Linke und die sog. republikanische Union waren in diesem Kabinett vertreten. Die Veränderungen in den Militärkommandos erfolgten jetzt ohne Widerstand. Ein radikaler Antrag auf Erlassung einer allgemeinen Amnestie wurde zwar von beiden Kammern abgelehnt, dagegen aber ein von der Regierung vorgelegtes Amnestiegesetz angenommen, das die wegen Verbrechens gegen das gemeine Recht Verurteilten ausschloß und den Amnestierten nicht zugleich auch die bürgerlichen Rechte zurückgab. Im Sinne der vorwaltenden liberalen Strömung wurde auch die Zurückverlegung der beiden Kammern von Versailles [* 3] nach Paris beschlossen und als Termin hierfür der 1. Nov. festgesetzt.
Frankreich (Geschichte
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Seite 57.118.Die von dem Unterrichtsminister Ferry vorgelegten Gesetzentwürfe, von denen der eine den Kongregationen das Recht, höhere Schulen und Pensionate zu unterhalten, entziehen, der andere den übermächtigen Einfluß der Geistlichkeit auf das Unterrichtswesen beseitigen und einen aus Laien zusammengesetzten obersten Unterrichtsrat dem Minister zur Seite stellen wollte, wurden von der Kammer 9. und 18. Juli genehmigt. Bald war den Republikanern auch das Ministerium Waddington nicht mehr genehm, da es ihnen nicht energisch genug gegen bonapartistische Beamte verfuhr. Von den vier Fraktionen der Republikaner: linkes Centrum, republikanische Linke, republikanische Union, äußerste Linke (Radikale), arbeiteten hauptsächlich die zwei mittlern an dem Sturz des Kabinetts, und da dieses unter solchen Umständen die Kammermehrheit nicht für sich hatte, so gab es seine Entlassung ein, worauf 29. Dez. 1879 der Bautenminister Freycinet ein ¶
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neues Ministerium bildete, worin er neben dem Präsidium das Auswärtige übernahm, Ferry das Unterrichtsministerium behielt.
In der Session von 1880 lagen die Ferryschen Unterrichtsgesetze dem Senat zur Beratung vor. Er genehmigte sie, lehnte aber den wichtigsten Artikel (VII), wodurch den Mitgliedern der vom Staate nicht anerkannten Kongregationen verboten war, eine öffentliche oder private Unterrichtsanstalt zu leiten oder daran Unterricht zu erteilen, mit 149 gegen 132 Stimmen ab. Da dieser Artikel den Schwerpunkt [* 5] des ganzen Gesetzes ausmachte, so hatte letzteres ohne jenen keinen Wert.
Daher verlangten die Republikaner, daß die Regierung nach den Gesetzen von 1790, 1792 und 1804 gegen die Kongregationen verfahren solle. Ein solches Eingreifen war um so mehr geboten, da in Frankreich 500 vom Staat nicht ermächtigte Kongregationen mit 22000 Mitgliedern, darunter mehr als 7000 männlichen, bestanden, die Jesuiten 74 Lehranstalten und ein Personal von 1011 Mitgliedern hatten, die Zahl der von Ordensmitgliedern unterrichteten Schüler etwa 20000 betrug, wovon die Hälfte in Jesuitenanstalten war.
Daher erließ auf Grund dieser Gesetze der Präsident Grévy 30. März 1880 zwei Dekrete, von denen das erste den Jesuiten befahl, binnen 3 Monaten ihre gesellschaftliche Verbindung aufzulösen und ihre Anstalten in Frankreich zu räumen; das zweite alle nicht anerkannten Kongregationen aufforderte, binnen 3 Monaten bei der Regierung um die Prüfung und Genehmigung ihrer Statuten und Reglements und um die gesetzliche Anerkennung für jede einzelne ihrer bisher nur thatsächlich bestehenden Anstalten nachzusuchen. Da sämtliche Bischöfe Protestschreiben gegen diese Märzdekrete erließen und die Obern der Kongregationen in einer Versammlung vom 2. April beschlossen, die Statuten nicht mitzuteilen und die Autorisation nicht nachzusuchen, so entstand auch in Frankreich ein «Kulturkampf». Zunächst wurden die Ordenshäuser der Jesuiten und ihre Lehranstalten geschlossen. Wegen der übrigen Kongregationen wurde mit dem päpstl. Stuhl unterhandelt. Die Kongregationen übersandten darauf der Regierung eine Erklärung, worin sie zwar ihre Achtung und Unterwerfung gegenüber den gegenwärtigen Staatseinrichtungen beteuerten, aber weder ihre Statuten vorlegten noch die staatliche Anerkennung nachsuchten.
Cherbourg
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Cherbourg.Diesem Gebaren gegenüber ließ es die Regierung an dem nötigen Nachdruck fehlen und bedrohte damit selbst ihre Stellung. Andere Ereignisse schärften den Konflikt. Nachdem von beiden Kammern 9. Juli eine bedingungslose Amnestie bewilligt war, kehrten die Kommunarden und ihre Führer nach Frankreich zurück, um den Kampf gegen die staatliche Ordnung von neuem zu beginnen. Der 14. Juli, der Tag der Erstürmung der Bastille, wurde in ganz Frankreich als republikanisches Nationalfest gefeiert, und Gambetta, der sich mit Grévy und den Ministern nach Cherbourg [* 6] zur Flotteninspizierung begeben hatte, hielt dort 9. Aug. eine scharfe Revancherede. Um dem Auslande gegenüber nicht in Verlegenheit zu geraten, stellten Grévy und Freycinet Gambettas Rede als den Ausdruck seiner persönlichen Ansichten dar, und Freycinet sprach sogar von einer «Abenteurerpolitik».
Dies konnte ihm Gambetta nicht verzeihen, und namentlich sein Werk war die kurz darauf wegen Ausführung der Märzdekrete eintretende Ministerkrisis. Das Kabinett Freycinet nahm seine Entlassung, worauf 23. Sept. 1880 Ferry, der das Unterrichtsministerium beibehielt, die Präsidentschaft übernahm, während Barthélemy Saint-Hilaire Minister des Auswärtigen wurde und sechs Mitglieder des vorigen Ministeriums in das neue eintraten. Unter der Ministerpräsidentschaft Ferrys nahm der Vollzug der Märzdekrete einen raschern Verlauf.
Die nicht autorisierten Kongregationen wurden aus ihren Klöstern ausgewiesen und diese geschlossen, wozu an manchen Orten Militär aufgeboten werden mußte. Immer mehr zeigte sich die Macht der «anonymen Regierung» Gambettas. Als Führer der zahlreichsten Fraktion, der Republikanischen Union, beherrschte er nicht bloß die Kammer, sondern durch diese auch das Ministerium und nötigte jedes Kabinett, das ihm nicht zu Willen war, zum Rücktritt. Sein Streben galt aber der Erringung des Postens eines Ministerpräsidenten und eines Präsidenten der Republik. Um für diesen Fall eine ihm ganz unterwürfige, von Monarchisten und Radikalen möglichst gesäuberte Kammer zu schaffen, wünschte er die Abschaffung der Arrondissementswahlen und die Einführung der Listenwahlen für die Abgeordnetenkammer.
Hanc veniam etc. - Han
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Hand.Während nach dem bisherigen Wahlgesetz jedes Arrondissement einen Abgeordneten wählte, sollten von nun an die Wähler eines ganzen Departements eine auf einer Liste verzeichnete Anzahl von Kandidaten auf einmal wählen. Da die Republikaner in den meisten Departements die Mehrheit hatten, so war sicher, daß durch die Listenwahl eine überwältigende Mehrheit von Republikanern gewählt werden würde, und die Anfertigung dieser Listen lag in der Hand [* 7] Gambettas und seiner Anhänger.
Der Abgeordnete Bardoux stellte also im Namen Gambettas den Antrag auf Wiederherstellung der Listenwahl, die schon in den J. 1848 und 1871 angewandt worden war, und die Kammer genehmigte denselben 19. Mai 1881 mit geringer Majorität, dagegen beschloß der Senat mit 148 gegen 114 Stimmen, in die Beratung der einzelnen Artikel des Antrags nicht einzutreten. Gambetta gab nun die Parole der teilweisen Verfassungsrevision aus, die sowohl die Listenwahl als auch eine Reform des Senats in sich schloß, obgleich der letztere in vielen wichtigen Dingen, wie in Vereins- und Preßangelegenheiten, in der Zollpolitik und in Budgetfragen in liberaler Weise mit der Kammer übereingestimmt hatte.
Inzwischen hatte Frankreich auf dem Gebiete der äußern Politik einen Erfolg erzielt. Schon seit längerer Zeit hatte man in Frankreich die Besetzung von Tunis [* 8] ins Auge [* 9] gefaßt, und April 1881 nahm Frankreich die Einfälle des räuberischen Grenzstammes der Khrumir in Algerien zum Vorwand dafür. Etwa 30000 Mann rückten von Algerien aus in Tunis (s. d.) ein. Eine andere franz. Kolonne landete in Biserta, [* 10] und General Bréard, der mit 4000 Mann vor dem Bardo des Bei erschien, zwang letztern 12. Mai, den Vertrag von Bardo zu unterschreiben, wonach er alle wichtigen Plätze den Franzosen übergab, die Verwaltung seines Landes durch franz. Beamte zuließ und dem franz. Ministerresidenten Roustan die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten der Regentschaft überließ. Um die Proteste der Pforte, die sich auf ihre Oberhoheitsrechte über Tunis berief, kümmerte sich Frankreich nicht. Deutschland, [* 11] Österreich [* 12] und Rußland erkannten das Protektorat an; aber in England erwachte die maritime Eifersucht in voller Stärke, [* 13] und Italien, [* 14] in dessen Händen fast der ¶
Fortsetzung Frankreich:
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