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Armensteuer - Armenwes

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ArmenwesenArm im Sinn der Gesetzgebung ist derjenige, welcher nicht im stande ist, die für Befriedigung / 5536
Armenwesen _2Im J. 1881 wurde im Deutschen Reich eine statistische Erhebung über das A. veranstaltet. Da / 807
Armenwesen _3Als arm bezeichnet man denjenigen, der nicht so viel an wirtschaftlichen Gütern besitzt, als / 7813
Armenwesen _4Der Begriff der Armut umfaßt nur diejenigen Personen, deren wirtschaftlicher Besitz zu ihrem / 1844

Seite 1.839

Armenwesen

8 Seiten, 16'002 Wörter, 120'368 Zeichen

Volkswirtschaft — Armenwesen

Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888

Titel
Elemente zu Armenwesen:

Allgemeine Aufgaben der Armengesetzgebung.

Geschichte der Armenpflege.

1) Arbeitsfähige Arme können zur Arbeit für einen obrigkeitlich festgesetzten Lohn gezwungen werden. 2) Die Armenpfle

Neuere Entwickelung der Armengesetzgebung.

1) Die moderne industrielle Entwickelung als Folge der Dampfmaschinenkraft und des großen Fabrikbetriebs sowie

1) wer in der betreffenden Gemeinde durch Geburt sein Domizil hat; 2) wer sich ein Jahr

Organisation der Armenpflege.

1) die Subjekte der Armenpflege, 2) die Objekte der Armenpflege

Armenwesen.

Arm im Sinn der Gesetzgebung ist derjenige, welcher nicht im stande ist, die für Befriedigung der Bedürfnisse seiner physischen Existenz nötigen Mittel zu beschaffen. Von der Armut, welche zur Fristung des Lebensunterhalts fremde Hilfe erheischt, ist der Zustand der Dürftigkeit zu unterscheiden, bei welchem zwar eine Befriedigung der Bedürfnisse der ersten Existenz, nicht aber auch solcher Bedürfnisse möglich ist, welche aus individuellen oder sozialen Verhältnissen (Klassenbedürfnissen) erwachsen.

Bevölkerungsstatistisc

Bild 2.851a: Bevölkerungsstatistische Karten
* 2 Bevölkerung.

Die Ursachen der Armut sind teils individuelle, teils durch äußere Umstände bedingte; teils selbstverschuldete (Müßiggang, Liederlichkeit, Verschwendung), teils unverschuldete (Krankheit, Alter etc.). Zu den letztere gehören insbesondere auch diejenigen, welche durch äußere Umstände, wie Mißwachs, Krisen etc., bedingt sind. Spielten unter denselben früher bei unentwickeltem Verkehr natürliche Ereignisse, wie Mißwachs, eine große Rolle, so treten heute mehr solche in den Vordergrund, welche Änderungen der sozialem Verhältnisse oder der Technik (Änderung der Verkehrsrichtung, Vernichtung des Handwerks durch die Großindustrie etc.) entspringen. Ist infolge solcher allgemein wirtschaftlicher Vorgänge, wie sie vorzüglich in Industriegegenden mit dichter Bevölkerung [* 2] zu Tage treten können, die Zahl der Hilfsbedürftigen sehr groß, so bezeichnet man einen solchen Zustand als den der Massenarmut oder des Pauperismus (vgl. auch Proletariat).



Armenwesen (die Armenp

Bild 1.840: Armenwesen (die Armenpflege im Altertum)
* 4 Seite 1.840.

Allgemeine Aufgaben der Armengesetzgebung.

Nach richtiger, auch in Deutschland [* 3] anerkannter Auffassung hat der Arme kein vor Gericht klagbares Recht auf Armenunterstützung durch die Organe des Staates oder der Gemeinde, sondern höchstens einen Anspruch gegen nahe, alimentationspflichtige Verwandte. Nun ist aber das Vorhandensein von Armen für ein ganzes Gemeinwesen vom Übel und zwar in sozialer wie in sittlicher Beziehung. Schon von diesem Gesichtspunkt aus erwächst, auch wenn von humanen Rücksichten ganz abgesehen und dem Armen keinerlei Versorgungsrecht eingeräumt wird, für die Gesellschaft im eignen Interesse die in den heutigen Kulturstaaten allgemein anerkannte Verpflichtung, für ihre Armen zu sorgen, welche aber keineswegs immer für ihre wirtschaftliche Lage ausschließlich verantwortlich

mehr

gemacht werden dürfen. Die Rücksicht auf das Gesamtinteresse gebietet, daß bei Beantwortung der Grundfragen des Armenwesens einfach nur mit der Thatsache gerechnet wird, daß überhaupt Arme vorhanden sind. Darum ist auch nicht einmal Staatsangehörigkeit als Vorbedingung der Unterstützung Hilfloser zu fordern, obschon es politisch geboten ist, durch internationale, auf Gegenseitigkeit beruhende Verträge für die billige Durchführung dieses Grundsatzes zu sorgen.

Die deutsche Armengesetzgebung gewährt auch dem in Not geratenen Ausländer Unterstützung. Bei dieser Sorge hat sich, wenn sie eine befriedigende sein soll, die Thätigkeit von Privaten, freien Vereinen, Gemeinden und des Staates gegenseitig zu unterstützen und zu ergänzen. Um dies zu ermöglichen, sind besondere Armenordnungen nicht zu umgehen, durch welche die Bedingungen und Formen der Armenpflege bestimmt und geregelt werden. Die Aufgaben der Gesellschaft sind teils präventiver, teils repressiver Natur.

Hanc veniam etc. - Han

Bild 8.65: Hanc veniam etc. - Hand
* 6 Hand.

Die erstern, welche das Entstehen der Armut verhüten sollen, umfassen einen großen Teil der gesamten Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere der Wirtschaftspolitik (Hebung [* 5] des allgemeinen Wohlstandes, der Bildung, Hebung der Sittlichkeit, Gründung von Kassen etc.). Sie fallen nur insofern in den Bereich des Armenwesens, als sie in besondern Fällen mit den Maßregeln repressiver Natur Hand [* 6] in Hand zu gehen haben. Die letztern befassen sich mit der Thatsache der Armut und der Beseitigung ihrer schädlichen Wirkungen. Sind dieselben mit Zwang verbunden, so bezeichnet man sie als Maßregeln der Armenpolizei (Zwang zur Arbeit, Maßregeln gegen Bettler, Vaganten, Unterbringung sittlich verwahrloster Kinder in Rettungshäuser, Einschreiten gegen mißbräuchliche Versorgungsansprüche etc.). Dieselbe ist mit dem übrigen Gebiet des Armenwesens, der Armenpflege, so eng verwachsen, daß sie von demselben weder theoretisch noch praktisch zu sondern ist.

Nächst dem polizeilichen Zwang hat auch das Strafrecht in Wirksamkeit zu kommen, insbesondere gegen diejenigen, welche infolge von Spiel, Trunk, Müßiggang unfähig wurden, ihre Angehörigen zu ernähren (so in Deutschland nach dem Strafgesetzbuch, § 361, Nr. 5, während in England eine Bestrafung unter anderm auch bei Entlaufen aus dem Arbeitshaus eintritt). Die Maßregeln und Anstalten der Armenpflege, deren Aufgabe es ist, die Armen in angemessener Weise zu versorgen und die hierfür erforderlichen Mittel, sofern sie nicht aus allgemeinen Fonds fließen, aufzubringen und die Armenlasten zweckentsprechend zu verteilen, sind verschieden, je nachdem es sich um erwerbsfähige oder um ganz oder nur teilweise erwerbsunfähige Personen handelt.

Während man ganz oder nur teilweise erwerbsfähigen Armen in Arbeitshäusern oder außerhalb derselben Beschäftigung verschaffen kann, werden erwerbsunfähige schon im Interesse einer geordneten Verpflegung, welche meist besondere technische Einrichtung erfordert, in eigne Anstalten verbracht, so Waisen, sofern sie nicht, was bei kleiner Zahl auch zweckmäßig, gegen Kostgeld in Familien gegeben werden, in Waisenhäuser, alte und kranke Personen in Armenhäuser, Versorgungsanstalten, Hospitäler, Taubstummen-, Irrenhäuser etc. Anstalten dieser Art sind je nach dem Umfang, den sie einnehmen müssen, und nach der Zahl der zu versorgenden Personen bald als Gemeinde- oder Bezirks-, bald als Provinzial- oder Staatsanstalten zu errichten und zu unterhalten.

Bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit, wie Krankheit des Familienvaters, oder bei teilweiser Erwerbsunfähigkeit (Witwen) wird in der Regel die Unterstützung, welche im letztern Fall eine ergänzende sein muß, am besten außerhalb solcher Anstalten und zwar meist durch Gewährung von Naturalien, wie Arznei, Kleidung, Bezahlung der Miete etc., erfolgen. Im übrigen ist es schwer, das Wesen und die Aufgabe der Armengesetzgebung in eine bestimmte, allgemein gültige Formel zu fassen.

Die Bedürfnisse eines modernen Industriestaats mit dichter Bevölkerung sind wesentlich verschieden von denjenigen eines in seiner Entwickelung weniger vorgeschrittenen, nur Ackerbau treibenden Staates. Die Besonderheit der gesamten Kulturentwickelung, vorzüglich der allgemeinen religiösen und Rechtsanschauungen, hat überall der praktischen Armenpflege ihr besonderes Gepräge verliehen. So ist denn auch der Zustand der gegenwärtigen europäischen Armengesetzgebungen ein sehr verschiedener, wie sich aus folgendem ergibt.

Geschichte der Armenpflege.

Arme hat es gegeben, seitdem bürgerliche Gesellschaften mit Privateigentum bestehen. Das Armenwesen hat daher schon in früher Zeit die Gesetzgebung beschäftigt. Eine eigentümliche Stellung nimmt hierbei die mosaische Gesetzgebung ein, wie sie sich konsequent im Talmud entwickelt findet. Dieselbe verdient schon deswegen Beachtung, weil die christliche Kirche in der Folgezeit vielfach daran anknüpfte. Getreu dem theokratischen Charakter des jüdischen Staates, in dem alles Eigentum zunächst Gottes Eigentum ist, hat auch der Arme von dem Gesetz des Herrn einen bestimmten Anteil an Grund und Boden wie an beweglicher Habe zugewiesen erhalten.

Ernte (Allgemeines, Ge

Bild 5.808: Ernte (Allgemeines, Getreideernte)
* 7 Ernte.

Dem Armen gehörte ein Teil des Ackerlandes, die Ackerecke (peah), welche vom Eigentümer nicht abgeerntet werden durfte, dann die Nachlese, d. h. alles, was nach der Ernte [* 7] auf dem Acker blieb, ferner der Armenzehnte, nämlich jedes dritte Jahr der zehnte Teil der ganzen Ernte; endlich war in jedem siebenten Jahr (Jubeljahr) die ganze Ernte gemeinschaftlich. Das Gesetz bestimmte auch genau die Höhe des Almosens, das den herumziehenden Armen gereicht werden mußte.

Der Arme hatte also nach mosaischem Recht einen Anspruch auf Unterstützung. Eine logische Folge dieser Zwangsarmenpflege war es, daß das mosaische Gesetz auch genaue Bestimmungen darüber traf, wer als arm und wer als reich anzusehen sei. Ähnliche Anschauungen beherrschen noch heute die orientalische Welt. Auch beim Islam ist bürgerliches und kirchliches Regiment vereinigt. Das Almosen ist jedoch nach dem Koran nicht der von Gott dem Armen zugewiesene Anteil an den Gütern des Landes, sondern es ist die Sühne der Sünde gegen Gott und wird bald geradezu vorgeschrieben, bald nur vom Gesetz empfohlen. Das erzwungene Almosen ist der Zehnte, der teils zur Unterstützung des Islam, teils für die Armen bestimmt ist und von jedem erhoben wird, welcher bei gesundem Verstand, volljährig, frei und wohlhabend ist. Das Betteln ist nur denjenigen gestattet, welche nicht für einen Tag Existenzmittel haben.



Armenwesen (die Armenp

Bild 1.841: Armenwesen (die Armenpflege im Mittelalter)
* 9 Seite 1.841.

In entschiedenem Gegensatz zum mosaischen und muselmanischen Recht steht die Gesetzgebung über das in den Staaten des klassischen Altertums. In Griechenland [* 8] tritt in älterer Zeit bei den damaligen sozialen und Staatseinrichtungen (Sklaverei, Verteilung von Staatsländereien in unterworfenen Ländern an dürftige Bürger) eine eigentliche Armenpflege nicht hervor. Eine solche kam erst mit dem unglücklichen Ausgang des Peloponnesischen Kriegs zum Vorschein. Die adynatoi, d. h. anfangs nur die

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im Krieg Verstümmelten, später alle, die weniger als 3 Minen (ungefähr gleich 240 Mark) hatten und arbeitsunfähig waren, erhielten Anspruch auf Staatsunterstützung, welche nach vorgängiger Untersuchung durch die Fünfhundert von der Volksversammlung im höchsten Betrag von 2 Obolen (täglich 20 Pfennig) zuerkannt wurde. Außerdem half man sich auch durch genossenschaftliche Verbände (eranoi), welche auf Gegenseitigkeit gegründet waren. Die daraus erhaltenen Unterstützungen mußten nach wiedererlangten bessern Vermögensumständen rückvergütet werden. In Rom [* 10] findet sich ebenfalls lange Zeit weder eine staatliche noch eine religiöse Vorschrift, welche die Unterstützung der Armen zur Pflicht gemacht hätte.

Athen

Bild 1.999a: Athen
* 11 Athen.

Nicht einmal die Bestimmung, daß der Vater den Sohn und umgekehrt zu ernähren habe, kennt das ältere römische Recht. Allerdings flossen auch schon früher reichliche Spenden an die Armen, aber nicht unter dem Titel des Almosens, sondern als Mittel der Bestechung bei den Wahlen und Abstimmungen. Die wachsende Volksmenge führte zwar später auch zu staatlichen Einrichtungen, welche die Austeilung von Unterstützungen an die Armen zum Gegenstand hatten. Immer aber blieb dabei diesen Spenden wie ähnlichen, die früher in Athen [* 11] vorkamen, der Charakter des allgemeinen Bürgerrechts, von dem die Reichen keinen Gebrauch machten. So erhielt jeder Bürger monatlich nach der lex Terentia 5 modii Getreide [* 12] unter dem Marktpreis, später unter Clodius sogar unentgeltlich.

Auch die Licinischen und Gracchischen Gesetzvorschläge (leges agrariae), welche die Verteilung der Staatsländereien unter die armen Bürger zum Gegenstand hatten, gehören hierher. Erst Cäsar hob den Charakter der Armenpflege bei den Getreidespenden mehr hervor, indem er die Zahl der Empfangsberechtigten auf 150,000 festsetzte und dabei bestimmte, daß nur die Armen diese Spenden unentgeltlich empfangen sollten. Eine Bestimmung darüber, wer als arm zu betrachten sei, wurde indes nie getroffen, auch dann nicht, als unter den ersten Kaisern nicht mehr Getreide, sondern Brot [* 13] in der Art verteilt wurde, daß jede Tribus eine Anzahl Anweisungen (tesserae) erhielt, die sie unter ihre Angehörigen zu verteilen hatte.

Diese tesserae wurden in den Tribus wieder nicht nach Bedürfnis verteilt, sondern man konnte sie kaufen, wieder veräußern, unter Aurelian sogar vererben. Erst unter Nero und Hadrian kamen neben diesen Verabreichungen aus dem Staatsvermögen noch wirkliche Wohlthätigkeitsanstalten insbesondere für Kinder vor, Alimentationen genannt, die sich dann auch auf die Provinzen erstreckten. Sie wurden aus dem Privatvermögen der Kaiser gestiftet. Auch in Rom findet sich übrigens neben dieser Fürsorge des Staates für die Armen unter den Zünften eine Privatwohlthätigkeit für die Kranken, Witwen und Waisen der Zunftmitglieder.

Mit dem Christentum erhielt die Wohlthätigkeit wieder einen religiösen Charakter. Dieselbe wurde dabei lange Zeit, ähnlich der Auffassung des Islam, als Gott wohlgefälliges Werk, mithin als Selbstzweck angesehen, so daß es wenig darauf ankam, wem und wie man gab, sondern nur darauf, was man gab. Erregte doch selbst das Betteln so wenig Anstoß, daß es durch die Bettelorden eine Art religiöser Weihe erhalten konnte. Die Verwaltung der größern für die Armen bestimmten Stiftungen wurde, vielfach veranlaßt durch die Geistlichkeit, der Kirche überwiesen und so von letzterer mit der Zeit als ihr Recht in Anspruch genommen.

Die Kirche selbst ging dabei mit gutem Beispiel voran, indem sie aus ihrem reichen Einkommen oft den vierten und dritten Teil für die Armen bestimmte. Diese kirchlichen Gaben reichten sehr bald nicht mehr hin, da sie bei mangelnder Organisation der Armenpflege und bei unrichtiger Verteilung die Armut förderten, statt sie zu mindern. So kam die Kirche dahin, ihre politische Macht zu gebrauchen und zur Armenunterstützung zu zwingen, und als die natürliche Grundlage hierbei erschien ihr die christliche Gemeinde.

Tournantöle - Tours

Bild 65.934: Tournantöle - Tours
* 14 Tours.

Der Beschluß eines Konzils zu Tours [* 14] (567) führt geradezu die Verpflichtung der Gemeinde zur Erhaltung ihrer Armen ein. Aber auch die weltliche Gewalt befaßte sich schon frühzeitig mit dem Armenwesen, wie denn ein Kapitulare Karls d. Gr. von 806 gleichfalls die Verpflichtung der Gemeinde zur Erhaltung ihrer Armen enthält. Daneben war die in den Gefolgschaften vielfach vertragsmäßig vom Grundherrn (Senior) übernommene Verpflichtung, für den Homo im Notfall Kleidung, Nahrung etc. zu beschaffen, von großer Wichtigkeit, da dieselbe oft zur gesetzlichen wurde.

Nicht weniger erheblich ward die genossenschaftliche Armenunterstützung, die von Gilden und Zünften im spätern Mittelalter ausging. Dieselbe erstreckte sich zwar nur auf Gildeangehörige, hatte jedoch dadurch eine große Bedeutung, daß das Gildenwesen das ganze bürgerliche Leben des Mittelalters umfaßte. Einen Schritt weiter ging man in England. In Deutschland fand sich im Mittelalter keine Bestimmung darüber, wer überhaupt Anspruch auf Unterstützung habe. In England bestimmte wenigstens König Egbert, daß nur derjenige Unterstützung erhalten solle, welcher nicht im stande sei, mit seiner Hände Arbeit sich zu ernähren.

Schweden und Norwegen

Bild 14.700a: Schweden und Norwegen
* 15 Schweden.

Dagegen weist das angelsächsische Recht keine Spur davon auf, daß die Gemeinde zur Unterhaltung ihrer Armen verpflichtet sei. Nur in den skandinavischen Staaten, in Schweden, [* 15] Norwegen, vor allem aber in Island [* 16] (die Graugans), hat sich schon im Mittelalter ein vollständig ausgebildetes System der Armenpflege entwickelt. Wer vier Wochen ohne festen Sitz im Land umherzieht, wer einen solchen Bettler unterstützt, ist friedlos. Für die wahrhaft Armen hat zunächst der Verwandte je nach der Erbberechtigung zu sorgen. Jeder hat außerdem einen Armenzehnten zu entrichten für diejenigen Armen, welche auf diesem Weg keine Unterstützung erhalten. Die Versammlung der Freien entscheidet über die Dürftigkeit.

Die Zahl der Armen und das die öffentliche Ordnung gefährdende Bettelwesen nahmen in den nichtskandinavischen Reichen Europas mit der Zeit dergestalt überhand, daß der Staat gezwungen wurde, dem Armenwesen seine Aufmerksamkeit zu widmen. Anfangs geschah dies nur durch Bettelverordnungen und die allgemeine Bestimmung, wer und von wem die Unterstützung zu beanspruchen sei. Mit der Zeit entwickelte sich jedoch ein vollständigeres System der Armenpflege und zwar zunächst in England.

Die vielen Kriege, von welchen dieses Land heimgesucht wurde, und welche häufige Entlassungen von der Arbeit entwöhnten Söldnern zur Folge hatten, sowie die allmähliche Auflösung des Lehnswesens und der Leibeigenschaft förderten die Entstehung einer auf Bettel und Raub angewiesenen zahlreichen Menschenklasse, während es gleichzeitig an Arbeitern zur Bebauung des Landes fehlte. Infolgedessen setzte sich die englische Gesetzgebung eine doppelte Aufgabe: einmal die direkte Beseitigung der Landstreicherei durch Strafgesetze, sodann die Sorge, ländliche Arbeiter für den Ackerbau zu gewinnen. Für alle Arten

Fortsetzung Armenwesen: → Seite 1.842 || Arbeit wurden Taxen gesetzlich festgestellt, die ländliche Bevölkerung an ihre Heimat und

Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888



Argentinische Republik

Bild 17.54: Argentinische Republik - Armenwesen
* 17 Seite 17.54.

Armenwesen.



Arnay le Duc - Arnold

Bild 17.55: Arnay le Duc - Arnold
* 18 Seite 17.55.

Im J. 1881 wurde im Deutschen Reich eine statistische Erhebung über das Armenwesen veranstaltet. Da jedoch die Ergebnisse derselben als für praktische und wissenschaftliche Zwecke nicht genügend zuverlässig erschienen, so wurde 1885 eine neue Erhebung über die Wirksamkeit der öffentlichen Armenpflege im Deutschen Reich angestellt. Die Ergebnisse derselben wurden vom kaiserlichen Statistischen Amt in den vom Bundesrat vorgeschriebenen Übersichten veröffentlicht (Bd. 29 der »Statistik des Deutschen Reichs«). Die Nachweisungen betreffen die Zahl und Bevölkerung der Armenverbände, die von denselben unterstützten Personen und zwar der Selbst- und der Mitunterstützten, die Unterstützungsform der geschlossenen (Anstalts-)und der offenen (Wohnungs-) Pflege, die Ursachen der Unterstützungsbedürftigkeit, die Ausgaben zu Zwecken der öffentlichen Armenpflege, das

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Erstattungswesen in Armensachen und die Armenstreitsachen. In territorialer Hinsicht werden die Nachweise eingehend bis auf die Verwaltungseinheiten (Kreise, [* 19] Bezirksämter etc.) gebracht und überdies für jeden Kreis [* 20] etc. Städte, Landgemeinden, Gutsbezirke und gemischte Armenverbände unterschieden. Als öffentliche Armenunterstützung galt für die Erhebung eine jede seitens eines Orts- oder Armenverbandes gewährte dauernde oder vorübergehende, ein- oder mehrmalige oder außerordentliche Unterstützung.

Dagegen blieben außer Betracht die auf Grund des Krankenversicherungsgesetzes gewährten Leistungen, ausdrücklich als Vorschüsse gewährte Beihilfen, die Befreiung von öffentlichen Lasten und vom Schulgeld, die Gewährung von Suppen aus öffentlichen Suppenanstalten, Beihilfen durch die kirchliche Armenpflege sowie Unterstützungen durch Privatpersonen oder Privatvereine. Nach den Aufnahme-Ergebnissen sind im J. 1885 im Deutschen Reich 1,592,386 Personen (oder 3,40 Proz. der Bevölkerung) durch die öffentliche Armenpflege unterstützt worden, nämlich 856,571 Selbstunterstützte (Familienvorstände und Einzelnstehende) und 705,815 Mitunterstützte (mit den Familienvorständen zusammenlebende Ehefrauen und noch nicht 14 Jahre alte Kinder oder Kindeskinder derselben). Nach den Ursachen der Hilfsbedürftigkeit gruppieren sich die Unterstützten wie folgt:

Tod des Ernährers nicht durch Unfall 273.939 = 17.2 Proz.
Krank­heit des Unterstütz­ten oder in des­sen Familie 444.498 = 27.9 "
Körper­liche oder geis­tige Gebre­chen 197.092 = 12.4 "
Eigne Verle­tzung durch Unfall 32.495 = 2.1 "
Verle­tzung des Ernährers 5144 = 0.3 "
Tod des Ernährers   14.913 = 0.9 "
Altersschwäche   23?952 = 14.8 "
Große Kinder­zahl   115.146 = 7.2 "
Arbeitslosig­keit   95.468 = 6.0 "
Trunk   32.424 = 2.0 "
Arbeitsscheu   22.528 = 1.4 "
Andre bestimmt ange­ge­bene Ursa­chen   122.214 = 7.7 "
Nicht ange­ge­bene Ursa­chen   1573 = 0.1 "
Zusam­men:   1592386=100 Proz.

Krankheit des Unterstützten selbst oder in seiner Familie erscheint hiernach als die wichtigste Ursache der Hilfsbedürftigkeit. Die Ausgaben für die öffentliche Armenpflege erreichten im J. 1885 den Betrag von 92,452,517 Mk. oder von 1,97 Mk. auf den Kopf der Bevölkerung, durchschnittlich für einen Unterstützten in

Mark
Waldeck 17.9
Meck­len­burg-Strelitz. 24.6
Reuß ä. L. 30.7
Lippe 31.3
Schlesien 34.1
Lübeck 34.2
Schwarz­burg-Rudolstadt 34.7
Po­sen 35.2
Ostpreußen 35.9
Sach­sen-Co­burg-Gotha 37.7
Braun­schweig 38.2
Hohenzollern 38.7
Sach­sen-Meinin­gen 38.7
Provinz Sach­sen 41.0
Schwarzb.-Sondershau­sen 41.9
Schaum­burg-Lippe 42.1
Sach­sen-Alten­burg 43.8
Westpreus­sen 44.7
Reuß j. L. 45.9
Hes­sen 46.9
Baden 49.0
Bre­men 50.2
Anhalt 50.3
Sach­sen-Weimar 51.3
Pommern 51.6
Würt­em­berg 53.2
Westfa­len 53.9
Meck­len­burg-Schwerin 55.3
Branden­burg 59.4
König­reich Sach­sen 60.2
Ham­burg 60.4
Rhein­land 61.4
Olden­burg 62.4
Hanno­ver 6?,5
Hes­sen-Nassau 68.4
Schleswig-­Holstein 73.2
Elsaß-Lothrin­gen 53.3
Bayern 64.1

Im allgemeinen ist die Armenlast in wohlhabendern Gegenden größer als in ärmern, in den Städten größer als auf dem Land. Es war

      Ausga­ben in Mark
in den Ortsar­men­verbänden Bevölke­rung Mill. Unterstützte Proz. der Bevölke­rung im ganzen Mill. auf den Kopf
der Bevölke­rung des Unterstütz­ten
städt. Gemeinden 16.99 890.191 5.24 46.03 2.71 56.4
ländl. Gemeinden 24.72 533.120 2.16 20.49 0.83 29.8
von Gutsbezirken 1.83 54.944 3.00 3.13 1.71 57.4
gemischte Bezirke 3.31 68.954 2.08 2.32 0.70 36.7
Zusam­men: 46.86 1.547.209 3.30 71.96 1.54 49.9

Von je 100 Unterstützten wurden hilfsbedürftig durch

bei den Krank­heit Tod des Ernährers Gebre­chen Altersschwäche Arbeitslosig­keit
Städ­ten 37.3 15.1 9.9 12.4 7.6
Landgemeinden 22.2 21.2 14.2 17.3 4.7
Gutsbezirken 13.1 36.7 13.4 28.3 0.4
gemisch­ten Verbänden 17.8 22.4 14.6 20.8 2.0

Übersicht über das in 229 deutschen Städten:

Aufwand in Mark
Städte von (Ein­woh­ner) Zahl Bevölke­rung Unterstützte Prozent der Bevölke­rung im ganzen auf 100 Einw.
über 100.000 18 4.021.386 277.750 6.91 17.743.962 441
50 - 100.000 16 1.115.833 70.362 6.31 3.583.300 321
20 - 50.000 33 1.009.207 55.777 5.53 286.009 283
10 - 20.000 25 358.572 17.665 4.93 943.445 263
5 - 10.000 40 276.245 13.734 4.97 609.619 221
2 - 5000 75 252.660 10.913 4.32 458.745 182
unter 2000 22 34.593 872 2.32 55.872 162

Vgl.   »Statistik der öffentlichen Armenpflege im J. 1885« (hrsg. vom kaiserlichen Statistischen Amt, Berl. 1887);

»Schriften des Deutschen Vereins für A«. (das. 1886 ff.);

v. Böhmert, Das in 77 deutschen Städten und einigen Landarmenverbänden (Dresd. 1888);

Münsterberg, [* 21] Die deutsche Armengesetzgebung und das Material zu ihrer Reform (Leipz. 1886);

v. Reitzenstein, Die ländliche Armenpflege und ihre Reform (Freib. i. B. 1886);

Aschrott, Das englische Armenwesen (Leipz. 1888);

geschichtlich: Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigteit (Stuttg. 1882-89, 3 Bde.).

Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888

Titel
Elemente zu Armenwesen:

[1.839] Armenwesen Arm im Sinn der Gesetzgebung ist derjenige

Armenwesen.

Als arm bezeichnet man denjenigen, der nicht so viel an wirtschaftlichen Gütern besitzt, als zur Deckung des zur Lebenserhaltung notwendigsten Bedarfs erforderlich ist. Das Maß dieser notwendigsten Güter bestimmt sich entweder durch die menschliche Natur (Nahrung, Kleidung, Wohnung), oder durch außerhalb des Individuums liegende Anschauungen sozialer Art; so kann man z. B. heute die elementare Bildung zu solchen notwendigen Lebensgütern zählen. Es dürfte wohl mit jeder Gesittung oder Kultur von jeher die Neigung vorhanden gewesen sein, den Mitmenschen solche fehlende notwendigste Güter aus freiem Antrieb zukommen zu lassen.; die Anschauung von einer Pflichtmäßigkeit einer solchen Überführung der notwendigsten Lebensgüter von den sie Besitzenden zu den sie Entbehrenden oder Armen entstand aber in ausgesprochenerm Maße erst durch die christliche Religion.

Seit der Christianisierung Europas bildete die Sorge für die Armen eine wesentliche Aufgabe der Klöster und Stifte, und mit Entstehung der Städte entstand fast gleichzeitig eine auf religiösem Motiv beruhende Fürsorge für die verarmten Gemeindegenossen, welcher die zahlreichen Bürger-, Geistspitäler u. dgl. ihre Entstehung verdanken. Nach der Kirchenspaltung war es insbesondere die helvetische Konfession, welche diesen Inhalt der katholischen Religion als wesentlichen Bestandteil übernahm.

Bis heute noch lebt dieses Prinzip der religiösen Pflichtmäßigkeit der Fürsorge für die Armen, allerdings wesentlich an Intensität und Umfang geschwächt, fort. Neben dasselbe und vielfach an dessen Stelle trat, vornehmlich in der sogen. Aufklärungszeit, das humanitäre Prinzip, welches die Pflichtmäßigkeit der Sorge für die Armen in dem Gedanken der allgemeinen Menschlichkeit begründet findet. Dessen Bedeutung war verhältnismäßig ziemlich gering und seine praktische Ausführung infolge der Verschwommenheit des Begriffs eine meist unmögliche; wir sehen es heute noch vorwiegend z. B. in den freimaurerischen humanitären Vereinigungen und Anstalten und dann in den nichtkonfessionellen Vereinen zur Abhilfe gegen die Armut nachwirken. Im laufenden Jahrhundert macht sich ein neues Prinzip der Pflichtmäßigkeit der Fürsorge für die Armen geltend.

Dieses beruht einerseits aus der Erkenntnis des sozialen Zusammenhanges der Menschen in Volk, Staat, Gemeinde und der Bedingtheit der Existenz dieser Verbande durch die Individuen, deren Erhaltung somit durch die erstern zur Notwendigkeit wird, und anderseits in der Erkenntnis des Umstandes, daß die Armut in erster Linie eine Folge der gegenwärtigen wirtschaftlichen Organisation der menschlichen Gesellschaft ist und demgemäß, falls diese Einrichtung der Gesellschaft als berechtigt angesehen wird, aus derselben heraus ihre Abhilfe finden muß; dieses Prinzip läßt sich als das sozial-ökonomische bezeichnen.

Wurzel (botanisch)

Bild 16.787: Wurzel (botanisch)
* 22 Wurzel.

Allerdings wird die Wirksamkeit dieses modernen Prinzips vornehmlich von dem religiösen, dann aber auch von dem humanitären gestützt, begleitet und durchkreuzt. Die wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft sieht ihre letzte Wurzel [* 22] darin, daß jedes Individuum sich die Lebensgüter selbst zu beschaffen habe, wozu im allgemeinsten Sinne die Arbeit dient. Die Fürsorge für die Armen muß daher zunächst dahin gerichtet sein, die Individuen in stand zu setzen, entlohnte Arbeit, die Grundbedingung der Existenzmöglichkeit, in zureichendem Maße vorzufinden und erst in zweiter Linie, falls dies infolge von in der Gesellschaft oder im Individuum liegenden Gründen unmöglich ist, die Erhaltung der Individuen schlechthin vorzunehmen.

Dieser Gedanke, der sich in der heutigen bürgerlichen und in der jüdisch-konfessionellen Armenfürsorge in ausgesprochenem Maße vorfindet, hat in der christlichen Anschauung keine zureichende Ausgestaltung erfahren, und es ist dies einer der Hauptumstände, welche dieselbe auf dem Gebiet der Armenfürsorge zu Falle brachten. Im allgemeinen handelt es sich dabei um Zuführung von so viel entlohnter Arbeit, resp. Lebensgütern, daß die dringendsten Bedürfnisse befriedigt werden können. Die Gesellschaft sieht hierin eine Notwendigkeit, woraus sich für die öffentlich rechtliche Organisation derselben, den Staat und den Inbegriff seiner Organe, eine administrative Pflicht ergibt. Derselben steht jedoch ein Recht des Individuums nicht gegenüber. Damit ist unleugbar eine Lücke der öffentlichen Organisation gegeben, welche zu überbrücken erst versucht werden müßte.



Armenwesen (Geschichtl

Bild 18.67: Armenwesen (Geschichtliches)
* 23 Seite 18.67.

Man nennt nun den Inbegriff aller derjenigen von der öffentlich organisierten Gesellschaft ergriffenen Maßregeln, welche auf die Aufhebung der Armut abzielen, die Armenverwaltung; dieselbe ist ein Teil der innern Verwaltung und zwar derjenigen, welche sich auf das gesellschaftliche Leben, die Klassenbewegung, bezieht. Der Inbegriff der auf die

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Armenverwaltung gerichteten staatlichen und Selbstverwaltungsgesetze, Verordnungen und Statuten bildet das Armenrecht. Innerhalb des Gebietes der Armenverwaltung ist das Gebiet der Armenpolizei zu unterscheiden, welche in einem zweifachen besteht. Erstlich in der Vorbeugung gegen Verarmung durch gewisse Beschränkungen der persönlichen Freiheit (bezüglich Freizügigkeit, Eheschließungen, Hasardspiel, Genuß geistiger Getränke etc.) und zweitens in der Beseitigung solcher Armutserscheinungen, welche eine Gefahr oder einen Nachteil für die Gesellschaft darstellen (Bettelei, Landstreichertum etc.). Mit der Armenpolizei begann die öffentliche Armenverwaltung, und die Zeit seit Mitte des 16. Jahrh. bis tief in das 19. Jahrh. hinein ist z. B. mit sogen. Bettlerordnungen reichlich gesegnet. Es ist jedoch leicht ersichtlich, daß eine einfach vorbeugende und negativ-repressive Thätigkeit, welch letztere vornehmlich in der Polizeipraxis der Abschiebung bis heute sehr verbreitet ist, nicht zureichen konnte, und zwar dies selbst dann nicht, wenn man die außerordentlich ausgebreitete konfessionelle Fürsorge für die Armen zu jener Zeit mit in Betracht zieht.

Die Armenverwaltung mußte einen positiven Inhalt bekommen, und denselben kann man am besten als Armenpflege bezeichnen, welche nun mit der Armenpolizei das Gebiet der Armenverwaltung erschöpft. Die Armenpflege beugt nicht vor, sondern beschäftigt sich mit der vorhandenen Armut, und sie will nicht die Gesellschaft durch Beseitigung der Armutssymptome schützen, sondern sie will die Armut aus der Gesellschaft durch Beseitigung der Verarmungsursachen entfernen.

Die Armenpflege hat also im Gegensatz zur Armenpolizei einen wesentlich positiven Inhalt; ihr gegenüber ist die Armenpolizei heute weit in den Hintergrund getreten. Allerdings ist die Stellung der Armenverwaltung zur Polizei und Pflege in den verschiedenen Staaten sehr verschieden. Während die Armenpolizei wohl überall als notwendiges Element der Verwaltung angesehen wird, ist dies bezüglich der Armenpflege nicht so allgemein der Fall. Man spricht hier von einer fakultativen und einer obligatorischen Armenpflege, was ziemlich, wenn auch nicht vollkommen, zutreffend ist.

Oesterreich ob der Enn

Bild 12.481a: Oesterreich ob der Enns
* 24 Österreich.

Eine fakultative Armenpflege besitzen jene Staaten, welche keine Verpflichtung von öffentlichen Verbanden zur Versorgung etc. kennen, sondern diese von Stiftungen und ähnlichem abhängig machen (Frankreich); allerdings gilt dies nicht bezüglich aller Zweige der Armenpflege. In den Ländern der obligatorischen Armenpflege (England, Deutschland, Österreich) [* 24] besteht eine Verpflichtung öffentlicher Verbände, als Gemeinden, Genossenschaften etc., zur Fürsorge für die Armen wohl als administrative Pflicht, wenn auch eine Geltendmachung derselben seitens des Bedürfenden kaum einen Erfolg haben dürfte. Im letzten Effekt dürften beide Systeme übereinstimmen, indem eben immer nur jene Mittel aufgewendet werden, welche nicht etwa den Bedürfnissen der Armenpflege, sondern den Finanzen der Verbande entsprechen.

Wenn aber nun die Armenpflege doch schon ihre Stellung in der öffentlichen Verwaltung gefunden hat, so geht lange noch nicht alle Armenpflege von der öffentlichen Gewalt aus. Es wird vielmehr von der Gesellschaft selbst, unmittelbar, d. h. ohne Vermittelung ihrer öffentlichen Organisation, für die Armen Sorge getragen. Geschieht dies aus rein religiösen oder humanitären Motiven an sich, so spricht man von wohlthätigkeit, welcher planmäßiges Vorgehen nicht wesentlich innewohnen muß.

Gang (Geologie)

Bild 6.890: Gang (Geologie)
* 25 Gang.

Dagegen kann auch die unmittelbare Fürsorge der Gesellschaft dieselben Grundsätze befolgen wie die öffentliche, und man spricht dann von einer öffentlichen und von einer privaten Armenpflege, wodurch der letztgenannte Ausdruck doppeldeutig wird. Was nun die Subjekte der Armenpflege und zwar zunächst der öffentlichen Armenpflege anbelangt, so wird die letztere nur zum geringsten Teile und meist nur in Zwergstaaten von der Staatsgewalt im engern Sinne, vielmehr fast ausschließlich von den Organen der Selbstverwaltung, früher geradezu nur den Gemeinden, jetzt auch von größern Verbanden ausgeübt; dabei übernehmen die größern Verbande (meist Provinzen, selten Bezirke) gewöhnlich die kostspieligern Arten der Armenkranken-Versorgung u. dgl., die subsidiarische Beihilfe, Dotationen und ähnliches, während der ordentliche Gang [* 25] der Verwaltung ganz auf den Schultern der Gemeinden liegt.

Die private Armenpflege geht von religiösen Organen, von privaten Vereinigungen und endlich von Einzelpersonen aus. Die letztgenannte Form stellt sich meist als das planlose Almosen dar, welches als Ausfluß [* 26] religiöser oder humanitärer »Wohlthätigkeit« nicht selten mit der planmäßigen sozial-ökonomischen Armenpflege in direktem Gegensatz steht und die letztere sehr behindert. Von enormer Wichtigkeit ist dagegen jene Spendung von Mitteln, welche seitens der Einzelpersonen nicht direkt an den Bedürftigen, sondern an die Organe der Armenpflege erfolgt und deren Thätigkeit häufig überhaupt erst möglich macht.

Die Armenpflege der kirchlichen Organe ist heute sehr eingeschränkt, da in mehreren katholischen Staaten (z. B. Frankreich, Österreich) deren diesbezügliche Thätigkeit durch das Eingreifen der öffentlichen Gewalt fast ganz beseitigt wurde und eine solche in andern Staaten allmählich außer Übung kam oder, wie in den Gegenden augsburgischen Bekenntnisses, nie recht in Übung stand. Was die weiten Gebiete der griechisch-orthodoxen Religion anbelangt, so entbehren diese der Armenpflege überhaupt fast ganz und auch vollkommen einer kirchlichen Organisierung derselben.

Blutbewegung (chemisch

Bild 3.61: Blutbewegung (chemische Einflüsse auf die Herzarbeit; die B. in den Gefäßen)
* 27 Blüte.

Somit stellt sich als der einzig belangreiche Zweig der privaten Armenpflege die Vereinsarmenpflege heraus, welche im 19. Jahrh. zu einer großen Blüte [* 27] anwuchs, nachdem die kirchliche Vereinsthätigkeit, die Brüderschaften und ähnliches mit Ende des 18. Jahrh. ihre Bedeutung allmählich eingebüßt hatten. Die dem Zwecke der Armenpflege gewidmeten Vereine scheiden sich in konfessionelle und bürgerliche oder weltliche. Unter den konfessionellen ragen vornehmlich die katholischen Vinzenzius-Vereine hervor, welche eine großartige, in einem Einheitspunkt zusammenlaufende Organisation besitzen; ferner sind verschiedene konfessionelle Frauenvereine, die protestantischen Gustav-Adolf-Vereine und die zahlreichen jüdisch-konfessionellen Vereine zu nennen.



Armenwesen (moderne Pr

Bild 18.68: Armenwesen (moderne Prinzipien)
* 29 Seite 18.68.

Überhaupt entstanden die Vereine auf dem Boden der Armenpflege zuerst als konfessionelle, und ziemlich spät, meist erst in der zweiten Hälfte des laufenden Jahrhunderts, folgten ihnen, sie vielfach ablösend, die bürgerlichen oder nichtkonfessionellen. Die bedeutendste Rolle unter diesen letztern spielen die Vereine gegen Verarmung und Bettelei, welche nach dem Muster des Berliner [* 28] Vereins sich allmählich, vornehmlich über die deutschen und deutsch-österreichischen Länder verbreiteten. Sie stehen vollkommen auf sozial-ökonomischem Boden und operieren mit allen Mitteln der rationellen Pflegethätigkeit. Auch auf dem Boden der bürgerlichen Vereine sind, wie auf dem

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konfessionellen, die Frauenvereine stark emporgeblüht. Dabei aber hat sich dann in den bürgerlichen Vereinen eine Spaltung in diejenigen vollzogen, welche dem Armenpflegezweck schlechthin dienen, die sogen. allgemeinen, und in jene, welche nur speziellen Zweigen desselben gewidmet sind; zu diesen letztern gehören vornehmlich die Armenpflegevereine für Zwecke der Schule und Erziehung (Schul-, Kinderfreunde, Beteilungen mit Büchern, Kleidung, Schulspeiseanstalten, Krippen, Besserung verwahrloster Armenkinder etc.), dann die Weihnachtsbaum-Vereine, die Volksküchen-Vereine, die Vereine für Thee- und Suppenanstalten, ferner für Wärmestuben, die Asylvereine für Obdachlose, für Werkhäuser, die Vereine für Arbeitsvermittelung.

Eine ganz besondere Stellung nimmt der Deutsche [* 30] Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit ein, der sich mit der Ausgestaltung der Armenpflegemethoden befaßt und seine Thätigkeit in jährlichen, von Ort zu Ort wechselnden Zusammenkünften der Mitglieder sowie durch Veröffentlichung von einschlägigen Schriften, Diskussionen, Referaten, Statistiken etc. ausübt. Nun ist es begreiflich, daß ein Nebeneinandergehen von öffentlicher und privater, vornehmlich also Vereinsarmenpflege nicht ungeregelt erfolgen dürfe, soll der Zweck der Armenverwaltung auf die beste Art erreicht werden.

Die Beziehungen, welche sich aus der Erwägung dieses Umstandes ergeben, führen zunächst zu den ganz freien Vereinen, bei denen das bemerkte Moment nicht beachtet wird, und welche demgemäß ganz unabhängig, oft durchaus nicht zur Förderung des Zweckes, neben der öffentlichen Armenpflege einherschreiten; dann zu den mit öffentlichen Elementen versetzten Vereinen, bei welchen die Verknüpfung der privaten mit der öffentlichen Armenpflege als notwendig erkannt und in verschieden intensivem Maße auch durchgeführt ist. Es muß nun als einer der wesentlichsten Fortschritte in der Armenpflege bezeichnet werden, daß die Spaltung in zwei ganz unabhängige Durchführungsgebiete fallen gelassen werde. Dies kann natürlich nur so erfolgen, daß die Vereine ihren Zweck nur im Rahmen der öffentlichen Armenpflege, in steter Fühlung und Unterordnung unter die letztere, zur Durchführung bringen. In dieser Hinsicht ist allerdings noch sehr viel zu thun.

Die gegenwärtige Armenpflege wird in methodischer Beziehung von Prinzipien regiert, von welchen keines übersehen werden darf, soll der Erfolg mit den geringsten Mitteln und größtem Nutzen erreicht werden. Das erste ergibt sich schon aus dem sozial-ökonomischen Charakter des heutigen Armutsbegriffs und verlangt, daß jeder Arme zunächst in stand gesetzt werde, durch Arbeit selbst seine Existenz zu wahren; nur im Falle der Arbeitsunmöglichkeit erfolgt die Erhaltung durch die organisierte Gesellschaft.

Das zweite Prinzip steht in vollkommenem Gegensatz zu der echt individualistischen Auffassung des Almosens, welches nur einzelne Arme kennt, und besteht in der Wahrung der Familie. Jede rationelle Armenpflege muß den einzelnen, der ihr Anlaß zum Einschreiten gibt, aus dem Rahmen seiner Familie heraus beurteilen; danach ist immer das Familienhaupt (Vater, Witwe) das nächstliegende Angriffsobjekt, und daraus ergibt sich auch rein der Begriff der Waisenpflege.

Das dritte Prinzip, dasjenige der Individualisierung, verlangt, daß jeder Einzelfall einer Verarmung mit seinen Ursachen und allen Begleitumständen klargestellt werde, und daß das Eingreifen der Pflege sich genau an diese Eigenart des Falles anschließe; es ist gerade dieses mit dem kritiklosen Almosengeben gleichfalls in vollstem Widerspruch stehende Prinzip, dem die Armenpflege heute ihre größten Erfolge verdankt. Übrigens ist klar, daß mit der Notwendigkeit der Individualisierung der so enorm zahlreichen Armutsfälle nicht nur eine kolossale Anzahl von Pflegepersonen, sondern auch eine ungemeine Verfeinerung des Vorgangs bedingt ist.

Der vierte und letzte Grundsatz endlich ist jener der Konzentration, d. h. jeder Armenpflegevorgang muß mit allen übrigen im Zusammenhang stehen und alle von einem gemeinschaftlichen Punkte aus ihre Leitung empfangen. Die beiden Vorteile, welche sich aus einer konzentrierten Armenpflege ergeben, sind einerseits Geld- und Kraftersparnis und anderseits, was noch wichtiger ist, Vermeidung von vervielfachter Beteiligung und damit vollständige Verhinderung der Professionsbettelei.

Dresden

Bild 5.141a: Dresden
* 31 Dresden.

Die Forderung nach Konzentration kommt vornehmlich rücksichtlich der Scheidung in die öffentliche und private Armenpflege und innerhalb aller der an einem Orte (z. B. Großstadt) wirkenden Organe der letztern untereinander in Betracht. Sie hat ihren bisher besten Ausdruck in der auch bereits anderwärts nachgeahmten Zentralstelle des Verbandes der Wohlthätigkeitsvereine in Dresden [* 31] (gegründet 1883) gefunden, ersetzt aber natürlich nicht eine Organisation, welche etwa in der stärkern oder schwächern Verschmelzung aller Armenpflegeorgane zu einem einheitlichen Organ bestehen würde.

Gehen wir nun auf den technischen Prozeß der Armenpflege selbst ein, so begegnet uns zunächst der durchgreifende Unterschied zwischen der offenen und geschlossenen Durchführung der Armenpflege. Die letztere erfolgt in Anstalten, wie z. B. Armen-, Waisen-, Krankenhäusern, Naturalverpflegestationen u. dgl., während der Arme bei der erstern in seinem eignen Heim verbleibt. Die Vorzüge oder Nachteile jeder der beiden Arten sind bei den einzelnen Gebieten der Armenpflege verschieden und die ganze Frage nach der Zweckmäßigkeit des einen oder des andern noch nicht entschieden.

Was die Geldbeteilung und Naturalverpflegung anbelangt, so hat die erstere mit der offenen Durchführung sowie die Naturalverpflegung mit der geschlossenen engere Fühlung, obgleich damit keine Übereinstimmung der Gebiete gesagt ist. Bis heute wurde die Geldbeteilung in Gemäßheit des geldwirtschaftlichen Charakters unserer Zeit auffallend und nicht zum Vorteil der Durchführung bevorzugt; erst in der allerjüngsten Zeit beginnt die Naturalbeteilung, welche in den ersten Tagen der Armenpflege die vorwaltende war, wieder ihren wohlverdienten Platz einzunehmen.

Der Haupterfolg, der mit ihr zu erzielen ist, ist die Vermeidung von leichtfertiger Verwendung der Geldspenden, aber auch die Erzielung einer größern Billigkeit bei der Massenanschaffung oder Selbsterzeugung durch die Gemeinden. Der Gegensatz von vorübergehender und dauernder Verpflegung findet sich nahezu in allen Armenordnungen in irgend einer Weise ausgeprägt. Für gewöhnlich stehen den Pfründen u. dgl. sogen. außerordentliche Unterstützungen etc. gegenüber. In jüngster Zeit beginnt man aber (ob ganz mit Recht, ist noch zu entscheiden) an der Berechtigung einer solchen Zweiteilung zu zweifeln, indem man von dauernder Verpflegung überhaupt absehen will und jede Armenpflege als eine vorübergehende Hilfe ansieht; in ältern Systemen steht dagegen dieser Gegensatz in voller Kraft. [* 32] Die Scheidung in volle und teilweise Verpflegung kann unter Umständen von Bedeutung werden, ebenso

Fortsetzung Armenwesen: → Seite 18.69 || wenn es sich um die endgültige administrative Verpflichtung der öffentlichen Organe handelt,

Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910

Armenwesen.

Der Begriff der Armut umfaßt nur diejenigen Personen, deren wirtschaftlicher Besitz zu ihrem Lebensunterhalte nicht ausreicht. Es gehören dahin einerseits die Erwerbsunfähigen, andererseits die Erwerbsfähigen, die aus zeitlichen oder persönlichen Gründen nicht erwerben können oder wollen. Völlig verschieden davon ist das «Proletariat» (s. Proletarier). Nach den Ursachen, welche bei den einzelnen Personen die Armut hervorrufen, spricht man von unverschuldeter und verschuldeter Armut.

Viehzucht (Futterverwe

Bild 16.193: Viehzucht (Futterverwertung, Vererbung)
* 33 Viehzucht.

Unmündige, die kein Vermögen besitzen und ihren Ernährer verloren haben, Personen, die ohne ihr Zuthun durch Krankheit oder Unglücksfälle ihr Eigentum eingebüßt haben und arbeitsunfähig geworden sind, Arbeiter, denen ungünstige Verhältnisse im Lande die Erwerbsquellen verschließen, sind unverschuldet arm. Nicht überall ist die Armut gleich verbreitet. Wenig Arme giebt es z. B. bei wilden Volksstämmen in warmen Klimaten, in Ländern, die sich vorzugsweise mit Ackerbau und Viehzucht [* 33] beschäftigen, und wo die meisten Einwohner Grundbesitzer sind.

Viele Arme dagegen finden sich überall da, wo die Bevölkerung stark angewachsen ist, die Industrie fast alle Hände in Anspruch nimmt, der Wettbewerb eine große Rolle spielt, der Grundbesitz in den Händen weniger liegt u. s. w. Gerade die großen und reichen Städte beherbergen besonders auch deshalb viele Arme, weil dort am freigebigsten und oft ganz planlos Almosen gespendet werden. Stellt sich in einem Lande ein Zustand ein, in dem viele Menschen sich außer stande sehen, sich den notwendigen Lebensunterhalt zu erwerben, so nennt man diesen Zustand Massenarmut, Pauperismus (s. d.). Auf die Armut wirken die Zeitereignisse oft mächtig ein. Bedeutende Stockungen in wichtigen Erwerbszweigen, schlechte Ernten, starke Erhöhung der Preise vieler Güter, Revolutionen und Kriege können in wenigen Jahren die Armut außerordentlich steigern.

Die gesamte Thätigkeit zur Beseitigung der Armut faßt man unter der Bezeichnung Armenwesen zusammen. Zu diesem gehören alle diejenigen Maßregeln, welche das Entstehen der Armut verhindern sollen, die vorbeugenden Mittel; ferner diejenigen, welche die Armen und namentlich solche, die ihre Armut verschuldet haben, zwingen sollen, sich mit eigenen Kräften ihre Lebensbedürfnisse zu verschaffen, die Maßregeln der Armenpolizei; drittens die Unterstützung der zeitig und dauernd erwerbsunfähigen Armen, die Armenpflege, sei sie nun öffentliche oder private Armenpflege, und endlich die Beseitigung der vorhandenen Armennot durch allgemeine Einrichtungen sehr verschiedener Art, wie z. B. Arbeitsanstalten, Arbeitsvermittlungsstellen, Verpflegungsstationen, Arbeiterkolonien, Auswanderung u. s. w.

Ausdehnung (der festen

Bild 2.109: Ausdehnung (der festen und flüssigen Körper)
* 34 Ausdehnung.

Was die Mittel zur Verhütung der Armut betrifft, so gehören zu ihnen alle diejenigen, welche den Volkswohlstand zu heben geeignet sind; alle Maßregeln, die die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung der einzelnen Staatsbürger fördern, Kenntnisse und Geschicklichkeiten unter den arbeitenden Klassen, aus denen zumeist die Armen hervorgehen, verbreiten, den Zutritt zu einträglichen Beschäftigungen erleichtern, die Produktion kräftigen, die bessere Verteilung der Güter ermöglichen und auf die Ausdehnung [* 34] des Verkehrs hinwirken.

Außer diesen entferntern Mitteln zur Verhütung der Armut giebt es aber auch andere näherliegende, z. B. die Sparkassen (s. d.), das Gesamtgebiet der Arbeiterversicherung (s. d.), die Hilfs- und Darlehnskassen und -bureaus (s. d.), die Anstalten, die den Ärmern den billigen Ankauf der Lebensbedürfnisse ermöglichen u. s. w. Alle diese Mittel setzen aber freilich, wenn sie wirksam sein sollen, voraus, daß die Personen, denen sie geboten werden, den festen Willen haben, sich vor der Armut zu schützen.

Mit den Personen, die diesen Willen nicht haben, beschäftigt sich die Armenpolizei. Ihr Zweck ist, diejenigen, welche durch eigene Verschuldung arm sind und die Verschuldung fortsetzen, durch Verbote und Zwangsmaßregein zur Erwerbung des eigenen Unterhalts und des ihrer nächsten Angehörigen anzuhalten. In erster Linie hat es die Armenpolizei zu thun mit Bettlern, arbeitsscheuen Landstreichern, sittlich verwahrlosten Kindern u. s. w. In der Regel ist dabei der Armenpolizei das Recht zugesprochen, die bestraften Bettler und Landstreicher nach Abbüßung ihrer Strafe auf Monate und Jahre in Besserungsanstalten und Arbeitshäuser (s. d.) zu verweisen und sie dort zu regelmäßiger Arbeit anzuhalten und an dieselbe zu gewöhnen. Außerdem darf sie dieselben in ihre Heimatsgemeinde zurückschicken und die Entfernung ans derselben untersagen. Ebenso ist ihr die Befugnis erteilt, sittlich verwahrloste Kinder in Rettungshäusern (s. d.) unterzubringen.

Vorzugsweise beschäftigt sich mit den Armen die öffentliche Armenpflege. In der Regel liegt dieselbe in der Hand der Gemeinde, der die Armen angehören, seltener in der Hand von Vereinen und Genossenschaften, denen eine gesetzliche Verpflichtung obliegt. Fast allgemein ist die Verpflichtung des Staates und der Gemeinde zur Gewährung der Armenunterstützung anerkannt. Die öffentliche Armenpflege hat sich in der Regel nur mit den ganz oder teilweise erwerbsunfähigen Armen zu beschäftigen. Zu den erwerbsunfähigen Armen gehören in erster Linie arme Kinder, die elternlos (Waisen), oder deren Eltern für sie ausreichend zu sorgen nicht im stande sind oder diese Pflicht versäumen.

Für den Unterhalt solcher Kinder hat die öffentliche Armenpflege ganz und gar oder nur teilweise einzutreten. Das erstere ist der Fall bei den armen Waisen, mit denen sich die Waisenpflege, als Zweig der Armenpflege, beschäftigt, indem sie dieselben in eigenen Anstalten (Waisenhäusern, s. d.) unterbringt und erzieht oder geeigneten Familien als sog. Kostkinder gegen Entschädigung zur Unterhaltung und Beköstigung anvertraut. Ähnlich wird mit Findelkindern verfahren, für die in einigen Staaten (nicht in Deutschland) eigene Anstalten, die sog. Findelhäuser (s. d.), bestehen.



Armenwesen

Bild 51.906: Armenwesen
* 35 Seite 51.906.

Ebenfalls erwerbsunfähig sind auch Personen in hohem Alter und Geisteskranke, für die weder Angehörige, noch, beim Fehlen einer Versicherung, irgendwelche Versicherungsanstalten zu sorgen haben. Erstere werden in Armenhäuser, Versorgungsanstalten, Hospitäler, u. s. w. aufgenommen oder durch Geld unterstützt; letztere in Irrenhäusern untergebracht. Für die armen, hilflosen Kranken sind Krankenhäuser fast überall vorhanden; bringt man sie in Familien unter, so sorgt die Armenpflege für Wohnung, Unterhalt, Pflege, ärztliche Behandlung und Arznei. Zu den teilweise Erwerbsunfähigen dagegen gehören diejenigen Personen, welche durch Körperschwäche, Gebrechen, Kränklichkeit, herannahendes Alter u. s. w.

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nur einen Teil ihres Unterhalts zu beschaffen vermögen. Bei ihnen tritt die Armenpflege nur ergänzend ein. Ausnahmsweise werden von der Armenpflege auch arbeitsfähige Personen berücksichtigt, wenn sie aller Bemühungen ungeachtet Arbeit nicht zu finden vermögen. Der Nachweis, daß die Bemühung vergeblich gewesen sei und daß Arbeitsscheu nicht vorliege, muß indes geführt sein, und überhaupt wird diese Art Unterstützung nur dann zugelassen, wenn infolge von ungünstigen Verhältnissen im Lande die Produktion daniederliegt. Doch auch in diesem Falle wird in manchen Ländern, z. B. in England, die unmittelbare Armenunterstützung nicht gewährt, sondern der Eintritt in ein Arbeitshaus (workhouse) gefordert (s. Arbeitshäuser). Ein sehr bedeutsamer Zweig der Armenpflege ist die Armenschulpflege (s. Armenschulen).

Die Bedingungen der Armenunterstützung und die Formen der Armenpflege werden am zweckmäßigsten durch eine Armenordnung bestimmt und geregelt. Dieselbe setzt fest, wer als arm anzusehen, welche Unterstützungen den einzelnen Klassen der Armen und wie sie gewährt werden sollen, welche Behörden an der Spitze der öffentlichen Armenpflege stehen, durch welche Organe (Armenpfleger, Armenkommissionen) die Bedürftigkeit ermittelt und die Armenunterstützung verteilt werden soll, wie die nötigen Mittel zu beschaffen sind, wer verpflichtet ist, einzelnen Armen (z. B. als Anverwandter, Berufsgenosse) zu Hilfe zu kommen, u. s. w.

Elberfeld und Barmen

Bild 5.504a: Elberfeld und Barmen
* 36 Elberfeld.

Vielfache Nachahmung hat das zuerst in Elberfeld [* 36] durchgeführte System erfahren, das eine strenge Individualisierung der Armenpflege mit persönlicher Beratung und Wiederaufrichtung der einzelnen verarmten Personen anstrebt und die thätige Teilnahme der wohlhabenden Einwohner zu Gunsten ihrer notleidenden Mitbürger fordert. Elberfeld ist in verschiedene Armenbezirke und mehrere hundert Quartiere so eingeteilt, daß der einzelne Armenpfleger in der Regel nicht mehr als 4 Familien seine Thätigkeit zu widmen hat.

Dieses System bietet noch den großen Vorteil, daß die öffentliche Armenpflege sich in engste Beziehung zu der Verwaltung der privaten Wohlthätigkeitsanstalten und Vereine setzen kann. Die Kosten der öffentlichen Armenunterstützung werden entweder durch besondere Armensteuern (s. d.) aufgebracht oder von den Gemeinden oder dem Staate bestritten. Letzteres ist das Richtige. Besondere Armensteuern schwächen bei den Steuerzahlern den Trieb zur Privatwohlthätigkeit und erwecken bei den Armen den Gedanken eines persönlichen Rechtsanspruchs. Die Bezeichnung Armentare ist den Engländern entlehnt, welche die Kosten der Armenpflege vorzugsweise durch Armensteuern zu beschaffen pflegen.

Es betrugen die Kosten der öffentlichen Armenpflege in:

Jahr Eng­land im ganzen Pfd. St. Eng­land auf 1 Einw. Pfd. St. Schott­land im ganzen Pfd. St. Schott­land auf 1 Einw. Pfd. St. Ir­land im ganzen Pfd. St. auf 1 Einw. Pfd. St.
1876/80 7.653.874 0,31 881.752 0,24 1.073.655 0,20
1881/85 8.316.411 0,31 886.567 0,23 1.268.167 0,25
1886/90 8.342.928 0,30 887.661 0,23 1.382.296 0,29
1891 8.643.318 0,29 880.458 0,22 1.405.514 0,30
1892 8.847.678 0,29 912.838 0,22 1.411.701 0,30
1893 9.217.514 0,31 926.544 0,23 1.402.353 0,32

Die Zahl der Unterstützten war folgende in:

England:

Januar Erwach­sene, arbeits­fähige Arme Sons­tige Arme Arme über­haupt Auf 100 E.
1876/80 106.592 665.211 771.803 3,08
1881/85 104.661 687.040 791.701 2,96
1886/90 107.065 705.030 812.095 2,82
1891 98.794 676.111 774.905 2,60
1892 99.534 654.951 754.435 2,56
1893 107.178 669.280 776.453 2,61
(Juli) 93 949 651.606 745.555 2,50
1894 116.478 695.963 812.441 2,70

Schottland:

Mai Registrierte Arme Deren Angehörige Arme über­haupt Auf 100 E.
1876/80 62.380 34.811 97.191 2,69
1881/85 59.915 33.507 93.422 2,43
1886/90 58.344 32.937 91.281 2,31
1891 57.673 30.610 38.233 2,29
1892 Januar 56.903 30.458 87.362 2,15
1893 60.914 32.793 93.707 2,29
1394 62.087 33.237 95.324 2,31

Irland:

Januar Arme in Ar­menhäu­sern Arme in Special­anstal­ten Arme in offe­ner Pflege Arme über­haupt Auf 100 E.
1876/80 50.112 660 36.155 86.927 1,65
1881/85 52.315 745 57.683 110.743 2,20
1886/90 46.928 692 63.364 110.984 2,31
1891 42.601 1102 63.426 107.129 2,29
1892 42.018 1112 60.709 103.839 2,23
1893 42.755 1109 59.001 102.865 2,23
1894 43.685 1176 59.170 104.031 2,26

Im Deutschen Reiche weist die Armenstatistik auf Grund der Erhebungen vom J. 1885 (seitdem nicht wiederholt) folgende Zahlen auf:



Armeria - Armfelt

Bild 51.907: Armeria - Armfelt
* 37 Seite 51.907.

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Die Privatarmenpflege wird sich, wenn sie wahrhaft wohlthätig wirken soll, immer den durch die staatliche und kommunale Armenpflege gegebenen Schranken anbequemen müssen, während diese ihr Augenmerk darauf zu richten hat, den engsten Zusammenhang mit der Privatwohlthätigteit und deren ausgiebigste Ergänzung zu suchen. Die amtliche Armenpflege muß sich auf das Dringendste beschränken, während doch darüber hinaus vieles wünschenswert erscheint, was nur durch freie Mildthätigkeit, wenn auch keineswegs durch blindes Almosengeben, erreichbar ist.

Ohne organisatorische Einrichtungen wird die Privatarmenpflege fast immer so gut wie wirkungslos bleiben. Dazu drängt schon der Umstand, daß für solche Einrichtungen sich Verhältnismäßig leichter Teilnahme im Volke erwecken läßt als für Almosenspenden. Bisher sind beispielsweise durch Privatwohlthätigkeit für die Jugend Krippen oder Säuglingsbewahranstalten, Kinderhorte, Sonntags-, Nachhilfe- und Erwerbsschulen, Anstalten zur Versorgung mit Schulbüchern und Bekleidung, Taubstummen- und Blindeninstitute, für erwachsene Leute Arbeits- und Arbeitsnachweisungsanstalten, Leih- und Rentenanstalten, Wasch- und Badehäuser, Rettungsinstitute und Vorschußkassen, Suppenanstalten, Einrichtungen zur billigen Beschaffung der Lebensbedürfnisse, Baugesellschaften zur Herstellung guter Wohnungen, für ältere Leute Alters- und Invalidenheime und andere Einrichtungen begründet worden.

In der Regel wirkt die Privatwohlthätigteit durch freie Vereine für bestimmte Zwecke; seltener sind allgemeine Armenpflegevereine. Außerdem beteiligen sich an ihr Vereine und Genossenschaften, und namentlich haben in neuerer Zeit auch in Deutschland die kirchlichen Gemeinden eine eigene kirchliche Armenpflege, welche materielle Unterstützung mit sittlicher und religiöser Hebung verbindet, hervorzurufen gesucht. So dürfte in dem Zusammenarbeiten des Staates und der Gemeinde mit der Kirche und der Privatwohlthätigkeit die Zukunft der Armenpflege liegen.

Aus der umfänglichen Litteratur über Armenwesen sind hervorzuheben: de Gérando, De la bien-faisance publique (4 Bde., Par. 1839);

Aschrott, Das englische Armenwesen (Lpz. 188ss);

Vereinigte Staaten von

Bild 66.246: Vereinigte Staaten von Amerika (Finanzwesen. Geldwesen. Öffentliches Leben)
* 38 Vereinigten.

ders., und Wohlthätigkeit in den Vereinigten Staaten [* 38] von Nordamerika [* 39] (Jena [* 40] 1889);

Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege (2. Aufl., Freiburg [* 41] 1884);

Uhlhorn, Die christl. Liebesthätigkeit (Stuttg. 1882, 1884, 1890);

Böhmert, Das in 77 deutschen Städten u. s. w. (2 Bde., Dresd. 1880-88);

ders., Die Armenpflege (Gotha [* 42] 1690);

Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik (Bd. 5 des «Systems der Volkswirtschaft», 2. Aufl., Stuttg. 1894"; die Artikel Armenwesen, Armenstatistik und Armenlast im «Handwörterbuch der Staatswissenschaften», Bd. 1 (Jena 1890), wo auch ausführliche Litteraturübersicht.