Evangelien | eLexikon
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Evangelĭen
und Evangelienkritik. Die Botschaft von Jesus als dem erschienenen Heiland, ursprünglich mit dem Namen Evangelium (s. d.) bezeichnet, wurde anfangs nur mündlich überliefert. Später entstanden schriftliche Aufzeichnungen der Reden oder Aussprüche Christi, bald auch größerer oder kleinerer Erzählungsgruppen, bis etwa ein Menschenalter nach Jesu Tod die ersten zusammenhängenden Niederschriften über Leben, Leiden [* 2] und Sterben Christi in Umlauf kamen. Um die geschichtliche Erinnerung rankte sich im Laufe der Zeit die Sage; bewußt oder unbewußt symbolische Darstellungen wurden als eigentliche Geschichtserzählungen verstanden.
Nachbildungen alttestamentlicher Vorbilder, gesteigerte Vorstellungen über Christi Ursprung und messianische Macht, endlich die verschiedenen Auffassungen seines messianischen Werkes und des Verhältnisses desselben zur jüd. und zur heidn. Welt ließen auch Lehre [* 3] und Lebensbild Jesu immer wieder in neuer Beleuchtung [* 4] erscheinen. So erwuchs bis zum Anfange des 2. Jahrh. eine ganze Litteratur von Darstellungen des Evangeliums, oder wie diese Schriften später hießen, von Evangelien.
Evangelien und Evangel
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Seite 56.444.Gegen Ende des 2. Jahrh. wurden die vier Evangelien nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas und nach Johannes herausgehoben, von der Kirche ausschließlich mit kanonischem Ansehen bekleidet und auf die Männer, nach denen sie benannt waren, zurückgeführt, die übrigen dagegen als Apokryphen (s. d.) verworfen. (S. auch Petrusevangelium.) Eingehende Forschungen über Ursprung und Verwandtschaft dieser Evangelien gehören erst der neuern Zeit an. Die auffälligen wörtlichen und sachlichen Berührungen, besonders der drei ersten (sog. synoptischen) Evangelien untereinander nötigten zu einer wissenschaftlichen Untersuchung. Den ersten ¶
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bemerkenswerten Versuch machte Eichhorn in seiner «Einleitung in das Neue Testament» (2 Tle., Lpz. 1804–10), indem er alle drei von einem gemeinsamen Urevangelium ableitete, das von ihnen in verschiedenen Redaktionen vorgefunden und ausgeschrieben worden sei. Die weitere Durchführung dieser Hypothese machte aus den Evangelisten bloße Schreiber, die aus vier oder noch mehr Büchern ihren Stoff mechanisch zusammentrugen. Eine Modifikation dieser Ansicht ist die Schleiermachersche sog. Diegesenhypothese, die das Urevangelium in zahllose zerstreute Blättchen mit kleinen Stücken der evang. Geschichte auflöste, aus denen dann die Evangelisten ihre Werke zusammengestellt hätten.
Quelle
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Quelle.Den Unwahrscheinlichkeiten dieser Theorien gegenüber machte die zuerst von Gieseler aufgestellte Traditionshypothese viel Glück, welche unsere Evangelien lediglich aus mündlicher, im Laufe der Zeit sozusagen typisch gewordener Überlieferung entstehen ließ. Diese Ansicht war für Strauß, [* 6] der in seinem «Leben Jesu» (1835–36) die evang. Erzählungen von der mythenbildenden Gemeinde herleitete, eine willkommene Handhabe. Wilke stellte zuerst (1838) die Hypothese vom schöpferischen Urevangelisten auf und betrachtete als einzige Quelle [* 7] für Matthäus und Lukas den Markus, der bisher, namentlich infolge der Forschungen Griesbachs, als ein Auszug aus den beiden andern Synoptikern galt. Bruno Bauer (1841–42) führte die Wilkesche Ansicht zu der Behauptung fort, daß der Grundstamm der evang. Geschichte aus dem schöpferischen Selbstbewußtsein, d. h. aus der Phantasie eines Einzelnen, nämlich des Markus, hervorgegangen sei, dessen Schrift von dem «Zweiten» und «Dritten» Umgestaltungen und Erweiterungen erfahren habe.
Diesen Ansichten trat zuerst Ferd. Christ. Baur (s. d.) erfolgreich gegenüber, indem er, das Ungenügende des rein negativen Standpunktes von Strauß einräumend, die Umbildungen des evang. Stoffs aus den allgemeinen geistigen Gegensätzen und Tendenzen des apostolischen Zeitalters zu erklären suchte («Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien», Tüb. 1847). Hinsichtlich des Verwandtschaftsverhältnisses der drei Synoptiker hielt er die Griesbachsche Ansicht fest, wonach Matthäus der älteste, Markus der jüngste wäre, doch ließ er neben der Benutzung je eines Evangelisten durch den andern zugleich die Möglichkeit einer Überarbeitung älterer Grundschriften offen.
Bedeutsamer war, daß Baur sich das Verständnis der Kompositionsweise der einzelnen Evangelien vom Johannesevangelium aus zu eröffnen suchte. Letzteres, dessen Echtheit schon von Bretschneider bezweifelt worden war, erwies sich unter der Baurschen Kritik nicht als eine historische, sondern als eine planvoll angelegte dogmatische Schrift, in welcher das Historische nur als durchsichtige Hülle der Idee, nur als künstliche Einkleidung eines rein geistigen Gedankengehalts zu nehmen sei, wobei sich der nichtjohanneische Ursprung dieses Evangeliums von selbst ergab. Von den übrigen Evangelien erschien die Darstellung des Lukas am meisten, die des Matthäus, da Markus als farbloser Auszug nicht in Betracht kam, am wenigsten von der dogmatischen Idee beherrscht, obwohl auch Matthäus ebenso einen judenchristlichen, wie Lukas einen paulinischen Tendenzcharakter an sich trage.
Die Baurschen Untersuchungen wurden durch zahlreiche Arbeiten des Meisters und seiner Schüler ^[] weiter geführt und teilweise berichtigt. Der wesentliche Anteil der dogmatischen Tendenzen und Parteirichtungen der Zeit an der Entstehung und Gestaltung sämtlicher Evangelien kann seitdem als ausgemacht gelten. Derselbe erstreckt sich nicht bloß auf Auswahl und Anordnung, sondern auch auf die Färbung, ja teilweise auch auf die Entstehung des Stoffs, sowohl in Redestücken als in histor.
Partien. Jedoch blieb die Tendenzkritik, solange als sie nicht durch die litterarhistorische Kritik, d. h. durch eindringende Erforschung des äußern schriftstellerischen und stilistischen Verwandtschaftsverhältnisses der Evangelien ergänzt wurde, manchen Täuschungen und Übertreibungen ausgesetzt. Die von Baur ebenso wie von Strauß, De Wette, Bleek, Keim u. a. festgehaltene Griesbachsche Ansicht stieß bald auf erhebliche Bedenken. Schon Chr. H. Weiße hatte in seiner «Evang. Geschichte» (Lpz. 1838) behauptet, daß das Matthäusevangelium aus zwei Hauptquellen geschöpft sei: aus der «Redensammlung» des Apostels Matthäus, deren Vorhandensein der Kirchenvater Papias bezeuge, und aus dem Markusevangelium, das den ursprünglichen histor. Rahmen für Matthäus und Lukas darbiete. Diese von Weiße noch ausführlicher begründete Ansicht («Evangelienfrage», Lpz. 1856) wurde als Schutzwehr gegen die Übergriffe der Tendenzkritik von allen Seiten mit Eifer aufgegriffen.
Reuß (Fürstentümer) [u
![Bild 63.803: Reuß (Fürstentümer) [unkorrigiert] Bild 63.803: Reuß (Fürstentümer) [unkorrigiert]](http://peter-hug.ch/meyers/thumb/63/63_0803.jpeg)
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Reuß.Namentlich suchte Ewald in einer ganzen Reihe von Arbeiten die «Spruchsammlung» und das Markusevangelium in ihrer ursprünglichen Gestalt festzustellen und gleichzeitig die übrigen nachweisbaren Quellen der Synoptiker litterarhistorisch zu bestimmen. Die Willkür und Unwissenschaftlichkeit seiner Beweisführung konnte jedoch die Grundannahme von zwei Hauptstämmen der Evangelienbildung nicht verdrängen. Neben konservativen Theologen, wie G. A. W. Meyer, B. Weiß, folgten auch freier gesinnte Forscher, wie Tobler, Freytag, Reuß, [* 8] Wittichen u. a., dieser Richtung, und Köstlin («Ursprung und Komposition der synoptischen Evangelien», Stuttg. 1853) versuchte eine Art Vermittelung zwischen Baur und Ewald. Am gründlichsten ist die Hypothese ausgeführt in der Schrift von Holtzmann: «Die synoptischen Evangelien» (Lpz. 1863),
auf deren Ergebnissen auch Schenkels «Charakterbild Jesu» (Wiesb. 1864) beruht. Mit mehr oder minder erheblichen Modifikationen haben auch Weizsäcker («Untersuchungen über die evang. Geschichte», Gotha [* 9] 1864) und B. Weiß («Das Markusevangelium», Berl. 1872; «Das Matthäusevangelium», Halle [* 10] 1876; «Das Leben Jesu», 2 Bde., Berl. 1881; 3. Aufl. 1888) dieselbe kritische Grundanschauung zu begründen versucht, wogegen Hilgenfeld («Die Evangelien», Lpz. 1854),
Evangelienharmonie - E
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Seite 56.445.Keim («Geschichte Jesu von Nazara», 3 Bde., Zür. 1867–72) und Holsten («Die synoptischen Evangelien nach der Form ihres Inhalts», Heidelb. 1886) die Baursche Ansicht, daß Matthäus der älteste Evangelist sei, festhielten, in diesem Evangelium selbst aber eine judenchristl. Grundschrift und eine universalistische Überarbeitung unterschieden, wobei ersterer nicht den Markus, sondern den Lukas als jüngsten Evangelisten betrachtete. Volkmar («Die Evangelien», Lpz. 1870; «Jesus Nazarenus», Zür. 1882) erneuerte die Ansicht Bruno Bauers mit der Modifikation, daß er das «Urevangelium» des Markus als ein vom paulinischen Standpunkte verfaßtes Lehrgedicht, alle übrigen Evangelien aber als tendenziöse Umbildungen desselben betrachtete. ¶
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Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß bald Matthäus, bald Markus das Ursprüngliche bietet, daher die Vertreter der Markushypothese bald einen Urmarkus angenommen haben, bald unsern Markus vom Urmatthäus und unsern Matthäus wieder von beiden abhängig sein ließen. Der Urmatthäus wurde gewöhnlich als bloße Spruch- oder Redensammlung vorgestellt, aus der neben unserm Matthäus auch Lukas geschöpft habe, wobei dann wieder Streit entstand, welcher von beiden die Quelle am treuesten benutze.
Daneben blieb streitig, ob diese zweite Quelle auch Erzählungsstücke enthalten habe. Wahrscheinlich gab es von ihr eine doppelte Redaktion: eine ältere, wesentlich Redestücke enthaltend, die unserm Matthäus, eine jüngere, im streng ebionitischen Geiste (s. Ebioniten) gehaltene und zu einem vollständigen Evangelium erweiterte, die dem Lukas vorlag und wahrscheinlich auch die älteste Form des Hebräerevangeliums bildete. Neben dieser Redequelle wurde mit immer größerer Wahrscheinlichkeit eine Erzählungsquelle angenommen, die jedoch nicht als eine ältere Redaktion des kanonischen Markus (Urmarkus), sondern als eine nur ihrem histor.
Rahmen nach und in der Leidensgeschichte im Markus, sonst aber vielfach im Matthäus treuer erhalten ist. Letzterer ist hiernach aus dieser Erzählungsquelle und der ältesten Redaktion der Redequelle hervorgegangen, während unser Markus aus einer Bearbeitung der Erzählungsquelle entstanden ist, Lukas aber, sei es eben diese letztere, sei es unsern kanonischen Markus mit der ebionitischen Quelle und schriftlichen oder mündlichen Überlieferungen aus paulinischen Kreisen kombinierte. (Vgl. P. Feine, Zur synoptischen Frage, in den «Jahrbüchern für prot. Theologie», 1886–88.) Die beiden Hauptquellen stammen noch aus der Zeit vor Zerstörung Jerusalems.
Lukas scheint unter allen Synoptikern der jüngste zu sein, obwohl auch das Matthäusevangelium seine gegenwärtige Redaktion erst im 2. Jahrh. erhalten haben mag. Unmittelbar apostolisch ist jedenfalls kein einziges unserer Evangelien. Der ursprüngliche histor. Rahmen der evang. Erzählung ist relativ am treuesten bei Markus bewahrt, wogegen die Sprüche Jesu und eine Reihe einzelner Erzählungen meist bei Matthäus in ursprünglichster Gestalt aufbehalten sind. Doch fehlt es auch hier nicht an Ausnahmen. Am wenigsten unter allen tragen die Reden und Erzählungen des vierten Evangeliums einen geschichtlichen Charakter, wie denn die Unmöglichkeit, daß Johannes der Verfasser dieses Evangeliums sei, von Baur, Hilgenfeld, Köstlin, Scholten, Keim, Thoma gründlich erwiesen ist.