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Gezeiten | eLexikon

  • ️Peter Hug, Sollrütistr. 24, CH-3098 Schliern b. Köniz

Ebbe

und Flut (Gezeiten, lat. Aestus maris, Fluxus et refluxus maris, franz. marées, engl. tides), diejenige Bewegung des Steigens und Fallens der Wasserfläche, welche von kosmischen Einflüssen und zwar von der Anziehung des Mondes und der Sonne [* 6] herrührt. Die Anziehung des Gestirns wirkt in einem demselben zugewendeten Punkte der Erdoberfläche stärker, in einem diametral entgegengesetzten Punkte derselben geringer als im Erdmittelpunkt. In beiden Fällen aber ist die Differenz der Anziehungen auf Mittelpunkt und Oberfläche entgegen der irdischen Schwerkraft gerichtet, vermindert also dieselbe an diesen beiden Punkten.

Der Mond

Bild 11.739a: Der Mond
* 7 Mond.

Unter der Annahme eines ganz von Wasser überdeckten Erdballes findet also dem Gestirn zu- und abgewendet je eine Erhebung der Wasserfläche statt, welche infolge der 24stündigen Rotation der Erde diese umkreist und an einem Punkt an jedem Tag zweimal eine Erhebung und zweimal eine Senkung des Wasserspiegels beobachten läßt. Die von der Sonne und vom Mond [* 7] gemeinsam herrührende Gezeitenwelle tritt stärker oder schwächer auf, je nachdem beide Gestirne in gemeinsamer oder differierender Richtung wirksam sind.

Ersteres ist der Fall zur Zeit des Voll- und Neumondes, und die dann erregten höchsten Fluten sind die Springfluten, letzteres zur Zeit des ersten und letzten Viertels, wo dann die niedrigsten sogen. Nippfluten auftreten. Dieser in jedem Monat sich zweimal vollziehende Wechsel in der Höhe (und, wie leicht ersichtlich, auch in der Zeit) des Flutwechsels wird als die halbmonatliche Ungleichheit bezeichnet. Wenn Sonne und Mond nicht im Äquator stehen, so befinden sich die diametral gegenüberliegenden Punkte größter Erhebung zu verschiedenen Seiten des Äquators.

Die Erdrotation hat daher für einen und denselben Punkt eines Breitenparallels zur Folge, daß zwei Hochwasser von ungleicher Höhe im Lauf eines Tags beobachtet werden. Diese Erscheinung bezeichnet man als die tägliche Ungleichheit. Dieselbe kann bis zum Erlöschen des einen Hochwassers anwachsen, so daß dann Eintagsfluten entstehen. Die halbmonatliche Ungleichheit ist also abhängig von den Mondphasen, die tägliche Ungleichheit von der Deklination des Mondes und der Sonne. Das theoretische Verhältnis zwischen Mond- und Sonnenflut ergibt sich aus folgender Betrachtung:

Kraft [unkorrigiert]

Bild 60.671: Kraft [unkorrigiert]
* 8 Kraft.

Die Anziehungskraft eines Gestirns ist proportional seiner Masse M, dividiert durch das Quadrat der Entfernung R, also M/R². Ist dieser Ausdruck gültig für den Mittelpunkt der Erde, so gilt für die beiden dem Gestirn zu-, bez. abgewendeten Punkte der Erdoberfläche, wenn ρ den Erdradius bezeichnet: (M/(R±ρ))². Wenn man diesen Ausdruck auflöst und ρ² gegen R² vernachlässigt, erhält man (M/R²)±(2Mρ/R²). Es ist also die fluterzeugende Kraft [* 8] eines Gestirns 2Mρ/R², und die eines zweiten von der Masse m und der Entfernung r ist 2mρ/r², also das Verhältnis beider zu einander Mr³/(R³m). Da die Sonnenmasse 324,479, die Mondmasse 1/81 Erdmassen beträgt, ferner die Sonne 387mal so weit von der Erde entfernt ist wie der Mond, so erhält man das Verhältnis der fluterregenden Kraft der Sonne zu der des Mondes gleich 324479·81/387³ = 1:2,2.

Der Theorie nach muß also das Verhältnis von Springflut zur Nippflut sein (1+2,2):(2,2-1) oder 3,2:1,2, und umgekehrt muß sich aus Beobachtung der Spring- und Nippflut das Verhältnis der Mond- zur Sonnenflut finden lassen (halbe Summe, dividiert durch halbe Differenz der beobachteten Spring- und Nippfluten). Diese Untersuchung ist ein Prüfstein geworden für die in der Natur vorkommenden Gezeitenerscheinungen in Bezug auf ihre durch örtliche Verhältnisse (namentlich durch Reibung [* 9] auf flachem Wasser) bedingten Anomalien.

Man kann von vornherein nicht erwarten, daß die Gezeiten an den Küsten so zur Beobachtung gelangen, wie sie in einem ununterbrochenen Weltmeer gebildet werden würden. In der That findet sich in der Natur eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, deren Zusammenhang erst zum kleinsten Teil erforscht ist. Eintrittszeit und Höhe von u. F. sind aber für den Verkehr an den Küsten und in den Seehäfen von hervorragender Wichtigkeit; man hat sich daher von jeher bemüht, einfache Beziehungen aufzusuchen, mit Hilfe deren eine Vorausberechnung dieser beiden Elemente für die einzelnen Orte zu bewerkstelligen ist.

Europa. Fluß- und Gebi

Bild 5.919a: Europa. Fluß- und Gebirgssysteme
* 10 Europa.

Der Umstand, daß an den Küsten des Atlantischen Ozeans und besonders in Europa [* 10] der Zusammenhang mit den Mondphasen weitaus in den Vordergrund tritt und ziemlich gleichartig verläuft, hat ein sehr einfaches Verfahren angenäherter Vorausberechnung auffinden lassen. Das Zeitintervall zwischen der Kulmination des Mondes am Tag von Neu- und Vollmond und dem darauf folgenden Hochwasser nennt man die Hafenzeit des Ortes, dieselbe ist also als identisch zu betrachten mit der Eintrittszeit des Hochwassers am Nachmittag jener beiden Tage. Um dann für einen andern Tag die Hochwasserzeit zu finden, fügt man der Kulminationszeit des Mondes die Hafenzeit hinzu und verbessert diese Summe für die halbmonatliche Ungleichheit der Zeit. Der Betrag dieser Korrektion ist aus einer kleinen Tabelle wie die folgende zu entnehmen, welche aus einer großen Zahl von Beobachtungen an verschiedenen Orten berechnet ist:

Kulmina­tions­zeit d. Mondes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Uhr
Halbmonat­liche Ungleich­heit -13 -28 -43 -55 -63 -63 -44 -15 +9 +16 +11 Min.

Wegen der Unsicherheit, welche dieser (in Wirklichkeit für jeden Ort verschiedenen) Korrektion anhaftet, hat man statt der gewöhnlichen Hafenzeit die verbesserte Hafenzeit vielfach in Gebrauch genommen, d. h. das mittlere Mondflutinterwall ^[richtig: Mondflutintervall] des ganzen Monats. Diese letztere Zahl ist namentlich als Vergleichsgröße geeignet, erfordert aber zu ihrer Feststellung eine längere Beobachtungsdauer.



Ebbe und Flut

Bild 5.273: Ebbe und Flut
* 11 Seite 5.273.

Für die Vorausbestimmung der Höhe muß der Flutwechsel, d. h. der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser für Spring- und Nippflut, bekannt sein oder wenigstens der mittlere Flutwechsel; dieses Element ist indessen noch weniger zuverlässig als das der Zeit. Die für die Küsten aller Meere

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zusammengestellten Tafeln der Hafenzeiten und Flutwechsel ergeben außerordentliche Verschiedenheiten der Gezeitenverhältnisse der einzelnen Küstenpunkte. Die Konfiguration der Küsten und die Tiefenverhältnisse üben einen so komplizierten Einfluß auf diese Verhältnisse aus, daß eine Zusammenstellung nicht viel zur Erkenntnis der Erscheinung beizutragen vermag. Die Weltkarten mit Linien gleicher Hochwasserzeit (Isorachien, cotidal lines) geben kein richtiges Bild und lassen keinen Schluß zu über ein Fortschreiten der Flutwelle im offenen Ozean.

Für den Verlauf der auf flachem Wasser angelangten Welle im Bereich einzelner Küstenabschnitte gewinnt man dagegen aus den Hafenzeiten und Fluthöhen interessante Aufschlüsse. So läßt sich an den europäischen Küsten verfolgen, wie die Flutwelle in den Englischen Kanal [* 12] eindringt und durch die Straße von Dover [* 13] bis zur holländischen Küste fortschreitet, während im Norden [* 14] eine Welle in die Nordsee eintritt, welche regelmäßig an der Ostküste von Schottland und England nach Süden fortschreitet und bis vor die Themse gelangt. Wahrscheinlich gibt diese nördliche Welle allein den Impuls für die Gezeitenerscheinungen der deutschen Küsten. Für die vorliegenden Inseln ergeben sich hier folgende Hafenzeiten und mittlere Fluthöhen:

Hafen­zeit Flut­wechsel
Borkum 10 Uhr 26 Min. 2.5 Meter
Juist 10 Uhr 36 Min. 2.3 Meter
Norderney 10 Uhr 53 Min. 2.4 Meter
Baltrum 11 Uhr 12 Min. 2.4 Meter
Langeroog 11 Uhr 17 Min. 2.4 Meter
Spikeroog ^[richtig: Spiekeroog] 11 Uhr 14 Min. 2.6 Meter
Wangeroog 11 Uhr 19 Min. 2.5 Meter
Helgo­land 11 Uhr 30 Min. 2.1 Meter

Die folgenden Daten für einige deutsche Häfen lassen erkennen, wie das Eintreten des Hochwassers in flachem Wasser verzögert wird, während der Flutwechsel bei Kontraktion der Ufer in der Regel zuerst zunimmt, weiterhin aber in den Flüssen schnell kleiner wird:

Hafen­zeit Flut­wechsel
Emden 0 Uhr 17 Min. 2.8 Meter
Leer 1 Uhr 35 Min. 2.0 Meter
Wilhelmshaven 0 Uhr 50 Min. 3.5 Meter
Bremerhaven 1 Uhr 4 Min. 3.3 Meter
Brake 2 Uhr 50 Min. 3.0 Meter
Tönnin­gen 1 Uhr 27 Min. 2.6 Meter
Elbe:  
Kuxhaven 0 Uhr 49 Min. 2.8 Meter
Brunsbüttel 1 Uhr 53 Min. 2.7 Meter
Glückstadt 2 Uhr 52 Min. 2.9 Meter
Brunshau­sen 3 Uhr 51 Min. 2.8 Meter
Ham­burg 5 Uhr 10 Min. 1.9 Meter

Docke - Dock warrant [

Bild 55.382: Docke - Dock warrant [unkorrigiert]
* 15 Dock.

Die höchsten Fluten an der europäischen Küste beobachtet man im Bristolschen Kanal. In Bristol selbst (Cumberland Dock) [* 15] beträgt der Flutwechsel 9,6 m, bei Portishead sogar 12,2 m. Nicht minder bemerkenswert ist der Flutwechsel im Golf von St.-Malo (Flutwechsel bei Springzeit St.-Malo 10,7, Cancale 11,3 m). Die höchsten Fluten sind in der Fundybai (Neuschottland) beobachtet zu 15,4 m (in der Noëlbai), und an der Ostküste von Patagonien kaum minder hohe (Puerto Gallegos 14,0, Santa Cruz-Fluß 12,2, Eingang der Magelhaensstraße bis 13,4 m). Auch außerhalb des Atlantischen Ozeans werden beträchtliche Fluthöhen angetroffen, so im Golf von Cambay (Vorderindien) bis 9,1 m, an der Nordwestküste von Australien [* 16] in der Hannoverbai bis 11,6 m, auch für die Küste von Korea im Saleefluß wird der Flutwechsel zu 11,3 m angegeben. Dem gegenüber finden sich an den frei liegenden Inseln inmitten des Ozeans überall nur geringe Fluthöhen, welche nur sehr vereinzelt 2 m erreichen oder um ein Geringes übersteigen.

Die Gezeiten ganz oder teilweise abgeschlossener Wasserbecken bietenden Beleg dafür, daß der Ursprung der u. F. nicht aus dem Südozean hergeleitet werden muß, wie man früher für erforderlich hielt, sondern daß sich dieselben auch ganz lokal selbständig entwickeln können. Die u. F. im Michigansee sind in dieser Beziehung beachtenswert. Bei Chicago beträgt der Flutwechsel bei Springflut 73 mm, bei Nippflut 37 mm, bei Milwaukee 27 und 10 mm. Das Verhältnis der Sonnenflut zur Mondflut findet sich gleich 1:2,19 für Milwaukee. Die Hafenzeit beträgt ½-1 Uhr. [* 17]

Kiel (Stadt)

Bild 9.716: Kiel (Stadt)
* 18 Kiel.

In der Ostsee sind die Gezeiten bisher nur aus sehr lückenhaftem Material nachgewiesen. Erst in neuester Zeit ist der Anfang gemacht, mit Hilfe selbstregistrierender Pegel genauere Daten zu gewinnen. Von Kiel [* 18] bis Memel [* 19] ist aber das Vorhandensein wirklicher u. F. hinlänglich nachgewiesen. Hagen [* 20] fand die Springflutgröße von Rügen bis Memel von 7-1 cm abnehmend und die Hafenzeiten von Westen nach Osten sich verspätend. Die halbmonatliche Ungleichheit fand Hagen größer als im Atlantischen Ozean. Die zuverlässigsten Werte sind nach neuern Angaben:

Hafen­zeit Flut­wechsel
Marienleuchte auf Fehmarn 5 Uhr 45 Min. 60 Millim.
Arkona auf Rü­gen 8 Uhr 35 Min. 20 Millim.
Swinemünde 11 Uhr 30 Min. 18 Millim.

Wie weit in der Ostsee eine selbständige u. F. vorhanden ist, läßt sich noch nicht mit Sicherheit angeben; im westlichen Teil ist die durch die Belte zu verfolgende Flutwelle jedenfalls von überwiegendem Einfluß.

Auch im Mittelländischen Meer sind u. F. vorhanden und betrugen an einzelnen Orten über 1 m. Im Adriatischen Meer steigt die Flutgröße von 6 cm bei Korfu [* 21] bis 6 Dezimeter bei Triest [* 22] an und verspätet sich auf dieser Strecke über 5 Stunden.



Ebbe und Flut

Bild 5.274: Ebbe und Flut
* 24 Seite 5.274.

Eine besonders merkwürdige Gezeitenerscheinung ist die der brandenden Flutwelle, welche am bekanntesten ist unter der englischen Bezeichnung bore oder der französischen mascaret, Bezeichnungen, welche speziell von den Anwohnern des Hugli, bez. der Gironde für die in diesen Flüssen auftretenden Erscheinungen dieser Art herrühren. Im Bristolschen Kanal, in der Seinemündung, in der Mündung des Amazonenstroms und in vielen andern Flußmündungen beobachtet man Ähnliches, sobald die Flutwelle ein starkes Gefälle zu überwinden hat und sehr schnell auf flaches Wasser gelangt, wo die Tiefe ihrer Geschwindigkeit nicht mehr entspricht. So beschreibt LentzFlut und Ebbe und die Wirkungen des Windes auf den Meeresspiegel«, Hamb. 1879) die Flutwelle im Bristolschen Kanal: »Die Springflutgröße bei Lundy Island [* 23] beträgt 27 engl. Fuß und nimmt bis Kingsroad an der Mündung des Avon unausgesetzt zu, indem der Scheitel der Flutwelle sich hebt, ihr Fußpunkt sich senkt. Zugleich mit der Größe wächst die Geschwindigkeit der Welle und steigert sich von 36 bis auf 49 Seemeilen in der Stunde. Bei Severn Lodge stößt die Welle auf die English Stones und findet auch weiter aufwärts nur einen seichten Fluß mit starkem Gefälle. Der Wellenscheitel fährt fort, sich zu heben, der Fußpunkt kann sich nicht mehr senken, sondern liegt bei Sharpneß schon etwa 14, bei Newnham etwa 28 Fuß höher als bei Kingsroad. Die Flutgröße hat bis Sharpneß auf 29, bis Newnham auf 16 Fuß, die Geschwindigkeit der Welle erst auf 21 und bei Newnham auf 9 Seemeilen abgenommen.

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Diesen gewaltigen Änderungen vermag sich die Flutwelle nicht zu unterziehen, ohne gleichsam Beschädigungen davonzutragen. Auf dem steinichten Flußbett findet sie nicht das zur Bildung ihres Fußes erforderliche Wasser, der nachdrängende Teil der Welle überholt den verkümmerten Fuß, und statt mit einer sanft geneigten Ebene beginnt die Welle mit einer schäumenden Wassermasse von 2-4 Fuß Höhe, welche auf der Strecke von Sharpneß bis Newnham und weiter tosend flußaufwärts eilt. Schon aus weiter Ferne hört man das Brausen des ankommenden Bore, es steigert sich von Sekunde zu Sekunde bis zum Geräusch eines mächtigen Wasserfalles; endlich sieht man eine weiße, quer über den ganzen Fluß reichende Masse sich nähern, und nach wenigen Augenblicken ist der bis dahin regungslose Wasserspiegel in eine wild bewegte See verwandelt. Von nun an steigt das Wasser mit großer Schnelligkeit, nach wenigen Minuten verhallt das Lärmen des aufwärts rückenden Bore in großer Ferne, und die weitere Entwickelung der Flut nimmt ihren regelmäßigen Verlauf.« Einen regen Aufschwung hat die Untersuchung der u. F. in neuester Zeit genommen durch die Bearbeitung der mittels selbstregistrierender Pegel (Mareographen) erhaltenen Wasserstandskurven nach einer von Sir William Thomson angegebenen Methode, der sogen. harmonischen Analyse.

London

Bild 10.896a: London
* 25 London.

Die so aufgezeichneten Wasserstandsschwankungen lassen sich nämlich ansehen als entstanden durch Superposition von Oszillationen verschiedener Amplitude und Dauer, die alle das Gesetz der Pendelschwingungen befolgen. Jede Oszillation entspricht einem Element der Mond- oder Sonnenbahn; die zugehörige Dauer ist also Voraussetzung der Theorie, während die Amplitude aus den Beobachtungen ermittelt werden muß. Wenn man nun aus einer längern Beobachtungsreihe für die wichtigsten Bahnelemente von Sonne und Mond die Konstanten empirisch festgestellt hat, so kann man aus diesen Konstanten für eine andre Zeit die zu erwartenden Wasserstandskurven im voraus konstruieren. Für eine große Anzahl von Orten ist diese Operation ausgeführt zum Teil mit Hilfe eines sinnreichen Mechanismus, des Tidepredicter, welcher in der Nautical Almanach Office zu London [* 25] aufgestellt ist.

Diese Berechnungen sind für die Physiker von besonderm Interesse geworden wegen der Schlüsse, welche man aus den Gezeitenerscheinungen auf die Konstitution des Erdinnern zu ziehen versucht hat. Sir W. Thomson hat gezeigt, daß eine elastische Kugel von der Größe der Erde, selbst wenn sie so hart wie Stahl oder Glas [* 26] wäre, immer noch durch die Gezeiten erregenden Kräfte periodische Deformationen erleiden muß. Besteht nun die Erde im Innern aus einer homogen-elastischen Masse, so beobachten wir bei der u. F. des Ozeans nur die Differenz zwischen der Deformation des Erdkörpers und der flüssigen Hülle.

Auf einem vollkommen starren Erdkern dagegen müssen die Wassergezeiten in ihrem Verlauf in viel vollkommenerm Maß die Bewegung des Mondes und der Sonne widerspiegeln. Wegen der unregelmäßigen Gestalt der Meeresbecken sind nun die Oszillationen kurzer Periode von Reflexionserscheinungen zu stark beeinflußt, um für diese Untersuchungen Verwendung zu finden. Man hat daher mit Hilfe der harmonischen Analyse nach den Oszillationen langer Periode geforscht (z. B. nach den von der wechselnden Entfernung der Gestirne abhängigen, also halbmonatlichen und halbjährlichen). Es scheint aber bisher nicht gelungen zu sein, solche irgendwo sicher nachzuweisen. Daraus ist der Schluß gezogen worden, daß die Erdoberfläche sich selbst mit dem darauf befindlichen Meer auf und ab bewegt und zwar in solchem Maß, daß man das Erdinnere nicht als starr anzunehmen berechtigt ist. Jedoch mag es sein, daß die bisher zu Grunde gelegten Beobachtungsorte nicht genügend reine Gezeitenerscheinungen zur Anschauung gebracht haben.

Der Reaktion der u. F. schreibt man auch die Verzögerung der Umdrehungsgeschwindigkeit, also das langsame Wachsen der Tageslänge zu, welche aus Vergleichung astronomischer Beobachtungen neuester Zeit mit ältern konstatiert ist. Die Flutwelle bleibt mit ihrem Scheitel hinter dem Meridian des fluterregenden Gestirns zurück wegen der Reibung. Auf dieser Seite des Meridians ist also mehr Masse vorhanden, und indem der störende Körper dort infolgedessen kräftiger wirkt, übt er einen verzögernden Einfluß auf die Erdrotation aus.

Ist die Deformation des Erdkörpers sehr bedeutend, so wird auch die Veränderung verhältnismäßig rasch verlaufen, und in größerm Maß, als der Mond auf die Erde, wird die Erde auf den Mond wirken. Unter Annahme sehr günstiger Voraussetzungen über die Konstitution des Erdinnern ist berechnet worden, daß vor 56 Mill. Jahren der Tag nur 6 Stunden 50 Minuten lang gewesen sein, die Umlaufszeit des Mondes nur 1 Tag 14 Stunden betragen haben könne. Die Aufmerksamkeit der alten Völker ward durch das Phänomen der u. F., da es im Mittelmeer, auf welches sich ihre Schiffahrt lange Zeit beschränkte, nicht in auffallender Mächtigkeit aufzutreten pflegt, weit weniger angezogen als die der neuern.

Sizilien

Bild 14.1002a: Sizilien
* 27 Sizilien.

Herodot und Diodor von Sizilien [* 27] erwähnen indes schon die im Roten Meer stattfindende »große und heftige Flut«. Strabon erklärt sich das regelmäßige Steigen und Sinken der Charybdis durch die Erscheinung der u. F., und nach Plutarch leitete Pytheas von Massilia die Flut vom Mond ab, wie auch Aristoteles ihre Abhängigkeit von der Stellung des Mondes vermutete. Als die Römer [* 28] ihre Eroberungen bis an den Atlantischen Ozean und den Kanal ausdehnten, wo u. F. in imposanter Weise auftreten, wurden sie sowohl auf die Erscheinung selbst als auf ihre Ursache aufmerksamer.

Cäsar spricht in seinen Kommentarien vom Gallischen Krieg davon und bemerkt schon, daß zur Zeit des Vollmondes die Flut besonders stark sei, und Plinius gibt nicht bloß die Beschreibung des Phänomens, sondern leitet dasselbe mit Bestimmtheit von der Anziehung der Sonne und des Mondes ab. Die Neuern versuchten zuerst durch künstliche Hypothesen die Natur des Vorganges aufzuklären. Galilei leitet die Erscheinung aus der doppelten Bewegung der Erde her; Descartes wandte sein Wirbelsystem auch auf dieses Phänomen an, und John Wallis glaubte den Grund von u. F. in der Bewegung des gemeinschaftlichen Schwerpunktes von Erde und Mond zu finden.

Kepler hebt wieder die Anziehung des Mondes als Ursache der periodischen Meeresfluktuation hervor, doch ohne dieser Erklärung viel Gewicht beizulegen. Newton brachte die Lehre [* 29] von u. F. in innigste Verbindung mit den Gravitationsgesetzen und legte dadurch die wissenschaftliche Basis für die Erklärung dieses Phänomens, auf welcher alle Neuern fortgebaut haben. Zunächst gab Halley eine durch mehrere Beobachtungen bereicherte neue Entwickelung jener Theorie; später beschäftigten sich Daniel Bernoulli, Leonh. Euler und Mac Laurin mit diesem Problem. Besonders aber hat sich Laplace um die Ausbildung der Theorie der u. F. verdient gemacht. In unserm Jahrhundert haben

Fortsetzung Ebbe: → Seite 5.275 || über die Erscheinungen von E. u. F. Whewell, Lubbock, Airy, Germar u. a. eingehende Untersuchungen