Precious - das Leben ist kostbar | Kritik
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- ️Tue Mar 02 2010
Lee Daniels Sozialdrama über ein schwarzes Mädchen in Harlem ist erschütternd und unerträglich schonungslos – es verlangt dem Zuschauer vieles ab und belohnt mit menschlicher Wärme und Würde.
Bereits die Romanvorlage der afroamerikanischen Autorin Sapphire mutet dem Leser viel zu. Das Schicksal, welches sie die Titelheldin ihres 1996 erstmals erschienenen Erfolgsromans Push durchleiden lässt, mutet wie das Substrat klischeebehafteten Ghetto-Elends jenseits der Erträglichkeitsgrenze an. Regisseur Lee Daniels (Shadowboxer, 2005) nimmt in seiner Leinwandadaption zwar einiges davon zurück, dennoch erscheint das Bild – bricht man es auf den Umfang einer Synopsis herunter – kaum vorstellbar: Claireece Precious Jones erwartet ihr zweites Kind. Sie hat schon eins, das aber ist behindert. Der Vater der Kinder ist ihr eigener, denn Precious ist das Opfer fortgesetzten inzestuösen Kindesmissbrauchs. Precious ist erst sechzehn Jahre alt. Sie ist Analphabetin, wiegt über 100 Kilo und sie ist schwarz. Später erfahren wir, dass sie HIV-positiv ist. Precious lebt mit ihrer sadistischen Mutter in Harlem, New York City, in den 1980er Jahren.
Ein solcher Plothintergrund ist bestens geeignet für ein gesellschaftskritisches Soziopathendrama mit unverdaulichem Finale. Doch gerade das ist Lee Daniels Precious – das Leben ist kostbar (Precious: Based on the Novel 'Push' by Sapphire) eben nicht, denn bei aller Trost- und Ausweglosigkeit ist es ein Film über Hoffnung und menschliche Würde. Dass dies sehr gut gelingt, liegt zum Einen an der Art und Weise, wie Daniels die unerträgliche Last von Precious’ Schicksal darstellt: Fernab jeglicher plakativer Drastik eröffnet der Film eine grauenhafte Tatsache nach der anderen im fatalistischen Mantel vermeintlicher Alltäglichkeit. Das erzeugt beim Zuschauer natürlich Betroffenheit und Konsternation. Zum Anderen geht der Film von einer philanthropischen Prämisse aus, nämlich, dass in jedem Menschen ein unerschütterliches Mindestreservoire an Hoffnung, Fantasie und Lebensmut verborgen ist, welches bei leicht veränderten Rahmenbedingungen genutzt werden kann, um aus jeder noch so verfahrenen Situation zu entkommen. So setzt die Geschichte dem Elend kleine Lichtblicke entgegen, Wege zu Auswegen aus dem Sumpf der erdrückenden Tristesse. Die Energie sich zu mobilisieren, sich gegen das eigene Schicksal mit kleinen Schritten zu wehren, dieser Push – das ist die eigentliche Story von Precious.
Die Mainstream-Zielgruppe im Blick versucht sich der Film nicht in ästhetischen oder formalen Extravaganzen und bleibt in seiner Narration handwerklich konventionell: Das zum Teil hohe Montagetempo und der Einsatz der Handkamera verhindern dabei jede elegische Larmoyanz und schaffen so einen nahezu pseudo-dokumentarischen, intensiven Duktus. Dass der Film dem Vorwurf der Banalisierung des exponierten Elends und einer vordergründig sozialkritischen Verallgemeinerung entgeht, liegt an der realistisch anmutenden Figurenzeichnung sowie an der Balance, mit welcher die Unerträglichkeiten zu leichten, manchmal humoristischen Elementen im Verhältnis stehen. Der Film versteht sich als eine Cinderella-Story ganz eigener Art. Der schroffen Realität setzt Daniels eine märchenhafte Tagtraumebene entgegen. In diesen kitschfrei, sensibel und geradezu homöopathisch-dezent gesetzten Sequenzen träumt Precious von Respekt, Akzeptanz, Wärme und Liebe.
Fernab aller Träume bekommt Precious die reale Chance an einem Förderschulprogramm für legasthenische junge Frauen teilzunehmen. Das scheint ein kleiner Schritt zu sein, für Precious bedeutet es, zunächst der Tyrannis ihrer Mutter Mary zu entkommen. Diese hasst Precious dafür, ihren Mann (Precious’ Vater) verführt zu haben – ein demütigender Zynismus, denn Precious wurde vom Vater regelmäßig mit Duldung der Mutter vergewaltigt. Der Vorwurf ist zudem projizierte Entäußerung von Verzweiflung, Selbsthass und Defätismus einer Frau, deren einziger Lebenszweck im fortgesetzten Erschleichen von Sozialleistungen zu bestehen scheint. Eine Existenz wie Precious solle nicht Lesen und Schreiben lernen, sondern sich zur Sozialhilfe scheren und endlich „Stütze“ nach Hause bringen.
Der schwierige Weg zur Emanzipation führt über die Förderschule von Ms. Rain (Paula Patton), wo Precious andere unterprivilegierte Mädchen kennen lernt. Hier kann sie Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln und sich ihren Traumata stellen. Am Ende dieses Prozesses kann sich Precious zu ihren Verletzungen bekennen und mit ihren Kindern in ein Leben gehen, in welchem sie zumindest die Chance auf mehr Selbstbestimmung hat.
Zweifelsohne funktioniert dieser schwierige Film im Wesentlichen dank der Hauptdarsteller, allen voran Gabourey Sidibe als Precious. Die für den Film entdeckte übergewichtige Darstellerin verkörpert die Protagonistin mit verinnerlichter Kraft und unaufgesetzter Würde und verleiht ihr eine starke Authentizität. Im Kontrast hierzu gibt die Komödiantin Mo’Nique als Precious’ Mutter eine vielschichtige Figur, von sadistischer Bosheit an der Oberfläche und mit einer im innersten verborgenen Verzweiflung, die sich am Ende in einem starken Rechtfertigungsmonolog entäußert. Zu den Überraschungen des Ensembles gehören auch Mariah Carey als Sozialarbeiterin Ms. Weiss, typisiert auf blasse und ungeschminkte Leidensgestalt, sowie als einziger Mann in einer Nebenrolle Lenny Kravitz als Krankenpfleger John, der Sympathien für Precious entwickelt.
Die Botschaften von Daniels’ Film mögen banal klingen, der aufgetürmte Leidensdruck mag zu konstruiert sein – im Zusammenspiel von sich abwechselnden narrativen Stilmitteln und überzeugenden Darstellern entfaltet Precious dennoch eine Wirkung, der sich der Zuschauer nicht zu entziehen vermag. Und vergegenwärtigt man sich, dass derartige Geschichten auch hierzulande in wachsenden Unterprivilegiertenschichten denkbar sind, bekommt der Film eine unangenehme Aktualität.
Trailer zu „Precious - das Leben ist kostbar“
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