Die Familie des Rechtsanwalts Wilhelm Kuhn
Es gab keinen Garten, aber einen großen Birnbaum auf dem Hinterhof, der uns und die anderen Mieter mit Birnen versorgte. Am interessantesten in der Straße waren für mich die großen Pferdewagen voller Zuckerrüben, die zur Zuckerfabrik am Rande der Stadt gebracht wurden. Ihnen folgten oft kleine Kinder, die den Kutscher anbettelten, ihnen eine Rübe herunterzuwerfen, aus der ihre Mutter Sirup machen würde.
Nach ein paar Jahren in dieser Wohnung beschlossen meine Eltern, ein Haus zu bauen. Der Bau des Hauses sowie die Vorbereitung und Gestaltung des Gartens wurden eine aufregende Erfahrung für mich. Meine Liebe zur Gartenarbeit bis zum heutigen Tag geblieben. Ganz in der Nähe in Sichtweite unseres Hauses wurde das neue Realgymnasium gebaut, eine Schulform, in der eine klassische Sprache (Latein), Mathematik und Naturwissenschaften gelehrt wurden, die zum Abitur führten, das für ein Universitätsstudium oder einen Fachhochschulbesuch berechtigte. Neben seiner beruflichen Tätigkeit war mein Vater, der auch Stadtverordneter war, offenbar sehr aktiv bei der Planung und Gründung dieser Schule. Er bildete auch eine Gesellschaft zur Förderung der öffentlichen Bildung (Volksbildungsverein), wo er Gespräche über viele Themen organisierte und gelegentlich auch selbst Vorträge zu wissenschaftlichen Themen hielt.
Die neue Schule war keine Internatsschule, aber der Erfolg einer Schule in einer so kleinen Stadt hing sehr stark von den Einrichtungen für Internatsschüler ab. Ein kleiner Teil der Schüler konnte in einem separaten Gebäude (dem Alumnat) unter einer gewissen Aufsicht, die durch die Schule und die Stadt zur Verfügung gestellt wurde, untergebracht werden. Aber das lief nicht sehr gut, häufig gab es Disziplinprobleme.
Um bei der Lösung dieses Problems zu helfen, bauten meine Eltern unser Haus mit ein paar Extra-Zimmern, so dass sie bis zu drei Schüler in Pension nehmen konnten Sie hatten natürlich das Recht, geeignete Schüler auszuwählen. Die Sache funktionierte tatsächlich sehr gut. Es gab also während des Schuljahres eine Erweiterung unserer Familie um zwei oder drei Mitglieder, nicht viel älter als mein Bruder. Meine Erinnerungen an diese Großfamilie sind durchaus positiv, ich fand diese Schüler interessant und freundlich und, als jüngstes Mitglied, wurde ich wohl ein wenig verwöhnt. Es gab sehr wenige Ereignisse, bei denen mein Vater oder sogar meine Mutter ihre elterliche Autorität einsetzen mussten, und selbst diese sind in meiner Erinnerung nur als amüsante Geschichten gespeichert, bleiben lebendige Erinnerungen für mich. Ich will mich auf ein Beispiel beschränken.
Einer unserer Pensionsschüler kam aus Berlin, er war elternlos und in der Schule dort nicht gut vorangekommen, so dass sein Vormund ihn auf die Schule nach Lüben geschickt hatte, weit weg von den Versuchungen der Großstadt. Eines Tages kurz nach den Sommerferien klingelte eine junge Dame an der Tür und fragte meine Mutter, ob sie Dr. Kurt M. sprechen könne. Meine Mutter erklärte, dass sie keinen Dr. M. kenne, nur einen Gymnasiasten Kurt M.
Mein Bruder Helmut, 5 Jahre älter als ich, stellte ein wichtiges Mitglied unserer Familie dar, ebenso die Pensionsgäste. Im September 1914 trat er als Freiwilliger (im Alter von 15 �) in das Deutsche Heer ein, und bald danach mussten auch unsere Pensionsgäste uns für den Kriegsdienst verlassen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte natürlich Einfluss auf das Leben aller. Ihm ging ein hohes Maß politischer Propaganda in der Schule voraus. Die Haupttendenz dabei war die Idee einer angeblich absichtlichen Einkreisung des friedlichen Deutschlands durch die Alliierten, mit dem Schwerpunkt auf England als Haupt-Verschwörer. Ich erinnere mich an eine gedruckte Broschüre, die jedem Schüler ausgehändigt wurde, mit Passagen aus Berichten der deutschen Botschafter mehrerer Länder, die in einem sehr offiziellen, scheinbar objektiven Stil versuchten, die aggressiven Absichten der Alliierten zu zeigen. Die Wirkung auf die Freiwilligenmeldungen muss beträchtlich gewesen sein.
Der Tag, an dem der Krieg erklärt wurde, steht in meiner Erinnerung ganz klar vor mir. Mein Vater war gerade nach Hause gekommen und ich sehe uns immer noch in der Eingangshalle stehen, während er sagt: "Der Krieg ist erklärt worden." Es muss genau die richtige Art gewesen sein, mit der er das sagte, und seine düstere Stimmung gab mir das Gefühl, dass gerade etwas Schwerwiegendes passiert war. Andere Erinnerungen aus dieser Zeit sind solche der allgemeinen Verwirrung und der Gerüchte. Ich sehe mich noch in einer Menschenmenge an einer Stelle, wo eine breite Landstraße von Osten in die Stadt führte. Wir alle beobachteten den ankommenden Autoverkehr. Es gab ein Gerücht, dass große Mengen von Goldbarren von Russland nach Frankreich transportiert würden, und dies war eine der großen Durchgangsstraßen. Es war ziemlich naiv, und wir waren wahrscheinlich in der Hoffnung, schneebedeckte Autos mit Russen zu sehen, die angehalten und von der Polizei festgenommen würden. Im Alter von 10 schienen viele Dinge möglich und sehr aufregend zu sein, aber in der Realität natürlich geschah nichts dergleichen.
Andere Dinge aber sind in Lüben passiert wie in allen anderen Städten; neue Regimenter wurden in unglaublich großer Zahl und in großer Eile gebildet, in unserem Fall ein Infanterie-Regiment Nr. 225. Viele sehr junge Menschen im Einberufungsalter tauchten auf, machten sich manchmal ein Jahr älter oder zwei. So kam es, dass mein Bruder Helmut eines Tages in Uniform erschien, auf dem Foto sieht er aus wie ein Schuljunge in einer schlecht sitzenden Uniform. Es gab natürlich einen verzweifelten Mangel an Offizieren, um sie auf jedwede Verwendung im Krieg vorzubereiten. Einige von ihnen wurden bald an die Ostfront geschickt, und es gab schreckliche Geschichten über viele dieser unausgebildeten Soldaten, die sinnlos starben. Meine Eltern müssen sehr unglücklich und besorgt darüber gewesen sein, und ich möchte über das, was dann passiert ist, sagen, dass es sehr typisch für meine Mutter war.
Das Ehepaar Wilhelm und Martha Kuhn mit den Söhnen Helmut und Heinrich um 1913
Vor ihrer Heirat war meine Mutter in einem Breslauer Diakonissenhaus als Krankenschwester ausgebildet worden, und einer ihrer Patienten hatte später - vor allem während des Krieges - eine einflussreiche Stellung erreicht. Er war meiner Mutter zu der Zeit sehr dankbar und hatte ihr gesagt, dass sie, wenn sie jemals Rat oder Hilfe brauche, nicht zögern solle, ihm zu schreiben. An ihn, einen General v. Bissing , schrieb sie nun und fragte, ob er etwas tun könne, damit ihr Sohn in ein anderes Regiment versetzt würde, wo er vor seinem Fronteinsatz erst einmal richtig ausgebildet werde. Sie fügte auch ein Foto bei. Die Antwort kam sofort: Er schickte ihr einen Einführungsbrief an den Kommandanten eines regulären Regiments und bat sie, ihn zu besuchen. Mein Bruder wurde dann sofort versetzt, richtig ausgebildet und verbrachte den Krieg an der Front als Leutnant. Zum Zeitpunkt dieser Ereignisse habe ich wahrscheinlich von den hier erwähnten Einzelheiten nichts gewusst, obwohl ich alt genug war, um die Erleichterung meiner Eltern zu teilen, und sah, dass der sinnlose Befehl, meinen Bruder praktisch ohne Ausbildung in den Krieg zu schicken, irgendwie abgewendet worden war.
Es gab noch andere Begebenheiten im Leben meiner Mutter, weniger dramatische, aber auch wichtige, wo Hilfe nötig war und wo sie schnell und aktiv Hilfe leistete, was Mühe oder Zeit, Überwindung oder Risikofreude erforderte. Um das verständlich zu machen, möchte ich hier einiges über meine Eltern einfügen.
Mein Vater kam aus einer jüdischen Familie. Der Name Kuhn ist oft von jüdischer Herkunft, aber nicht immer. Meine Mutter war eine geborene Martha Hoppe. Ihre Familie kam aus dem Osten des Deutschen Reichs, das nun weitgehend zu Polen gehört. Ihr Vater war der Bauer Karl Hoppe, verheiratet mit Christiane Charlotte geb. Hampus. Meine Mutter wuchs auf dem Lande auf und ich erinnere mich, dass sie keine Schwierigkeiten hatte die Ziege zu melken, die wir während des Krieges - weitgehend zu meinem Nutzen - gekauft hatten.
Nach der Volksschule wurde sie in ein evangelisch-lutherisches Diakonissen-Mutterhaus nach Breslau zur Ausbildung als Diakonisse und Krankenschwester gegeben. Dafür wurden junge Mädchen mit christlichem Hintergrund aufgenommen. Es war so etwas wie ein religiöser Orden, aber ohne lebenslange Verpflichtung.
Die Eltern meines Vaters, Max Kuhn und Charlotte geb. Henschel, waren Juden, und mein Vater wurde in diesem Glauben erzogen. Sie hatten eine Tochter Hedwig (Hedi) und drei Söhne, deren ältester mein Vater Wilhelm war. Alle drei Söhne studierten an der Breslauer Universität. Weil ein Universitätsstudium nicht öffentlich finanziert wurde, mussten diese Ausgaben aus dem bescheidenen Kurzwarengeschäft meines Großvaters in Waldenburg erbracht werden. Das Geld muss immer ziemlich knapp gewesen sein. Die Fachrichtungen, die die drei Söhne studierten, waren offensichtlich so gewählt, dass man damit auch seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Mein Vater war immer sehr interessiert an Naturwissenschaften und wählte anfangs das Medizinstudium. Er war jedoch ein recht sensibler Mensch, und das Studium der Anatomie mit den Gerüchen und Unannehmlichkeiten, die ein Seziersaal mit sich bringt, scheinen der Hauptgrund für seinen Wechsel zum Jurastudium gewesen zu sein. Da den Juden Karrieren im öffentlichen Dienst zu dieser Zeit verschlossen blieben, wurde er nach dem Abschluss seines Studiums Rechtsanwalt. Sein jüngerer Bruder Georg wählte die gleiche Karriere.
Sein Leben als Jurastudent in Breslau brachte meinen Vater in Kontakt mit einem anderen Zweig der Familie Kuhn, einem Arzt Dr. Kuhn und seiner Familie, wo er oft eingeladen wurde. Ihr Sohn Georg, der in einer Bank arbeitete, wurde ein guter Freund meines Vaters. Nach dem zweiten Weltkrieg, als Schlesien einschließlich Breslau polnisch wurde, mussten Georg Kuhn und seine Frau Martha ihr Heim und ihren Besitz verlassen und sich als Flüchtlinge in Murnau in Bayern niederlassen. Meine Mutter blieb mit ihnen in Kontakt, und nach ihrem Tod setzte ich die Korrespondenz fort. Ich bewahre Georgs Briefe bis heute wie einen Schatz. Darin erzählt er viel über meinen Vater in seiner Zeit als Student in Breslau und während der Zeit seines Wehrdienstes. Ich bedauere, dass ich nie in der Lage war, diesen Freund meines Vaters persönlich zu treffen.
Es war in Breslau, und vor allem durch Georg Kuhn und seine Eltern, als mein Vater, dieser jüdische Jurastudent, ein junges Mädchen traf, Martha Hoppe, eine Diakonisse evangelisch-lutherisch christlichen Glaubens und Erziehung, und bald verliebte er sich in sie.
Fragen die Kinder in ihrer Jugend oder ihrem späteren Leben ihre Eltern darüber aus, wie es kam, dass sie einander heirateten? Die Antwort hängt wahrscheinlich sehr stark vom Verlauf ihres eigenen Lebens ab. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, meine Eltern danach befragt zu haben, solange es noch eine Chance dazu gab. Allerdings kamen einige Briefe meines Vaters an sie, Martha Hoppe, durch meine Mutter in meine Hände. Aus diesen und aus den alten offiziellen Dokumenten habe ich eine klarere Vorstellung davon gewonnen, wie diese Ehe trotz anfänglicher Schwierigkeiten zustande kam.
Zwei Dinge geschahen am selben Tag in Dresden, nämlich am 4. Juni 1898: der junge Wilhelm Kuhn nahm den christlichen Glauben an und heiratete die junge Martha Hoppe, und beides wurde sanktioniert und bestätigt von einem Geistlichen der reformierten christlichen Kirche.
Die einzige Verbindung unserer Familie mit Dresden war die Tatsache, dass Hedwig Grosse - oder Tante Hedi - dort lebte. Sie war die Frau, und später nach 1891, die Witwe des Bildhauers und Malers Franz Theodor Grosse, Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Dresden. Sie war eine Schwester des Musikers George Henschel und die Halbschwester meiner Großmutter. Ich habe gehört, dass die Ehe ihres Sohnes Wilhelm mit einem christlichen Mädchen nicht ganz im Sinne der Eltern war, die zwar jüdisch, aber religiös nicht sehr aktiv waren.
Die Ablehnung kann kaum von Tante Hedi stammen, deren Mann kein Jude war. Es ist offensichtlich, dass diese Tante Hedi, die wir alle als sehr sanfte und freundliche Person kannten, diese Ehe unterstützte und ihr Heim als freundliche Basis dafür bot. Die beiden großen, kostbaren Bände einer illustrierten Doré-Bibel hatten immer einen Ehrenplatz in meinem Elternhaus in Lüben. Sie waren offensichtlich ein Hochzeitsgeschenk von dieser guten großartigen Tante Hedi. Diese Bände, zu groß, um in einem normalen Buchregal aufbewahrt zu werden, sind nun in unserem Besitz. Einer unserer letzten persönliche Besuche vor unserer Auswanderung nach England war ein kurzer Besuch in Dresden, so dass meine Frau Mariele meine großartige Tante Hedi auch kennengelernt hat.
Glücklicherweise muss die anfangs fehlende Erlaubnis der Großeltern für eine Heirat der beiden sehr bald nachgeholt worden sein. Ihr Zuhause in Görlitz wurde ein wichtiges Zentrum der Familie für uns, und in späteren, härteren Zeiten von Krieg, Inflation und schlechter Gesundheit im Alter war es meine Mutter, die sie immer besuchte und in vielerlei Hinsicht aktiv half.
Vor dieser Zeit, als ich noch ein kleines Kind war, haben wir manchmal Weihnachten mit den Großeltern verbracht, die hatten immer einen Weihnachtsbaum mit Kerzen und allem, was dazu gehörte. Meine schönsten Erinnerungen jedoch sind die von Sommerbesuchen. Mein Großvater nahm mich dann auf Spaziergänge in den Park mit. Nachdem er einige Mehlwürmer gekauft hatte, setzten wir uns auf eine Bank, um auf die Vögel zu warten, die ganz zahm waren und sich manchmal sogar auf unsere Hände setzten. Meist waren es zahme Rotkehlchen, aber auch Meisen, Finken und Amseln kamen zu meiner großen Freude ganz nah. Andere Male mieteten wir ein Ruderboot auf der Neiße, mein Großvater saß immer am Steuerruder, während ich und andere ruderten. Während einer Pause wurde das Boot an Land gezogen und Großmutter öffnete einen Beutel mit köstlichen Bananen und Orangen.
Martha Kuhn mit Helmut und Heinrich um 1925
Zum Kreis der Familie in Görlitz gehörte auch Onkel Georg, der Bruder meines Vaters. Er war sehr musikalisch und heiratete Johanna van der Linden, eine niederländische Sängerin, die er oft auf dem Klavier begleitete. In ihrem Heim hörte ich oft gut vorgetragene klassische Musik. Leider wurde diese Ehe, die recht spät im Leben geschlossen wurde, bald von Krankheit überschattet. Tante Joh, wie sie genannt wurde, befiel eine schwere Form von Arthritis und so war sie schließlich an den Rollstuhl gefesselt. Ich habe oft lange Spaziergänge mit Onkel Georg genossen, manchmal zur Landeskrone, einem kleinen Berg in der Nähe von Görlitz mit einer schönen Aussicht auf die umliegende Landschaft und die Neiße. Onkel Georg war ein erfolgreicher Anwalt mit einer guten Praxis in Görlitz.
Onkel Georg war auch einer der selbstlosesten freundlichen Menschen, die ich je getroffen habe. Nichts schien ihm größeres Vergnügen zu bereiten, als anderen zu helfen und sie zu beschenken. Wenn wir auf einem unserer Spaziergänge auf einen älteren Menschen trafen, der eine schwere Last auf einer Schubkarre schob, bestand er darauf beim Schieben oder Ziehen zu helfen.
Während der Inflation passiert es mir einmal, dass mein Fahrrad am Bahnhof aus dem Gepäckwagen gestohlen wurde. Ich bekam sofort einen Zettel mit Angaben zum geschätzten Wert in Mark, den ich von der Bahn zurückfordern konnte. Das Verfahren dauerte jedoch ein paar Wochen, und bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Inflation den Wert der Erstattung auf fast Null reduziert. Der Verlust meines Fahrrads war eine echte Tragödie für mich. Irgendwie erfuhr mein Onkel Georg davon und sofort schenkte er mir ein neues Fahrrad.
Ein weiteres Mitglied der Familie Kuhn in Görlitz war Tante Thekla, die Schwester meines Vaters. Sie war nicht verheiratet und lebte in einer kleinen Wohnung neben dem Haus von Onkel Georg und Tante Joh, und wir sahen sie oft, sie gab Privatunterricht in Englisch, und ich glaube, auch in Französisch. Sie starb in einem frühen Alter an Krebs, und ich erinnere mich an einen Besuch bei ihr im Krankenhaus, wissend, dass sie bald sterben würde. Dies war meine erste Erfahrung mit dem Tod eines Menschen, den ich gut kannte, und ich erinnere mich, wie stark diese Erfahrung mich bewegte. Sie wollte mir sehr gern einen Gefallen tun und gab mir ein Ticket für eine Aufführung einer Wagner-Oper in Görlitz.
Der jüngste Bruder meines Vaters, Fritz Kuhn, war Arzt und besaß eine Praxis in Berlin. Wir sahen ihn gelegentlich in Görlitz, und ich besuchte ihn auch einmal in Berlin auf der Durchreise bei einer Zugfahrt von meiner Universitätsstadt Greifswald nach Lüben. Er war nicht verheiratet und hatte weniger Kontakt mit der Familie als die anderen. Ich erinnere mich noch, dass ich zusammen mit Onkel Fritz in einem Cafe am Kurfürstendamm saß und wir den unaufhörlichen Strom von Kraftfahrzeugen beobachteten, die in beiden Richtungen vorüberrauschten, und wie wir darüber rätselten, wohin sie alle fuhren und woher sie kamen. Es war so ganz anders als in Lüben und sogar in dem etwas größeren Greifswald. Es erinnerte mich an Bühnenauftritte, wenn man einen endlosen Strom von Soldaten vorbeiziehen sah und bald die gleichen Personen wiedererkennen konnte und bald den Trick verstand.
Ich habe bereits einige Briefe von meinem Vater an seine Verlobte erwähnt. Ein Brief, geschrieben von einem jungen Mann an ein Mädchen, das er tief liebt, sollte nur von dieser einen Person gelesen werden. Ihn in diesen Zeilen an die weitere Familie vollständig zu zitieren, wäre nicht richtig, und dies gilt auch für die beiden Briefe, die jetzt auf meinem Schreibtisch liegen und von meinem Vater in sehr ordentlicher gotischer Handschrift verfasst wurden, datiert in Breslau am 9. Juli 1896 und in Berlin am 24. Oktober 1896. Ich kann jedoch ein paar Sätze daraus zitieren, die helfen können, ein Bild von meinem Vater zum Leben zu erwecken.
Im ersten Brief bezieht er sich auf ihre Begegnung am Tag zuvor, als er aus der Straßenbahn eine Station vor ihr ausstieg und dann zu Fuß weiter rannte in der Hoffnung, noch einen Blick auf sie zu werfen:
"Aber ich konnte Dich nicht mehr entdecken; Du musst wohl in ein Haus hineingegangen sein. Ich war sehr betrübt, aber ich war doch froh Dich gesehen zu haben."
Dann bezieht er sich auf seinen Besuch bei seinem Onkel Dr. Kuhn:
"...dessen Tochter Grete Geburtstag hatte; mein Vetter Georg hatte ihr auf meinen Vorschlag die illustrierte Ausgabe von Faust geschenkt, worüber sie sich natürlich sehr gefreut hat. Ich schenkte ihr eine Topfblume mit einem kleinen Verslein".
Der zweite Brief erwähnt Dresden, und das bedeutet wahrscheinlich, dass sie der Tante meines Vaters Hedwig Grosse einen Besuch abgestattet hatte: "Wenn Du Dich wirklich in Dresden wohl fühlst, und wenn ich weiß, dass Du froh und munter bist und Du Dich nicht zu sehr anstrengst, dann will ich auch wieder fröhlich sein, und bin es schon. Denn von Dir�".
Er schreibt über seine Interessen, und dass sie an all diesen Anteil nimmt, und fährt fort:
"Du weißt, meine Martha, es ist eine Schwachheit von mir, dass ich gern anderen etwas erkläre und darunter wirst Du gewiss bisweilen zu leiden haben. Ich würde mich dann natürlich ärgern, wenn Du nicht zuhören würdest. Du musst also wenigstens immer so tun, als ob Du zuhörst. Du brauchst aber nicht etwa zu fürchten, dass ich Dich mit juristischen Problemen quälen würde. Ich spreche natürlich von solchen Dingen, die von allgemeinem, menschlichem Interesse sind. "
In diesem Zusammenhang kommt mir eine Diskussion mit meinem Bruder von vor etwa einem Jahr in den Sinn. Als ich ihm sagte, dass mein frühes Interesse an den Naturwissenschaften definitiv aufgrund des Einflusses unseres Vaters entstanden sei, sagte mein Bruder, dass auch in seiner frühen Jugend, etwa 5 Jahre vor mir, der Einfluss unseres Vaters auf die Entwicklung seiner Interessen entscheidend war, obwohl diese sicherlich ganz andere als meine waren.
Nach dem Tod meines Vaters, und dann noch einmal nach dem Ende des Krieges und dem Tod meiner Mutter, bekam ich aus anderen Teilen Deutschlands oder anderen Ländern viele Briefe von alten Freunden und Bekannten aus der Zeit in Lüben, in denen von meinen Eltern erzählt wurde. So viele von ihnen sprachen vom stimulierenden Einfluss meines Vaters auf eine große Bandbreite von Themen, nicht nur aus der deutschen Literatur, sondern auch Shakespeare in der deutschen Übersetzung von Schlegel und Tieck, über Astronomie und andere Felder der Naturwissenschaften. Sein Wissen auf solch weiten Feldern war natürlich nicht professionell im Sinne der Vollständigkeit, aber es war lebendig und nicht oberflächlich und somit Anregung für andere. Das Schachspiel war auch ein großes Interesse von ihm. Er war nicht nur ein guter Spieler, er hat auch oft Spielverläufe studiert, die bei Wettbewerben gespielt und in Zeitungen veröffentlicht worden waren.
Aus einem der Briefe an mich von diesem Freund meines Vaters, Georg Kuhn (Murnau, 12.01.1947), will ich einige Passagen zitieren: "Am nächsten liegt es mir, von den Studienjahren Deines Vaters in Breslau und seinen Militär-Dienstjahren zu berichten. Er wohnte meist in unserem Hause, war häufig bei uns, wie ich häufig bei ihm war, gelegentlich zum Schach, oft aber auch zur Lektüre von Shakespeare, Byron, Goethe und ich erinnere mich deutlich, wie er mir Monologe aus Macbeth, Hamlet und Richard III. vorgelesen hat. Er fand in mir einen begeisterten und gelehrigen, 7 Jahre jüngeren Schüler. Das Schachspiel hatte er mir schon beigebracht, als ich als Zehnjähriger meine Ferien in Waldenburg bei seinen Eltern verlebte. Seine Dienstzeit muss 1891 gewesen sein. Er war durchaus nicht begeistert von ihr, schon weil sie sein Studium unterbrach, aber er hat das Gute an ihr zu entdecken gewusst ".
"Eines Tages rief ihn sein Hauptmann: "Einjähriger Kohn!"
"Kuhn heißt der Einjährige", verbesserte der Unteroffizier Kuhn.
"So, der Einjährige hat sich überhaupt in letzter Zeit sehr gebessert", war die Antwort des Hauptmanns.
Beim Marsch zum Manöver ritt unmittelbar hinter unserem Vater ein badischer Hauptmann so nahe, dass unser Vater fürchtete, der Gaul werde ihn treten, und sah sich eilends um.
"Einjähriger", sagte der Hauptmann, "Fürchten Sie sich nicht, wenn Sie mein Pferd tottritt, werden Sie mit Musik begraben."