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Stummes Elend | NZZ

  • ️Thu Jan 26 2006

In «Schicksal. Eine Geschichte in Bildern» erzählte Otto Nückel 1930 den Abstieg einer Frau ins Elend. Der lange verschollene Bilder-Roman, der geschickt expressionistische Ästhetik mit politischer Anklage und Satire verknüpft, wurde eben erst wieder veröffentlicht.

Der Titel lässt es vermuten: «Schicksal. Eine Geschichte in Bildern» ist düster grundiert. In etwas mehr als 200 wortlosen Bildtafeln schildert Otto Nückel das Leben einer Frau von ihrer Geburt als Tochter eines nichtsnutzigen Alkoholikers und einer verhärmten Wäscherin bis zum bitteren Ende. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern verdingt sie sich als Magd, es folgen Schwangerschaft, Kindsmord, Gefängnisstrafe, Prostitution, die Heirat mit einem Freier, eine Affäre mit dem früheren Liebhaber, ein Mord, die Todesstrafe. Mit lakonischer Konsequenz und erbarmungslosem Strich inszeniert Otto Nückel Station um Station einer lumpenproletarischen Existenz im Deutschland der Weimarer Republik, ein Schicksal, gegen das jedes Aufbäumen von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

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Otto Nückel gehört zu den Vergessenen des deutschen Expressionismus. Er wurde 1888 in Köln geboren und starb 1955 oder 1956. Ein Medizinstudium brach er 1910 ab, um sich zum Künstler ausbilden zu lassen. Seinen expressionistischen Gemälden war allerdings weniger Erfolg beschieden als seinen Karikaturen für die Münchner Satire-Zeitschrift «Simplicissimus» und seinen Illustrationen für Bücher von Thomas Mann und E. T. A. Hoffmann. 1930 veröffentlichte er mit «Schicksal» seinen einzigen Bilder-Roman. Inhaltlich durchaus mit den gesellschaftskritischen Holzschnitt-Romanen des Belgiers Frans Masereel und des Amerikaners Lynn Ward verwandt, unterschied sich Nückels Arbeit von der seiner zwei berühmteren Zeitgenossen durch die Technik. Dem Holzschnitt hatte er schon früh abgeschworen; lieber arbeitete er mit Radierungen, die ihm feinere Differenzierungen erlaubten und den einzelnen Bildern mehr Geschmeidigkeit verliehen.

Der kleine französische Verlag Imho erlaubt nun die Wiederentdeckung von «Schicksal» (unter dem französischen Titel «Destin»). Das über 400 Seiten dicke, beinahe quadratische Buch mit rotem Umschlag ist prächtig gedruckt und bringt die Feinheiten und Kontraste von Nückels Blättern schön zur Geltung. Jede Seite enthält nur ein Bild; der Blick ist gezwungen, auf jeder Szene zu verweilen und die bis auf die Kapitelüberschriften ohne ein einziges Wort auskommende Geschichte aus den Bildern heraus zu erfassen - und doch entsteht ein narrativer Sog, der ebenso zwingend ist wie das Schicksal der jungen Frau. Otto Nückel variierte geschickt die Grösse, die Ausschnitte und die Blickwinkel der Einzelbilder, von der kleinen Vignette zum grossen Panoramabild, vom verhärmten Gesichtsausdruck bis zum aufgebrachten Mob, und schafft so einen eindringlichen, nervösen Erzählrhythmus.

Interessant ist, dass Nückel die Schuld am Elend nicht gänzlich auf die böse Welt abwälzt, wie es die sozialromantischen Klischees erheischen würden - ebenso schonungslos und sarkastisch wie die gesellschaftlichen Missstände entlarvt er auch das individuelle Verschulden seiner Protagonistin: Sie weiss ihre (zugegeben kleinen) Chancen nicht zu nutzen und stürzt sich durch gewisse Fehlentscheide und Fehltritte noch tiefer ins Elend.

Mit «Schicksal» verband Otto Nückel politische Anklage, gesellschaftliche Satire, expressionistische Kunst zu einer eindrücklichen Bildergeschichte - die sich vermutlich auch wie eine Allegorie der Weimarer Republik lesen lässt.

Christian Gasser

Otto Nückel: Destin. Editions Imho, Paris. Euro 25.-. - Vergleiche auch: www.imho.fr.