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Die Mär vom Faschismus in Kiew | NZZ

  • ️Cyrill Stieger
  • ️Thu Mar 13 2014

Das Ukraine-Bild der russischen Propaganda ist völlig verzerrt. Der Machtwechsel in Kiew war nicht ein Putsch von Faschisten. Zum Sturz führte eine Volkserhebung. Von Cyrill Stieger

Faschisten, Nationalisten und Banditen haben im Februar in Kiew die Macht übernommen. Es ist die Pflicht Russlands, die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine vor finsteren Kräften zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen. Auf dem Kiewer Maidan haben Faschisten auf die Demonstranten geschossen. Die Besetzung der Krim ist eine humanitäre Mission. Es ist in der Ukraine verboten, Russisch zu sprechen, Russen werden drangsaliert. Überall sind faschistische Banden unterwegs. Das Land, das in den russischen Medien Tag für Tag mit solchen und ähnlichen Worten beschrieben wird, existiert höchstens in den Köpfen der Propagandisten. Die kalten Krieger haben wieder Hochkonjunktur. Sie produzieren nach sowjetischem Muster am Laufmeter Halbwahrheiten und Lügen im Dienste der Staatsmacht und zur Rechtfertigung der Krim-Politik von Präsident Putin. Sie haben mit der Wirklichkeit in der Ukraine nicht viel zu tun.

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Lebendige Bürgerbewegung

Niemand stellt in Abrede, dass sich unter den Regierungsgegnern auf dem Maidan rechtsextreme und nationalistische Gruppen befanden, die zum Teil bewaffnet und gewaltbereit waren. Der sogenannte Rechte Sektor, ein paramilitärisch organisierter Zusammenschluss nationalistischer und rechtsextremer Splittergruppen, hat im Soge der Revolution und der russischen Bedrohung an Zugkraft gewonnen. Es ist auch wahr, dass eine Mehrheit auf dem Maidan die am Tag vor dem Machtwechsel im Februar unter EU-Vermittlung ausgehandelte Vereinbarung zwischen der Regierung und der Opposition über eine politische Übergangslösung ablehnte. Allerdings verweigerte auch der Vertreter Russlands seine Unterschrift. Das hindert Moskau allerdings nicht daran, sich ständig auf das Abkommen zu berufen.

Die Extremisten beherrschten zu keinem Zeitpunkt der Proteste den Maidan. Sie haben zwar beim Verlauf des Umsturzes eine Rolle gespielt, sind politisch aber schwach und weit davon entfernt, die nach dem Machtwechsel gebildete Übergangsregierung zu kontrollieren – auch wenn die rechtsgerichtete Partei Swoboda entsprechend den Machtverhältnissen in der 2010 gewählten Legislative drei Kabinettsposten erhielt, ebenso viele wie Vertreter des Maidan. Die dominierende Kraft ist jedoch die Partei von Julia Timoschenko.

In der Ukraine haben sich eine lebendige Bürgergesellschaft und eine politische Opposition entwickelt, die als Gegengewicht zur Staatsmacht von jeder Regierung ernst genommen werden müssen. Es gibt, anders als in Russland, einen wirklichen politischen Wettbewerb und Meinungsvielfalt. Das war unter Wiktor Janukowitsch nicht anders. Das Rückgrat der jüngsten Protestbewegung bildeten junge Leute, die gegen Willkür protestierten und sich für rechtsstaatliche Verhältnisse einsetzten, für die Entwicklung der Ukraine zu einem modernen Staatswesen, für die Überwindung des sowjetischen Erbes. Ein Aufstand von Teilen der Bevölkerung in einem einst zur Sowjetunion gehörenden Land muss für Putin ein Greuel sein. In seinem Reich unterdrückt er mit repressiven Massnahmen jegliche Regung der Bürgergesellschaft, denn sie könnte seine Macht gefährden.

Es waren in Kiew nicht die bewaffneten Extremisten, die Janukowitsch stürzten. Der Machtwechsel war in erster Linie die Folge davon, dass die Stützen des Regimes, vor allem die Polizei und die Sicherheitskräfte, auf die andere Seite überliefen. Damit brach innert kürzester Zeit das Machtgefüge auseinander. Der Einsatz der Scharfschützen war der Punkt, an dem alles kippte. Die Sicherheitskräfte kamen wohl zur Einsicht, dass eine gewaltsame Räumung des Maidan ein noch viel grösseres Blutbad anrichten würde. Als die Polizei die Seite wechselte, floh Janukowitsch. Erst dann übernahm das Parlament die Macht und enthob den Präsidenten seines Amtes – mit den Stimmen übergelaufener Abgeordneter seiner eigenen Partei. Der Prozess der Installierung der neuen Führung verlief nach Meinung von Experten insgesamt im Rahmen der Gesetze und ist juristisch kaum anfechtbar. Alle westlichen Staaten und auch alle exsowjetischen Republiken, sogar Weissrussland, haben die neue Regierung mindestens implizit anerkannt.

Geeint unter russischem Druck

Das Parlament hat nach dem Machtwechsel beschlossen, dem Russischen den Status einer offiziellen regionalen Sprache wieder zu entziehen. Doch wurde das Gesetz vom Übergangspräsidenten mit einem Veto belegt, was jene verschweigen, die in der Ukraine Faschisten am Werk sehen. Sie erwähnen auch nicht, dass hinter den Barrikaden des Maidan nicht nur Ukrainisch, sondern auch Russisch gesprochen wurde. Um die darniederliegende Wirtschaft zu beleben, sind schmerzhafte Reformen unerlässlich. Noch muss die Regierung nicht beweisen, dass sie in der Lage ist, die dafür notwendige Einheit zu bewahren. Die russische Bedrohung lässt die Politiker in Kiew enger zusammenrücken.