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Warum ich «Le Figaro» nicht mehr lese | NZZ

  • ️Marc Zitzmann
  • ️Thu Nov 11 2010

Seit fast 15 Jahren kennt NZZ-Kulturkorrespondent Marc Zitzmann die Pariser Tageszeitung «Le Figaro» von innen und von aussen: als Volontär und als Leser. Im folgenden Beitrag erklärt er, warum er sein letztes Abonnement nicht verlängert hat.

Diesen Sommer lief mein Abonnement für das E-Paper der Pariser Tageszeitung «Le Figaro» ab. Da die Website sich nicht just durch Benutzerfreundlichkeit auszeichnet, verschob ich beim zweiten fehlgeschlagenen Versuch die Erneuerung des Abonnements auf den nächsten Tag. Dann auf den übernächsten. Dann auf den darauf folgenden usw. Am Ende waren etliche Wochen ins Land gegangen und ich musste mir eingestehen, dass die «Figaro»-Lektüre mir nicht nur nicht fehlte, sondern ich mich sogar von einer lästigen Pflicht entbunden fühlte. Jeden Tag hatte ich mich missmutig durch die jeweilige Ausgabe geklickt; fand ich in einer Woche einmal zwei Artikel, die mich interessierten, wähnte ich mich schon glücklich. Warum also das Abonnement erneuern, statt meine Zeit (und das Geld der NZZ) in lohnenderen Lesestoff zu investieren?

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Ich kenne «Le Figaro» seit fast 15 Jahren von innen. Im Sommer 1996 absolvierte ich in dem Art-Déco-Gebäude an der Nummer 37 der Rue du Louvre, wo das Blatt 1975 eingezogen war (und vor fünf Jahren wieder ausgezogen ist), auf der Kulturredaktion ein Volontariat. Dieses hatte meine Pariser Journalistenschule vermittelt – fast alle meine Studienkolleginnen und -kollegen wollten zum TV oder zum Radio, für die Presse interessierte sich so gut wie niemand, obwohl es der Branche damals noch recht gut ging. Die Rahmenbedingungen waren nicht eben optimal: Ich hatte Liebeskummer, richtig schlimm, und war geistig in etwa so wach und empfänglich wie ein Zombie. Das wenige, was ich trotz meines weggetretenen Zustands wahrnahm, hinterliess einen zwiespältigen Eindruck. Im Grossraumbüro sassen die Redaktorinnen und Redaktoren an grossen Tisch-«Inseln» mit je drei, vier Arbeitsplätzen. Im Verhältnis zu den Riesendimensionen des Raums war die Decke viel zu niedrig; ihr gräulicher Plattenbelag wirkte so heruntergekommen wie der abgeschabte, von Kaffeeflecken (und Zigaretten-Brandspuren?) übersäte Teppichboden.

Senator, Milliardär, Rüstungsindustrieller und Zeitungsbesitzer mit Weitblick: Serge Dassault Anfang 2010 (Bild: Reuters)

Senator, Milliardär, Rüstungsindustrieller und Zeitungsbesitzer mit Weitblick: Serge Dassault Anfang 2010 (Bild: Reuters)

Und auch die in diesem Marthaler-Dekor versammelten Figuren entsprachen nicht just meinem Bild von den Machern eines Weltblatts – als solches gilt «Le Figaro» ja zumindest in Paris. Ich erinnere mich noch an eine gewisse Chantal, die die Rolle des Redaktions-Faktotums spielte: ein bulliges Persönchen mit dem Organ eines Cheerleaders, das Kraftausdrücke ausspie wie der Eyjafjallajökull Aschewolken und im Umkreis von mehreren Dutzend Metern allen die Ohren zudröhnte mit der derb-detailreichen Schilderung seiner, ähem, amourösen Abenteuer. Die Zusammensetzung der Kulturredaktion widerspiegelte en miniature jene der Gesamtbelegschaft: extrem heterogen. Gewiss: Jede Zeitung hat bessere und weniger gute Mitarbeiter. Aber im Fall von «Le Figaro» ist der Qualitätsunterschied wirklich eklatant. Das verleiht dem gedruckten Produkt – im Gegensatz etwa zu «Le Monde» – etwas Unstetes, Unbeständiges und Unausgereiftes. Ich weiss nicht, wer die Mitarbeiter rekrutiert und nach welchen Kriterien. Aber während meiner Zeit auf der Redaktion begegnete ich etlichen Personen, die eindeutig nicht primär ihrer beruflichen Qualifikation wegen angestellt worden waren. Und beim Lesen des Blattes hatte ich bis zuletzt nicht den Eindruck, dieser Missstand sei jemals korrigiert worden.

Daneben freilich gab es auch ein paar Vollblutjournalisten mit erlesener Feder. Ich denke zum Beispiel mit Bewunderung an Dominique Borde zurück, der mit ebenso profunder Kenntnis der – namentlich französischen – Geschichte wie mit Stilgefühl, Anschaulichkeit und Begeisterungsfähigkeit über Filme schrieb. Doch wurde diese Koryphäe hauptsächlich mit dem Verfassen von Kurzkritiken für die Fernsehprogrammseite betraut, während zwei Kolleginnen, die ihm meiner Ansicht nach nicht das Wasser reichten, über die meisten Kino-Neuheiten berichteten.

Das Beispiel zeigt recht anschaulich, dass für eine Zeitung dasselbe gilt wie für eine Musikanlage: Sie kann nur so gut sein wie das schwächste ihrer Elemente. Und «Le Figaro» hatte schon damals – und hat heute noch in weitaus stärkerem Mass – gleich mehrere Schwachstellen. So leiden die durchaus vorhandenen Könner und Meister in der Redaktion nicht nur unter der Nachbarschaft fachlich flagrant minder versierter Kollegen. Auch das aberrante Personalmanagement und der in mehrfacher Hinsicht kritikwürdige inhaltliche Kurs der Redaktionsleitung und des derzeitigen Besitzers ziehen sie nach unten.

Was das Personalmanagement angeht, ist der Fall von Borde ein gutes Beispiel. Andere Redaktoren, nicht nur im Kultur-Ressort, mit denen ich weiterhin in Kontakt stehe, erzählen mir immer wieder, wie Journalisten im «Figaro» nicht ihren Kompetenzen entsprechend eingesetzt werden. Und deswegen verkümmern, verwelken und verbittern. Im Gegensatz zu ihren Kollegen von «Libération» und «Le Monde», den beiden anderen grossen Pariser Blättern, die sehr selbstbewusste, ja mitunter kämpferische Redaktionen haben, sind die Mitarbeiter des «Figaro» seit je geduckt, verschreckt, eingeschüchtert – Ausnahmen bestätigen die Regel. Einen sozialen Dialog im eigentlichen, zivilisierten Sinn gibt es nicht.

Wie die Beziehungen zwischen den Chefs und ihren Untergebenen aussehen, veranschaulicht die folgende Stellungnahme der hausinternen Société des Rédacteurs (SDR) vom September 2007: «Wir bedauern, dass mehrere unserer Kolleginnen und Kollegen gezwungen sind, Anwälte einzuschalten, um ihre Grundrechte geltend zu machen. Die SDR legt grossen Wert auf eine Tradition der elementaren Höflichkeit und beklagt einen Mangel an Bereitschaft zum Zuhören und eine Brutalität, auf die sie schon mehrmals hingewiesen hat – Gepflogenheiten, die dem Betriebsklima schaden und also der Motivation und Leistungsfähigkeit der Redaktion». «Le Monde» zitierte Mitte 2008 Mitarbeiter des Konkurrenzblatts mit den Worten: «Die Stimmung ist schlecht, die Leute sind völlig demobilisiert und entmutigt». Damals verliessen im Rahmen eines «freiwilligen Stellenabbaus» 71 Angestellte das Blatt, unter ihnen 45 Redaktoren. Eine hausinterne Gewerkschaft stellte besorgt fest, die meisten Abgänger seien gestandene Journalisten im besten Alter. Nicht nur drohten «Le Figaro» dereinst Nachwuchsprobleme, der Abgang dieser Fachkräfte sei auch symptomatisch für ihr mangelndes Vertrauen in die Zukunft der Zeitung.

Stärker als das Personalmanagement betrifft mich als Leser allerdings der inhaltliche Kurswechsel. «Le Figaro» war, seit ich den Titel lese, nach meinem Empfinden nie ein wirkliches Weltblatt. Aber doch eine Zeitung mit einem realen Anspruch und einem zumindest achtbaren Niveau. Was sich heute kaum mehr behaupten lässt. Der Wandel beziehungsweise qualitative Niedergang lässt sich datieren: Im Juni 2004 übernahm der Rüstungsindustrielle Serge Dassault die Dachgesellschaft des «Figaro», im November 2007 betraute er Etienne Mougeotte mit der Redaktionsleitung.

Der 85-jährige Dassault ist eine zwielichtige Figur. 1998 wurde er in Belgien wegen Korruption zu einer zweijährigen bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Für Sarkozys Regierungspartei UMP amtiert er seit 2004 als Senator. Als langjähriger Bürgermeister der Pariser Vorstadt Corbeille-Essonnes wurde er letztes Jahr vom Staatsrat zum Rücktritt gezwungen und mit einer einjährigen Nichtwählbarkeit bestraft, weil er das (knappe) Resultat seiner zweiten Wiederwahl 2008 mit Geldgeschenken an Bürger beeinflusst haben könnte. Letzten Monat veröffentlichte «Libération» neue Aussagen und Dokumente, die die These eines regelrechten Stimmenkaufs stützen. Bewiesen ist dieser allerdings nicht.

Als frischgebackener Besitzer des «Figaro» brachte Dassault die Redaktion sogleich gegen sich auf mit Weisungen wie jener, Informationen nicht zu veröffentlichen, wenn sie den wirtschaftlichen Interessen des Landes im Allgemeinen oder der Dassault-Gruppe im Besonderen abträglich sein könnten. Dieser Ukas wurde alsbald in die Praxis umgesetzt mit dem Verbot des damaligen Redaktionsleiters an einen seiner Redaktoren, eine Schlüsselfigur der Staatsaffäre um den Verkauf französischer Fregatten an Taiwan zu befragen – prompt erschien das Exklusivinterview in einem Konkurrenzblatt. 2008 kam es zu einem weiteren Zusammenstoss mit der Redaktion, als Mougeotte in Dassaults Tross zu einem Treffen mit Putin nach Moskau flog, bei dem nach einem Interview des Redaktionschefs mit dem russischen Premierminister der Rüstungsindustrielle mit diesem Geschäftliches besprach. Der Moskau-Korrespondent der Zeitung war über die Aktion erst gar nicht unterrichtet worden. «Wie steht es um die Unabhängigkeit unserer Redaktion von unserem Aktionär?», fragte eine hausinterne Gewerkschaft.

Alle Artikel über Länder, in denen Dassault seine Rafale-Kampfflugzeuge zu verkaufen hofft, werden laut Berichten in Konkurrenzblättern mit der Lupe gelesen, regelmässig umgeschrieben, gelegentlich sogar dem Papierkorb überantwortet. Dies soll insbesondere Beiträge über Brasilien, Libyen, die Schweiz sowie die Vereinigten Arabischen Emirate betreffen. Mehr lächerlich als ärgerlich wirken dagegen Dassaults Neujahrswünsche an die Leserschaft, die jeweils auf der Frontseite erscheinen. In diesen singt der UMP-Senator gern ein Loblied auf Sarkozys «Mut» und «Dynamik» und versichert den Präsidenten seiner, pardon: «unserer» Unterstützung bei der Reform eines Landes, «dessen Gewohnheiten der Änderung bedürfen».

Der 1826 gegründete «Figaro» war in den ersten Jahren seiner Existenz ein antiroyalistisches Satireblatt. Lang ist's her: Schon seit etwa anderthalb Jahrhunderten gilt der Titel als das Leibblatt des satten, selbstzufriedenen (Gross-)Bürgertums. Dagegen ist nichts einzuwenden, wie auch nicht gegen seine klare Verankerung im rechten Lager. Was seit der Übernahme durch Dassault und dem durch Mougeotte gesteuerten Kurswechsel jedoch neu und bedenklich ist, ist die Tatsache, dass «Le Figaro» heute nur noch eine Sippe innerhalb der Grossfamilie der französischen Rechten bedient: jene der eingefleischten Sarkozysten. Auf der Strecke bleiben die sozialen Liberalen, die humanistischen Zentristen, die wertkonservativen Katholiken. . . Die Verurteilung der von der Regierung mit viel Muskelspiel inszenierten Abschiebungsaktion gegen die Rom diesen Sommer durch Benedikt XVI., um nur ein Beispiel zu nennen, wurde so gut wie totgeschwiegen. «Le Monde» zitierte einen Redaktor des Inlandressorts mit der Mahnung, es sei die Bestimmung des «Figaro», die Polyfonie des rechten Lagers widerzuspiegeln.

Das Malaise auf der Redaktion ist inzwischen so gross, dass die Société des Rédacteurs Ende September einen Fragebogen an alle Journalisten geschickt hat. In diesem finden sich Fragen wie «Waren Sie in jüngerer Zeit beim Lesen des schockiert oder enttäuscht über die Behandlung eines oder mehrerer Themen?» oder «Wünschen Sie, dass bei der nächsten Präsidentschaftswahl [in anderthalb Jahren] explizit für einen Kandidaten Partei nimmt?». Das Ergebnis der anonymen Umfrage sollte dieser Tage bei einer Generalversammlung vorgestellt werden.

Das Problem, auf welches diese Initiative den Finger legt, ist die häufige Tatsachenverdrehung zugunsten des Regierungslagers. Diese hat seit Ende 2007 im «Figaro» ein Ausmass angenommen, das man bei Konkurrenzblättern – ob für oder gegen Sarkozy – nicht kennt. Als etwa die Regierung in ihrem Bestreben, die für das rechte Lager bei Wahlen stets einträgliche Angst gegen die reale oder eingebildete Unsicherheit im Lande weiter zu schüren, eine x-te Kampagne gegen Wiederholungstäter beziehungsweise «laxe Richter» lancierte, sekundierte ihr «Le Figaro» mit reisserischen Titeln wie «L'incroyable clémence qui a profité au violeur du RER». Schaut man sich den besagten Fall allerdings näher an, stellt sich heraus, dass der betreffende U-Bahn-Vergewaltiger mitnichten in den Genuss einer «unglaublichen Milde» der Justiz kam. Sondern schlicht und einfach in jenen der Anwendung des Gesetzes: Er war nach dem Absitzen einer Gefängnisstrafe nach geltendem Recht freigelassen worden – und nach seiner Freilassung rückfällig geworden. Dächte man die «Logik» des «Figaro»-Artikels wie auch jene der ihm zugrunde liegenden Straf-«Philosophie» der Regierung konsequent zu Ende, alle «potenziell gefährlichen Menschen» (so es denn überhaupt «potenziell ungefährliche Menschen» gibt) in «Sicherheitsverwahrung» zu behalten, so ein Jurist pointiert, führte der Kampf gegen Wiederholungstäter dahin, dass man prophylaktisch alle 65 Millionen Franzosen lebenslänglich hinter Schloss und Riegel sperrte.

Neben der Übernahme der Regierungs-Kommunikation (oder, je nach Ansicht, der Regierungspropaganda) produziert «Le Figaro» auch selbst «Informationen», die das Tun der Sarkozysten und ihres Anführers im strahlendsten Licht erscheinen lassen. Das beliebteste Mittel zum Zweck, die Meinung des Präsidenten als jene des Volks auszugeben, sind Umfragen. Seit drei Jahren braucht und missbraucht «Le Figaro» Repräsentativerhebungen in inflationärem Mass. Bekanntlich lässt sich das Ergebnis einer Umfrage schon durch die Formulierung und Anordnung der Fragen in die eine oder andere Richtung orientieren. Um aber sicherzustellen, dass die zu vermittelnde Botschaft ganz gewiss verstanden wird, manipuliert «Le Figaro» die solcherart gewonnenen Ergebnisse oft noch nachträglich. Ein recht plumpes Beispiel hierfür ist jene Überschrift, die im Frühling 2008 triumphal verkündete: «Für 58 Prozent der Franzosen hat sich Sarkozys Regierungsstil zum Guten verändert». Die betreffende Umfrage sagte etwas ganz anderes: nämlich, dass sich der Stil des Präsidenten lediglich für 49 Prozent der Franzosen überhaupt geändert habe – und für 58 Prozent von diesen zum Guten. Richtig hätte der Titel also lauten müssen: «Für 28,42 Prozent (= 58 Prozent von 49 Prozent) der Franzosen hat sich Sarkozys Regierungsstil zum Guten verändert».

Einen anderen auf einer Umfrage beruhenden Artikel überschrieb «Le Figaro» zu einem Zeitpunkt, als die Regierung einen massiven Stellenabbau im öffentlichen Dienst zu verkaufen suchte: «9 von 10 Franzosen für eine Senkung der Staatsausgaben». Zum einen war diese Aussage so gewonnen worden, dass in der Umfrage zum Stichpunkt «Bewältigung der schwierigen Wirtschaftssituation» die einzige alternative Antwort «Steuererhöhungen» lautete. Zum andern liess der Artikel alle Ergebnisse, die nicht im Sinne der Regierung (oder Dassaults) waren, schlichtweg unter den Tisch fallen. So etwa, dass die Verringerung der Staatsschulden erst an elfter Stelle der Prioritäten der Franzosen stand, dass diese als ersten Posten für etwaige Ausgabenkürzungen die Armee angaben (für einen Rüstungsindustriellen der Gipfel!) und dass sie im Fall von Steuererhöhungen zuvörderst eine Anhebung der Vermögens- und der Gewinnsteuer wünschten (für einen milliardenschweren Grossunternehmer eine Zumutung!).

Der Rechnungshof brachte im Juli 2009 an den Tag, dass etliche dieser Umfragen zumindest teilweise von der Staatspräsidentschaft bezahlt worden waren. Von 35 Umfragen, die sich Sarkozys Equipe 2008 einen siebenstelligen Euro-Betrag hatte kosten lassen, waren 15 im «Figaro», im TV-Sender LCI (einem Ableger von TF1) und in anderen Medien wiederverwertet worden. Auch hier empörte sich die SDR: «Diese Art von Koproduktion fügt der Glaubwürdigkeit der Titel unserer Pressegruppe einen schweren Schaden zu.» Die Zeitung müsse selbst entscheiden, bei welchen Meinungsforschungsinstituten sie was für Umfragen bestelle, welche Fragen sie darin stehen sehen wolle und mit welchen «von Journalisten unabhängig verfassten Kommentaren» sie die Ergebnisse der Erhebungen veröffentlichen wolle.

Die «Umfrageritis» des «Figaro», deren mehr schlecht als recht verstecktes Ziel es ist, als Volksmeinung auszugeben, was die Herrschenden gerne als solche hätten, ist neben der pro-sarkozystischen Propaganda das sichtbarste Ergebnis des von Mougeotte gesteuerten Kurswechsels. Auf medienkritischen Websites wie Acrimed und Arrêt sur images findet sich eine umfangreiche Dokumentation zum Thema. Der inhaltliche Kurswechsel des «Figaro» führt namentlich dazu, dass – wie ein Redaktor klagte – «manche Sujets nunmehr verpönt sind: So ist es zum Beispiel nicht möglich, über Regierungsgegner zu berichten». Die Folge für mich als Leser ist, dass ich dem Blatt nicht mehr traue. Als Quelle ist «Le Figaro» für mich heute weitgehend unbrauchbar. Die einzige verlässliche Information, die ich dem Blatt bei innenpolitischen Themen noch gelegentlich zu entnehmen vermag, ist, dass wenn ein Sujet in seinen Spalten gross aufgemacht wird, es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der aktuellen Kommunikations-Agenda der Regierung steht. So spielt «Le Figaro» die (undankbare) Rolle einer offiziösen Staatszeitung. Nicht von ungefähr geben hiesige Journalisten ihm den Spitznamen «la Pravda» – manchmal mit dem Zusatz: «la Pravda à Dassault».

Mougeotte war zwanzig Jahre lang einer der beiden Bosse von TF1, Europas grösstem privaten Fernsehsender. Dieser gehört Sarkozys Busenfreund Martin Bouygues und rührte bei der letzten Präsidentschaftswahl kräftig die Werbetrommel für den bürgerlichen Kandidaten. Seit er «Le Figaro» leitet, verwandelt Mougeotte diesen in einer Art gedruckte Version von TF1. Das Blatt wird bunt und beliebig, verlegt sich auf Anekdoten, Indiskretionen, «Geschichten aus dem echten Leben» – auf Edel-Klatsch mit human touch. Zwar gibt es noch kein Page Three girl, dafür jedoch zieren die Reise-, Mode- und Gesundheits-Seiten (Stichworte «Badeurlaub», «Bikini» und «Brustkrebs») auffällig oft Fotos von drallen Nackedeis. Ich kann mir lebhaft den pensionierten Provinz-Abonnenten vorstellen, wie er, die Pantoffeln wohlig zum Cheminée hin streckend, über einem Reisebericht zum Thema «Schönheiten der schwedischen Sommerstrände» sinnierend ins Sabbern gerät, während sein Hausdrache am Küchentisch nebenan zwischen zwei gerupften Gänsen zähnefletschend die jüngste Diatribe gegen Wiederholungstäter und laxe Richter liest.

Der Kulturteil endlich, um zum Ausgangspunkt dieses Beitrags zurückzukehren, ist fast völlig ruiniert. «Kultur» wird an diesem Ort nunmehr gleichgesetzt mit «Event», «Spektakel» und «Bestenliste». Wem der Sinn nach solchem steht, findet in Mougeottes «Figaro» alles, was sein Herz begehrt: von den teuersten Tänzern über die reichsten Regisseure und bestbezahlten Bestsellerautoren bis zu den zehn Boulevardtheater-Hits, den zwanzig Hollywood-Blockbustern und den dreissig Carla-Bruni-Chansons, die man sich diesen Winter un-be-dingt zu Gemüte führen muss. Ich meinerseits kann gut ohne derlei Lektüre leben. Ja vielleicht lebe ich seit dem Auslaufen meines letzten «Figaro»-Abonnements sogar besser. . .

Marc Zitzmann