Erfindung des Riesenrads
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- ️Thu Jan 05 2012
Die Frau kannte keine Angst. Als ihre Gondel auf dem höchsten Punkt angelangt war, kletterte die zierliche Person in dem schwarz-goldenen Abendkleid auf einen Stuhl und erhob in 80 Metern Höhe ihr Glas mit Champagner. Mit lauter Stimme rief sie: "Auf das Wohl meines Mannes und den Erfolg des Riesenrades." Unter ihr wanden sich die Straßen von Chicago, in der Ferne glitzerte der Lake Michigan in der Abendsonne.
Die rund 50 anwesenden US-Journalisten, die zur Pressevorführung an jenem 16. Juni 1893 eingeladen worden waren und ebenfalls in der Gondel saßen, achteten nicht auf das atemberaubende Panorama. Sie hatten nur Augen für die Dame mit dem Champagner: Margret Ferris, Ehefrau von George Washington Gale Ferris junior, einem jungen Brückenbauer aus Illinois - und Erfinder des Riesenrades.
Die kleine Party hoch über den Dächern der Stadt krönte ein Prestigeprojekt, an dessen Ende Ferris nicht nur eine der schönsten Jahrmarktsattraktionen überhaupt geschaffen hatte. Dem Baumeister war es auch gelungen, Amerikas Ehre zu retten. Galt es doch, ein Jahrhundertbauwerk wie den Pariser Eiffelturm zu toppen.
"Der Mann mit den Rädern im Kopf"
Der Franzose Gustave Eiffel hatte den 300 Meter hohen Stahlgiganten anlässlich der 1889 in der französischen Hauptstadt stattfindenden "Exposition Universelle" errichtet und die Nationen rund um den Globus mit seinem Meisterwerk verzückt. Vier Jahre später war Chicago mit der Ausrichtung der Weltausstellung dran - und sah sich mit der undankbaren Aufgabe konfrontiert, etwas zu schaffen, das den grandiosen Eiffelturm zu einem mickrigen Blechhaufen schrumpfen lassen würde.
Der Organisator der "Chicago World's Fair", ein ehrgeiziger Architekt namens Daniel H. Burnham, forderte Superlative: "Macht keine kleinen Pläne! Sie haben nicht die Magie, die Menschen zu verzaubern", rief er den Kreativen im Lande zu. Doch niemand reagierte - zu jener Zeit steckten die USA mitten in einer schweren Wirtschaftskrise. Als Gustave Eiffel aus Paris angereist kam und mit dem Plan aufwartete, einen zweiten, noch höheren Turm zu errichten, wurde er brüsk abgewiesen. Mit einer schnöden Kopie wollte sich keiner blamieren.
Schließlich meldete sich ein schlaksiger Ingenieur mit bleichem, resoluten Gesicht zu Wort und schlug vor, eine Art hochkant gestelltes Karussell zu konstruieren: ein gigantisches, mit Dampfkraft betriebenes Rad, das um eine Stahlachse durch die Lüfte kreisen und in seinen Straßenbahnwaggongroßen Gondeln bis zu 2000 Passagiere gleichzeitig befördern würde. Das Organisationskomitee lachte den 33-Jährigen aus, die Zeitungen verspotteten Ferris als "Mann mit den Rädern im Kopf". Viel zu unsicher, zu aufwendig, zu fragil, lautete die Kritik.
Zwischen Bauchtanz und Buffalo Bill
Doch der Brückenbauer ließ nicht locker. Wieder und wieder präsentierte er seine Erfindung. Nachdem er im Dezember 1892 zum dritten Mal mit seinen Plänen angerückt war, gab Organisator Burnham seufzend grünes Licht: In wenigen Monaten würde die Ausstellung eröffnen, bessere Vorschläge gab es nicht.
In Windeseile machte sich Ferris ans Werk, Investoren für sein Projekt zu begeistern, eine "Ferris Wheel Company" zu gründen - und das größte Rad zu drehen, das es bis dato jemals gegeben hatte. Allein 45 Tonnen wog die Achse, 76 Meter lang waren die Speichen. Im Juni 1893 hatte er das Mammutprojekt bewältigt: Das legendäre "Ferris Wheel", auf dem Ausstellungsgelände eingekeilt zwischen ägyptischen Bauchtänzerinnen und der "Buffalo Bill Wild West Show", war startklar.
Hunderttausende Schaulustige strömten zur Premiere am 21. Juni nach Chicago. Um 15 Uhr zog Ferris eine goldene Trillerpfeife aus der Tasche und gab das Signal zur offiziellen Jungfernfahrt. Langsam, mit einem tiefen Ächzen, setzten tausend Pferdestärken das majestätische Rad in Bewegung. Die "Iowa State Band" spielte "America", die Menschen jubelten, an jeder der 36 Gondeln flatterten die "Stars and Stripes"-Flaggen im Fahrtwind.
Höhenzauber und Magendrücken
"Die Vertreter von 20 Nationen starren fassungslos auf den Triumph amerikanischer Ingenieurskunst", jubelte die "Chicago Tribune". Festredner Nelson Miles lobte das Riesenrad gar als Geniestreich, der die sieben Weltwunder lässig in die Tasche stecke.
Die Herkulesaufgabe, den Pariser Eiffelturm zu übertrumpfen, war geglückt: Im Gegensatz zum beweglichen Wunderwerk von Ferris nehme sich der französische Koloss aus "wie ein lebloses Ding", schrieb ein Journalist im Messe-Spezial des "Alleghenian". Und prophezeite dem Erfinder des Riesenrades eine grandiose Zukunft: "Ingenieur Ferris wird für sein kühnes Unterfangen reich entlohnt werden", schrieb die Zeitung. Das Gegenteil war der Fall.
Vier Monate lang erfreuten sich Millionen von Menschen an dem Wechselbad aus Furcht, Höhenzauber, Magendrücken und Entrücktheit, das sie mit Eintritt in die glasverkleideten Gondeln ereilte. Scharenweise beantragten Liebende, hoch über den Dächern Chicagos den Bund der Ehe schließen zu dürfen. Dichter schrieben Elogen und Musiker komponierten Hymnen auf das Riesenrad. Dann, im November 1893, endete die Ära des "Ferris Wheel" abrupt. Die Messe war vorüber, bald darauf wurde das Rad abgebaut und eingemottet.
Verschmähtes Amüsierrad
Obwohl Ferris, gesundheitlich stark angeschlagen, quer durch die Lande reiste, fand er keinen Ort, an dem er seine Erfindung gewinnbringend hätte aufbauen können. Der Börsencrash von 1893 ließ die US-Wirtschaft in Schockstarre verharren: Ende des Jahres mussten 600 Banken schließen und mehr als 15.000 Firmen Konkurs anmelden. Niemand wollte in ein teures Amüsierrad investieren, die "Ferris Wheel Company" schlitterte in eine Krise. Ferris' Plan, einen eigenen Vergnügungspark in Chicago zu errichten, scheiterte am Widerstand der Anwohner.
Während man das Riesenrad in seinem Ursprungsland verschmähte, wuchs der Hunger der Europäer nach der luftigen Attraktion. Bereits während der Weltausstellung reisten Ingenieure aus dem Alten Kontinent nach Chicago, um das Riesenrad zu fotografieren, Skizzen anzufertigen, Proportionen auszuloten.
Da Ferris kein Interesse daran zeigte, seine Erfindung zu exportieren, mussten andere Wege beschritten werden. Ein US-Amerikaner namens James Graydon, der Patente sammelte wie andere Briefmarken, sicherte sich im September 1893 das Patent für ein Riesenrad, das dem von Ferris aufs Haar glich.
Verramscht und in die Luft gesprengt
Die Rechte, so hat es Ferris-Biograf Richard G. Weingardt, recherchiert, verkaufte Graydon an Walter Basset, einen vermögenden britischen Marineoffizier im Ruhestand. Der wiederum machte sich an die Produktion von Riesenrädern im großen Stil: Am 25. Mai 1895 drehte auf dem Londoner Messegelände Earls Court das erste europäische Riesenrad seine Kreise, es folgten Nachbauten in Blackpool (1896), in Wien (1897) und schließlich in Paris (1900).
Zu diesem Zeitpunkt war George Ferris längst tot. Er starb am 22. November 1896, mit nicht einmal 38 Jahren, in einem Krankenhaus in Pittsburgh an Typhus: von seiner schönen Ehefrau Margaret verlassen, einsam und bis über beide Ohren verschuldet. Ein Jahr lang stand die Urne mit seiner Asche herrenlos im Krematorium herum, bevor ein Verwandter von Ferris sich ihrer erbarmte.
Dass seine Erfindung in Übersee so eifrig kopiert werden würde, erlebte der Brückenbauer ebenso wenig wie das grauenvolle Ende des eigenen Riesenrades von Chicago. Nachdem es jahrelang in einem Keller geschlummert und bereits Rost angesetzt hatte, ersteigerte ein Altmetallhändler das "Ferris Wheel" 1903 für den lächerlichen Preis von 1800 Dollar auf einer Auktion. Im Jahr darauf erlebte das Riesenrad ein kurzes Comeback auf der Weltausstellung in St. Louis, Missouri.
Da die mit dem Auf- und Abbau betraute Firma pleiteging, ragten die Stahlspeichen auch nach Ende der Ausstellung noch in die Luft. Bis sich die Anwohner über den klobigen Blickfang beschwerten - und das Riesenrad schließlich in die Luft gesprengt wurde. "Von einer ungeheuren Menge Dynamit in Stücke gerissen, fand das Riesenrad gestern in St. Louis ein schmachvolles Ende", beklagte die "Chicago Tribune" am 11. Mai 1906. Mit einem ohrenbetäubenden Knall fiel der Stahlgigant in sich zusammen.
Von dem ersten modernen Riesenrad der Welt blieb nichts weiter übrig als ein trauriger, zwölf Meter hoher Metallberg. Andernorts setzten die Erben des gigantischen Amüsierrads zu einem weltweiten Triumphzug an, der bis heute anhält. Vom legendären Riesenrad im Wiener Prater über das handbetriebene Holzrad in Bagdad bis hin zum grandiosen "London Eye": einestages zeigt die höchsten, schönsten und skurrilsten Riesenräder der Geschichte.