Flucht aus der DDR
- ️@derspiegel
- ️Mon Dec 21 2009
Eigentlich sollte ich am 18. September 1989 in der Donau treiben - bei 15 Grad Wassertemperatur. Nach einigen Stunden im kalten Fluss hätte ich dann hoffentlich Jugoslawien erreicht. So war Bekannten von mir die Flucht in den Westen gelungen.
Doch alles kam anders. Ich saß in einem klimatisierten Reisebus, gut verpflegt und medizinisch betreut und überquerte um 0.34 Uhr die Grenze zur Bundesrepublik. Der Bundesgrenzschutz begrüßte alle neuen Bundesbürger freundlich - und warf nicht einmal einen Blick in unsere DDR-Personalausweise. Wie alle im Bus konnte ich die Tränen nicht verbergen, als der Grenzübergang hinter uns lag. Es herrschte lähmende Stille. Niemand sprach. Die meisten konnten nicht glauben, auf so einfache und ungefährliche Art in den Westen gelangt zu sein.
Obwohl - einfach und ungefährlich war gar nichts. Meine Flucht hatte ich lange vorbereitet, denn ich ahnte, sie würde kompliziert werden: Im Juli 1989 hatte ich einen Ausreisantrag nach Bulgarien gestellt mit der Begründung, im Geburtsland meiner Frau arbeiten zu wollen. Wie jeder Ausreiswillige musste ich alle beteiligten Stellen mit einem "Laufzettel" für einen Stempel und eine Unterschrift abklappern. Die Mitarbeiter von Post, Bank und Elektrizitätswerk waren ziemlich unfreundlich. Als jedoch klar wurde, dass ich nicht in den Westen sondern in den Osten ausreisen wollte, wurden sie zuvorkommender. Keiner erahnte mein Vorhaben.
Urlaub ohne Urlaubsstimmung
Am Morgen des 6. Septembers fuhr ich zum Flughafen Schönefeld. Ein Urlaubsjet russischer Bauart, eine TU 154 stand zum Abflug nach Varna an der bulgarischen Schwarzmeerküste bereit. Urlaubsstimmung kam bei mir allerdings nicht auf. Ich war froh, als ich den muffigen, mit Tapeten verschönerten Russenjet wieder verlassen durfte.
Im Badeort Albena am Schwarzen Meer traf ich meine Eltern. Sie machten hier Urlaub. Als ich ihnen von meinen Fluchtplänen berichtete, war er jedoch vorbei. Uns allen war klar, dass eine Flucht über Ungarn ein großes Risiko barg. Wir hatten von Flüchtlingen gehört, die an der bulgarischen Grenze erschossen worden waren. Ungarn würde auch nicht sicherer sein. Als ich meine Eltern am Ende ihres Urlaubs zum Zug brachte, wussten wir nicht, wann und ob wir uns je wiedersehen würden. Ich werde den verzweifelten Schrei meiner Mutter nie vergessen.
Am Abend des 15. September trat ich dann - offiziell - meinen Weg zurück in die DDR an, diesmal nicht mit dem Flugzeug sondern per Bahn über Rumänien, Ungarn und die Tschechoslowakei. Es hatte mich viel Überredungskunst gekostet, um am Schalter überhaupt ein Bahnticket zu bekommen. Denn mein Visum hatte einen Flughafenstempel. Schließlich hatte ich Erfolg - und saß im Zug.
Ausstieg vor Budapest
Am nächsten Abend gegen 21 Uhr kam Budapest in Sicht. Doch der Zug stoppte an einem Bahnsteig außerhalb der Stadt. Es erfolgte eine Durchsage auf Ungarisch, die ich nicht verstand. Wie durch eine Eingebung beschloss ich, auszusteigen. Es war die richtige Entscheidung, denn der Zug hielt nicht mehr in Budapest und fuhr direkt weiter in die Tschechoslowakei. Die DDR-Behörden hatten sich mit den Ungarn auf dieses Prozedere geeinigt, damit nicht noch mehr DDR-Bürger auf diese Weise versuchten zu fliehen. Wer den Ausstieg verpasste, fand sich in Prag wieder. Von dort aus ging es dann nur noch in eine Richtung - gen DDR.
Am Bahnsteig sprach mich ein junger Mann an. Er fragte nach Grund und Dauer meines Aufenthalts, und mir schoss sofort durch den Kopf: Der ist von der Stasi! Ich antwortete einsilbig und verließ schnell den Bahnsteig. In der Metro traf ich einen Mann aus dem Zug. Er fragte mich, wohin ich wolle. "Ich weiß nicht", sagte ich nur, und er entgegnete augenzwinkernd, dass wir dann ja zusammen gehen könnten. Wir nahmen ein Taxi zur Bundesdeutschen Botschaft. Die war natürlich um 21.30 Uhr schon geschlossen. Doch es hing ein Zettel im Eingang, der DDR-Bürger in die Kirche in Zugliget, Szarvas Gabor Ut lotste.
In der Straße hatten sich auf den Anbauten einiger Häuser Fernsehteams aufgebaut, sie beobachteten die Szenerie, ich erkannte ARD und ZDF. Trotzdem hatten wir Angst, dass man uns aufhalten könnte und waren froh, als wir endlich durch das Tor auf das Kirchengelände gelangten.
Das konnte nicht wahr sein!
Zwei Mitarbeiter des Malteser-Hilfsdienstes empfingen uns. "Ruhen Sie sich erst einmal aus, und morgen sind Sie schon in Bayern", sagte einer. Das beruhigte uns keineswegs. Machten sie sich über uns lustig? Wortlos drückte mir einer der beiden eine "Bild"-Zeitung in die Hand. Ungläubig starrten wir auf den Titel. Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn war seit dem 11. September offen? In der "FAZ" stand es auch. Wir mussten uns setzen. Wir hatten gerüchtweise im Zug davon gehört, es aber nicht glauben können.
Eigentlich hätte jetzt mein Fluchtplan zu Wasser zum Einsatz kommen sollen. Ich hatte mir hier in Ungarn einen Neoprenanzug kaufen wollen - zum Schutz vor dem eiskalten Wasser der Donau. Meinen Rucksack, in dem ich nur die nötigsten Habseligkeiten und Papiere trug, hatte ich entsprechend präpariert. Mit aufgeblasenen Kondomen wollte ich ihn schwimmfähig machen. Bekannte hatten die Methode bereits getestet und waren auf diese Weise erfolgreich geflohen.
Doch das alles war nun nicht mehr notwendig. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Wir gönnten uns einen Schluck vom bulgarischen Selbstgebrannten. Und wollten schlafen. Vor der Kirche waren Zelte aufgebaut, auch im hinteren Gartenteil hatten schon viele Zelte gestanden. Man konnte die Abdrücke sehen und das Gedränge erahnen, das hier geherrscht haben muss. Ich hatte Glück und ergatterte ein Feldbett in einem der Zelte. Mein unruhiger Schlaf wurde unterbrochen von einer Frau, die nebenan unter einer dünnen Decke fror. Ich lud sie ein, unter meinen dicken Schlafsack zu kommen, und wir sprachen die ganze Nacht über die unglaublichen Ereignisse, die sich um uns herum zutrugen. Es war eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre.
Noch einmal Angst
Am nächsten Morgen sammelten die Mitarbeiter des Malteser-Hilfsdienstes Spenden unter uns Flüchtlingen. Die hellblaue Kinderbadewanne war nach wenigen Minuten bis zum Rand gefüllt. Alle gaben bereitwillig Geld - ungarischen Forint, tschechischen Kronen und sicher auch einige tausend DDR-Mark. Jetzt endlich konnten der Taxifahrer vom Vorabend bezahlt und eine Familie, die tags zuvor nur in Badesachen mit zwei kleinen Kindern durch die Donau geschwommen war, warm eingekleidet werden.
Etwas später halfen wir, unser Lager abzubauen - es wurde nicht mehr gebraucht. Unsere Reise sollte am Nachmittag in Bussen weitergehen. Als wir darin saßen, wurde uns aber noch einmal mulmig - nachdem wir die österreichische Grenze erreicht hatten. Ungarische Grenzbeamte betraten den Bus, um die Ausweise zu kontrollieren - unsere DDR-Ausweise - mit Kalaschnikows im Anschlag. Die Angst kam zurück. Was würde passieren? Ein Offizier rief den Beamten irgendetwas zu, die daraufhin freundlich grüßend den Bus verließen.
Wir fuhren langsam weiter und starrten ungläubig auf die immer näher rückende Grenze und die zurückschlendernden Grenzer. Der Bus fuhr ohne Stopp einfach durch.
Nur ein Scherz?
"Willkommen in Österreich". Ein Jubelschrei ging durch den Bus, wildfremde Menschen lagen sich weinend in den Armen. Wir konnten unser Glück kaum fassen und erwarteten wahrscheinlich jederzeit einen DDR-Grenzer, der die ganze Sache mit einem "Das war nur ein Scherz" beendete. Stattdessen wurden während der ersten Rast an der Autobahn Lebensmittel und Kleidung verteilt. Nach einigen Stunden erreichten wir das Auffanglager Freilassing in Oberbayern. Endlich konnte ich meine Eltern über die geglückte Flucht informieren - wenn auch nur auf Umwegen, denn sie selbst hatten kein Telefon, und ein Gespräch in die DDR musste damals noch angemeldet werden.
Nach den Formalitäten wie etwa dem Ausfüllen der Aufnahmeanträge für die Bundesrepublik reiste ich am nächsten Morgen weiter ins oberpfälzische Weiden. Für die ersten Tage kam ich bei einer Freundin aus Gera unter, die den Geburtstagsbesuch bei ihrer Großmutter zur Flucht genutzt hatte. Danach wohnte ich vorübergehend in der dortigen Bundeswehrkaserne. Die Soldaten waren äußerst freundlich und hilfsbereit. Sie umsorgten uns so, als wären wir abgemagert aus einem Entwicklungsland gekommen. Schließlich verbrachte ich noch einige Wochen im Sudetendeutschen Hilfswerk in Stadlern, einem kleinen Dorf in der Oberpfalz. Nach einem Zwischenstopp in Tübingen gelangte ich Anfang November 1989 nach Hamburg, wo ich bis heute lebe.
Der 18. September 1989 wird für mich - wie sicher für viele, die an diesem Tage das mörderische System der DDR hinter sich gelassen haben - lebenslang so etwas wie ein zweiter Geburtstag bleiben.