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Der Tod aus Ingelheim

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  • ️Sun Aug 04 1991

Hanhs Mutter hat ihre Tochter aus der Küstenprovinz Go Cong nach Saigon begleitet. Nachts liegt sie bei ihr im Bett, tags besorgt sie Lebensmittel und kocht. Sie verkauft ihre Mahlzeiten an Co Thi Ren und andere Patienten, für die keine Verwandten kochen.

Zu Hause in ihrem Dorf hätten zwei junge Frauen dieselbe Krankheit gehabt, erzählt sie. Von der Ärztin will sie wissen, wann sie ihre Tochter wieder mit nach Hause nehmen könne. Sie müsse bald zurück. Die Reisernte! Phuong lächelt zuversichtlich. »Bald!«

Wenn die Ärzte sehen, daß es zu spät ist, schicken sie die Krebskranken nach Hause. Zwar konnte Hanhs Lähmung mit Cyclophosphamid gemildert werden, aber das Medikament ist aufgebraucht.

Im Geburtsjahr von Hanh, 1967, plagte die Kommandeure der U. S. Army vor allem eine Sorge: Woher noch mehr 2,4,5-T-Säure nehmen, um noch mehr Landstriche Vietnams entlauben und entvölkern zu können? »Die beste Waffe, die wir haben, aber wir können nicht genug kriegen«, heißt es in einem Papier des U. S. Military Assistance Command in Vietnam. Jeder »tactical commander« bewundere die Wirkung dieser Waffe und frage nach größeren Mengen.

Verteidigungsminister Robert Mac-Namara ordnet an, mit den Planungen für den Bau einer eigenen Giftfabrik der Army zu beginnen.

Im April 1967 wird die gesamte jährliche T-Säure-Produktion der USA durch die Militärs beschlagnahmt. Zusätzlich zapft die Army ausländische Quellen an. Da auch das bei weitem nicht reicht, um den Bedarf von inzwischen jährlich 45,2 Millionen Litern zu decken, versucht Dow Chemical, den Strategen der Army Ersatzgifte zu verkaufen.

Das Mittel »Tordon 101«, das keine T-Säure enthält, töte zu langsam und sei »weniger zerstörerisch«, finden die Pentagon-Tester vom Department für chemische, biologische und nukleare Operationen. Und »Super Orange«, das weniger T-Säure braucht als Agent Orange, habe zwar bei Tests in Puerto Rico »wegen seiner langanhaltenden Wirkung überzeugt«, müsse aber erst noch in Vietnam ausprobiert werden.

Dow Chemical wendet sich an die Firma Boehringer in Ingelheim, bittet um Hilfe. Die Deutschen schreiben zurück, man sei mit »einer Erweiterung des Abkommens vom 19. März 1965 einverstanden«, weise aber darauf hin, daß bereits eine andere US-Firma »die Anfrage nach unserem Know-how für den gleichen Regierungszweck« gestellt habe.

Diese schwierige Gewissensentscheidung läßt man, wie zwischen ehrlichen Geschäftspartnern üblich, das Geld treffen: Dow werde die Hilfe und das Wissen der Deutschen erhalten, »wenn Ihre Vorschläge für eine Abfindung für die zusätzlichen Mengen für die Regierung, vor allem aber für den Fall, wenn diese zusätzlichen Mengen später für Handelszwecke zum Einsatz kommen, annehmbar sind«. Auf deutsch: Für die zusätzlichen Kriegsmengen wollen wir einen Aufschlag, und wenn die nicht in Vietnam versprüht werden, wollen wir einen Auf-Aufschlag.

Zufrieden heißt es zwei Wochen später in einem hausinternen Bericht an den Produktionschef: »Solange der Vietnamkrieg andauert, sind keine Absatzschwierigkeiten zu erwarten.«

Nach dem Krieg wird Boehringer erklären, man habe nicht zur Entlaubungsaktion in Vietnam beigetragen. »Wir sind nicht für die Entscheidungen der amerikanischen Armee verantwortlich.« Niemand könne eine Aussage darüber machen, wird der Leiter des Hamburger Werkes versichern, »wohin Produkte gelangen, die im Weltmarkt vertrieben werden«. Boehringer dürfe ruhigen Gewissens behaupten, »die U. S. Army in Vietnam zu keinem Zeitpunkt auf direktem Wege beliefert zu haben«. Diese Gewissenhaftigkeit haben deutsche Unternehmer immer wieder, zuletzt im Nahen Osten, bewiesen.

»Mit großer Betroffenheit« habe er erst Jahre nach seiner Tätigkeit bei Boehringer von Agent Orange erfahren, sagt Richard von Weizsäcker, damals Geschäftsführer und Mitinhaber, heute. »Inwieweit und wann anderen in der Firma die Tragweite eigener Produktionsvorgänge bekannt wurde, die erst bei anderen Firmen zur Herstellung der einschlägigen Mittel dienten und deren Folgen durch den Einsatz der sogenannten Entlaubungsmittel erst allmählich offenbar wurden«, darüber wisse er nichts zu sagen.

Während des Krieges in Vietnam, als immer mehr Kessel bei Boehringer dampfen, als alle Produktionsrekorde purzeln, als Tausende Tonnen Tetra-, Tri- und T-Säure auf dem vollkommen unübersichtlichen Weltmarkt zwischen Saigon und Hanoi versickern, möchte einer von Boehringers Direktoren »die derzeitige günstige Verkaufssituation ausgenutzt« sehen, »um die Qualitätsforderungen aufzulockern«.

Harri Garbrecht, 54, kann sich erinnern, daß »die Amerikaner« sich dennoch beschwerten über die Qualität der neuen Ware. »Wenn in der T-Säure zuviel Dioxin drin war, wurde es einfach der Produktion wieder zugeführt, also quasi verdünnt, da wurde nichts weggeworfen.«

In Garbrechts Abteilung, aber auch in der Tetra-Station und der thermischen Zersetzung fliegt wegen des Booms noch mehr Dioxin-Staub durch die Hallen. Manchem Arbeiter reichen die zwei Kopfschmerztabletten pro Schicht nicht mehr, die sich jeder beim Pförtner abholen darf. Kollegen aus kopfschmerzfreien Abteilungen werden vorgeschickt und tauschen ihre Pillen anschließend gegen Bier.

Von »erheblichen gewerbehygienischen Belästigungen« berichtet der Produktionsleiter dem Vorstand in Ingelheim. »Die Belastung für die Belegschaft« sei »so unhaltbar geworden«, daß »ein Neubauprojekt im wesentlichen mit dem Ziel einer hygienisch vertretbaren Arbeitsweise« nötig sei. Das wird »wegen der Höhe seiner Investitionskosten« abgelehnt.

Personalvorstand Richard von Weizsäcker verläßt am 1. Juni 1966 die Firma C. H. Boehringer Sohn. Sein Förderer Ernst Boehringer ist, im Alter von 68 Jahren, gestorben und damit für Weizsäcker die Aussicht, Firmenchef werden zu können. Die Nachkommen drängen auf einen Nachfolger aus dem Kreis der Familie.

Richard von Weizsäcker zieht als Rechtsanwalt nach Bonn, wird Bundesvorstandsmitglied der CDU und Kirchenfunktionär. Er leitet als Präsident die Kirchentage in Hannover ("Der Friede ist unter uns") und in Stuttgart ("Hungern nach Gerechtigkeit"). Dort, 1969, appelliert er an die Gläubigen, neue Antworten zu suchen auf die »Bedrohung des Lebens durch Vernichtungswaffen«.

Im Dezember desselben Jahres bekräftigt die Vollversammlung der Vereinten Nationen, aufgeschreckt durch alarmierende Berichte über Totgeburten in Vietnam, daß Herbizide zu den durch die Genfer Konvention geächteten chemischen Waffen zählten. Amerikanische Regierungsvertreter erklären, daß dieser Beschluß nicht die internationale Meinung widerspiegele und die Vollversammlung sowieso Fragen des internationalen Rechts nicht per Mehrheit entscheiden könne.

Vietnamesische Zeitungen veröffentlichen Bilder von totgeborenen und gräßlich mißgebildeten Babys, von Kindern ohne Augen, ohne Nase, von Kindern mit Wasserköpfen und Gesichtsspalte. In den besprühten Gebieten war die Zahl der Mißgeburten um mehr als das Zehnfache gestiegen.

Bei Mäusebabys versiebenfache die T-Säure das Auftreten von Mißbildungen, findet die Forschungsabteilung von Boehringer heraus. »Zur Absicherung des Werkes Hamburg gegenüber eventuellen Schadensersatzansprüchen aus dem Kreis der Belegschaft« solle die Personalkartei durchgesehen werden, nach möglichen Parallelen. »Diese Untersuchung sollte rein intern und ohne Beunruhigung der Belegschaft erfolgen.«

Da das Krebsforschungszentrum der USA bei Rattenversuchen feststellt, daß 2,4,5-T Fehlgeburten und Mißbildungen auslöst, und Präsident Richard Nixon die U. S. Army sowieso langsam aus Vietnam zurückziehen will, wird den enttäuscht murrenden Militärs der Hahn zugedreht. Am 7. Januar 1971 steigt zum letztenmal ein Sprüh-Flugzeug in den Himmel über Vietnam.

Bis zum Ende dieses zweiten großen Chemiewaffen-Einsatzes der Geschichte sind 91 Millionen Kilogramm Herbizide versprüht. Eine Fläche von der Größe Israels war verseucht und blieb es. In den stärker besprühten Landstrichen, wie etwa in Co Thi Rens Provinz, waren auf jeden Einwohner 15,9 Liter dioxinhaltige Säure gefallen.

Das tote Holz könne zu Holzkohle verarbeitet werden, schlägt das Headquarter der Air Force in seinem Auswertungsbericht vor. Das Land sei nun gründlich gesäubert, zu einem Hektarpreis von elf Dollar. »Was im Moment wie eine vollkommen zerstörerische Aktion erscheint«, so trösten die Militärs, »dürfte sich für das Volk von Vietnam tatsächlich als wertvolle Investition erweisen.«

Was für die Generäle nichts weiter war als die kostengünstige Desinfektion einer Nation, erweist sich für die internationale Chemie als aufschlußreicher Großversuch. 10 Millionen Menschen auf 2,2 Millionen Hektar mit 15 verschiedenen Herbizid-Cocktails zu besprühen, das bringt viele neue Erkenntnisse.

Nach dem lauten Ende des neunjährigen, ungestörten Experiments fürchten die beteiligten Chemieunternehmen allerdings, daß diese Erkenntnisse in die falschen Hände geraten beziehungsweise die falschen Leute die richtigen Konsequenzen ziehen.

Seit Boehringer 1956 das Dioxin entdeckt hatte, war es den Chemiefirmen gelungen, das Wissen über die giftigste Substanz, die Menschen je geschaffen haben, der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Angesichts der Bilder aus Vietnam befürchten die Hersteller Fragen nach dem Gift in der 2,4,5-T-Säure.

Dow Chemical belebt deshalb die deutsch-amerikanische Freundschaft und schlägt Boehringer im April 1971 vor: »Die Kooperation kann beiden Firmen helfen, die Opposition gegen die 2,4,5-T-Säure zu besiegen.« Wie Generäle ziehen die Manager Bilanz. Boehringer nimmt zur Kenntnis, daß »die bei Dow installierte Kapazität nach Wegfall der Regierungsaufträge zur Zeit mit nur 50 Prozent ausgelastet werden kann«. Der Krieg ist zu Ende. Boehringer beklagt den »Ausfall von Watkins«, seinem neuseeländischen Großabnehmer, und sieht für 2,4,5-T »auf Sicht nur noch geringe Verkaufsmöglichkeiten« und einen »spürbaren Erlösverfall für T-Säure«.

»Die Kampagne gegen den Einsatz der T-Säure verflacht sich«, heißt es bald darauf in einem Boehringer-Papier.

Erst das Unglück von Seveso bringt dem Mega-Gift 1976 die verdiente Popularität: Die Öffentlichkeit entdeckt - 20 Jahre nach seiner Entdeckung - voller Entsetzen das Dioxin.

Doch erst als zwei Jahre später ein Amerikaner im Fernsehen erklärt: »Ich starb in Vietnam, aber ich wußte es nicht«, beginnt das letzte, wenn auch noch nicht abgeschlossene Kapitel dieser häßlichen, verschlungenen, langen Geschichte.

Paul Reutershan heißt der Vietnam-Veteran, der seinen Magen- und Darmkrebs auf die Vergiftung durch Agent Orange zurückführt. Als Hubschrauber-Pilot mußte er oft durch die Herbizid-Schwaden fliegen.

Sein Aufschrei findet in den USA ein 200 000faches Echo: So viele Veteranen melden Entschädigungsansprüche an. Die Liste der rund 140 Leiden, die sie dem Agent Orange anlasten, reicht von Appetitlosigkeit über Hautkrebs bis zu Chromosomen-Schäden.

Selbst wenn unter den Leidenden der eine oder andere sein mag, der nie mit Agent Orange in Berührung gekommen war, so scheint doch nun eine Erklärung dafür gefunden, warum viele von den jungen Männern, die man als die kräftigsten und gesündesten ihrer Generation in den Krieg schickte, seit ihrer Rückkehr zu den Kranken und Gebrechlichen gehören.

Das Dioxin, einmal in das Fettgewebe und die Leber eingedrungen, vergiftet jahrelang den ganzen Körper, schädigt über die Blutbahn viele Organe, tötet Helferzellen im Blut, schwächt das Immunsystem. Blutkrebs, Gelbsucht, Chlorakne, chronischer Durchfall, Nierenversagen, Nervenkrankheiten - die Gebrechen dieser Armee von Dioxin-Kranken sind unübersehbar, obwohl die Amerikaner eigentlich an Vietnam nicht erinnert werden möchten.

Seit dem Ende des Krieges hatte die Veterans Administration, für die ärztliche Betreuung zuständig, die Kranken wie Simulanten behandelt. Ob man sich Ketchup in den Urin geschüttet habe, wurden Soldaten mit Blut in der Harnprobe gefragt. Ob man vor dem Krieg in einer chemischen Fabrik gearbeitet habe, fragten die Ärzte, wenn bei Blutproben Dioxin und andere Substanzen gefunden wurden.

Als 1979 eine grobe Schätzung des besorgten amerikanischen Bundesrechnungshofes ergibt, daß allein im Militärbezirk I, also dort, wo Michael Landesman lag, über 40 000 Marines in den giftigen Regen gekommen waren, werden die Leiden ernst genommen.

10 oder 15 Jahre nach ihrem Einsatz in Vietnam beginnen Soldaten wie Arthur Adams, Paul Sutton oder Truman Gleason zu begreifen, daß sie aus dem Dschungel mehr mit nach Hause gebracht haben als unruhigen Schlaf und schlechte Erinnerungen.

Arthur Adams leidet zunächst nur unter Magenschmerzen und ständiger Übelkeit. Dann beginnen Afterblutungen. Die Leber entgiftet nicht mehr genügend Blut. Adams bekommt obendrein Diabetes. Er sitzt nur noch zu Hause im Stuhl und liest. Die Schmerzen im Unterleib sind chronisch. Nach zehnjährigem Martyrium stirbt er 1989 an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Seine Witwe Mary Ann Adams findet heraus, daß das Wasserreservoir von Long Binh - dort war Adams in Vietnam stationiert - durch große Mengen Agent Orange verseucht war.

Nach zweijährigem Vietnam-Einsatz wird Paul Sutton Vater von drei behinderten Kindern: Ein Sohn kommt ohne Geschlechtsorgane zur Welt; ein anderer stirbt 93 Tage nach der Geburt an seinen Mißbildungen; der dritte ist geistig behindert. Bei etwa 4000 Kindern von US-Soldaten wird Agent Orange als Ursache von Mißbildungen angenommen.

Truman Gleason, mit dem Orden für Scharfschützen dekoriert, entdeckt eines Tages einen Knoten am Hals. Diagnose: Non-Hodgkin-Lymphom. Inzwischen greift der Krebs die Knochen an. In beiden Hüften hat Gleason ein Gelenk aus Plastik.

Die Empörung darüber, daß amerikanische Generäle Amerikaner behandelt haben, als wären sie Vietnamesen, bringt den ansonsten ungeliebten Vietnam Veterans breite öffentliche Unterstützung. Die Dioxin-Opfer verklagen jene Chemiefirmen, die das Agent Orange geliefert haben.

In großer Not - eine Schadensersatzforderung von 45 Milliarden Dollar wird erwartet - wendet sich Dow Chemical an Boehringer. Die Deutschen sollen bezeugen, »daß die US-Regierung zum Zeitpunkt der Bestellung von Agent Orange denselben Kenntnisstand über die T-Säure und ihren Gehalt an TCDD hatte wie die chemische Industrie«.

Der Hamburger Werksleiter von Boehringer beklagt in seiner Stellungnahme, daß »die Regierung heute von all dem nichts mehr wissen will«. Die Entscheidung zum Einsatz von Agent Orange sei schließlich »unmittelbar im Weißen Haus« zustande gekommen. »Daß diese Entscheidung auf so hohem Niveau fiel, läßt nach Dow vermuten, daß man sich über die kritische Nähe der Worte ,Chemikalien'' und ,Kriegsführung'' bewußt war.«

Paul Reutershan, der Soldat, der als erster die Schlacht gegen das Dioxin-Kartell aufnahm, stirbt an Krebs, bevor sein Prozeß gegen Dow Chemical und andere eröffnet wird.

Seine Kriegskameraden einigen sich im größten Entschädigungsverfahren der amerikanischen _(* 1968 in Vietnam, 1991 vor seinem Haus ) _(in Glenns Falls (New York). ) Geschichte mit den Chemiefirmen auf die Zahlung von 180 Millionen Dollar. Das macht die 14 000 Kläger nicht reich, die Chemiefirmen aber glücklich: Sie lassen sich im Vergleich bescheinigen, daß die Leiden der Veteranen nicht durch Agent Orange verursacht seien. Das Dioxin ist vorerst freigesprochen.

Den Chemiefirmen geht es längst um mehr als um Vietnam und eine Handvoll Dollar. Wenn Dioxin schuldig gesprochen wird, Krebs zu verursachen, dann wäre das der Ruin nicht nur der chemischen Industrie: Dioxin ist »omnipotent«, wie eine Kommission des amerikanischen Kongresses schreibt.

So praktisch es war, ein Land zum Labor und ein Volk zum Kaninchen zu machen, so heimtückisch sind nun die Laborberichte. Präzise wie deutsche Vernichtungsbürokraten haben die Militärs jeden der 9495 Sprüheinsätze protokolliert. Deren Wirkung auf die Reisbauern läßt sich statistisch nicht erheben, die haben andere Sorgen, aber was die US-Soldaten abbekommen haben, ist zu ermitteln: Ihre Bodenbewegungen sind in den Truppenberichten dokumentiert, ihre Gebrechen speichert die Veteranen-Behörde.

Diese einmalige Gefahr für die Chemie, diese einmalige Chance für die Medizin löst einen einmaligen Krieg um die Wahrheit aus, bei dem es vor allem um Fälschungen geht.

Wahr ist bis jetzt nur, daß Vietnam-Veteranen häufiger an bestimmten Tumoren sterben als andere Amerikaner im gleichen Alter. Verschiedene Studien über Kriegsteilnehmer aus Massachusetts, West Virginia, Wisconsin und Washington belegen eine erhöhte Rate von Non-Hodgkins-Blutkrebs und Soft-Tissue-Sarkom. Diese Studien erhoben die Bundesstaaten; Studien der Army oder der Veterans Administration kommen zu weniger eindeutigen oder entgegengesetzten Ergebnissen.

Die Army findet bei den 1200 Soldaten, die das Agent Orange persönlich über Vietnam versprühten, erst in einer zweiten Studie erhöhte Krebsraten und mehr mißgebildete Kinder als üblich, nachdem ein Senator die erste Studie »eine Fälschung« genannt hatte. Die beteiligten Wissenschaftler gaben zu, vorher unter Druck gesetzt worden zu sein.

Als daraufhin auch ältere Studien überprüft werden, die die Ungefährlichkeit von Dioxin behauptet hatten, entdeckt man, daß mindestens zwei wichtige Untersuchungen manipuliert sind: die Studien über die Folgen der Dioxin-Unfälle 1949 bei Monsanto in Nitro (USA) und 1953 bei der BASF in Ludwigshafen.

In den Erhebungen waren vergiftete und nicht vergiftete Arbeiter so lange vertauscht worden, bis die Raten der Krebstoten in beiden Gruppen annähernd gleich waren.

1982 verfügt der amerikanische Kongreß, die Agent-Orange-Studie der verschlafenen Veterans Administration zu entziehen und der Gesundheitsbehörde (CDC) zu übergeben.

Die CDC, von Ronald Reagans Sparkommissaren stark bedrängt, zeigt in den folgenden vier Jahren wenig Neigung, dem Präsidenten durch folgenschwere Forschungsergebnisse Schwierigkeiten zu machen.

Für Reagans Administration sind die Dioxin-Soldaten »eine der sensibelsten Angelegenheiten der achtziger Jahre«, da eine Anerkennung ihrer Ansprüche auch zivile Dioxin-Opfer in die Lage versetze, Entschädigungen zu bekommen. »Enorme finanzielle Folgen, bis zu Hunderten von Milliarden Dollar«, prophezeit das Office of Management and Budget (OMB) 1983 in einem Memorandum an den Präsidenten. Deshalb sei es enorm wichtig, »daß wir unsere Haltung und Reaktion organisieren«.

Die Agent Orange Working Group des Weißen Hauses und das OMB nehmen in den folgenden Jahren Einfluß auf Agent-Orange-Studien, so auch auf die schon erwähnte manipulierte Untersuchung der Air Force.

Als die Gesundheitsbehörde (CDC) im Juli 1986 Veteranen auf Dioxin im Blut untersuchen will, schlägt das OMB Alarm und ermutigt in einer Anweisung den CDC-Direktor, vorsorglich klarzustellen, »daß ein bestimmter Dioxin-Gehalt im Blut weder Auskunft über die Ursachen der Vergiftung noch über den Zusammenhang von Vergiftung und Erkrankung gebe«.

In der Erforschung der vergifteten Soldaten zeigt die CDC bis dahin erstaunliche Zurückhaltung. Der Ansprechpartner der Forscher im Pentagon, Lieutenant Colonel Richard Christian, bombardiert die Wissenschaftler mit 300 000 Meldungen über Truppenbewegungen, 23 000 Berichten über Sprüheinsätze, mit 800 Tonnen Kriegsgeschichte.

Den CDC-Leuten ist das stets zu wenig, sie kritisieren die Lücken, die das Material läßt.

Christian liefert immer detailliertere Unterlagen, die zeigen, welche Einheiten besonders viel und welche kein Agent Orange abbekommen haben.

Die GIs des Base Camps Phuoc Vinh hatten beispielsweise 742 Giftregentage in vier Jahren; in der Nähe lebte Co Thi Ren. Chu Lai, wo Michael Landesman stationiert war, kam auf 272 Sprühtage.

Doch die CDC verändert die Kriterien ihrer Studie immer weiter, »bis schließlich möglichst wenig besprühte Soldaten übrigbleiben«, wie Christian vermutet. GIs, die länger als sechs Monate im Kampf waren, sind ebenso ausgegrenzt wie solche, die bei Unfällen in heftige Dioxin-Schauer gerieten.

Richard Christian, 25 Jahre Soldat in Korea und Vietnam, Träger des Tapferkeitsordens Purple Heart, inzwischen Chef von 73 Männern, die damit beschäftigt sind, die CDC mit Informationen zu füttern, gewinnt den Eindruck, daß die Angestellten der Gesundheitsbehörde »nicht wollen, nicht können, nicht dürfen«.

Ende 1985 erklärt die CDC die Studie, auf die Hunderttausende Dioxin-Opfer warten, für gescheitert. Die Behörde macht »die schlechte Qualität« der Daten verantwortlich. Es sei nicht möglich, aus ihnen die tatsächliche Berührung der Soldaten mit Agent Orange zu ermitteln.

Das Institute of Medicine (IOM) kommt nach Durchsicht der Pentagon-Daten zur entgegengesetzten Auffassung und kritisiert, daß die CDC ihre Untersuchung falsch begrenzt habe.

Der Bericht des IOM geht auf dem Weg ins Weiße Haus irgendwie und irgendwo verloren. Verteidigungsminister Caspar Weinberger beauftragt zwei hohe Militärs, das Urteil der CDC zu überprüfen. Der eine Prüfer wird kurz darauf überführt und verurteilt, »sexuelle Bestechung« angenommen zu haben, um einer Soldatin die militärische Laufbahn zu ebnen.

Der andere, Major General John E. Murray, letzter Militärattache in Saigon, liefert nach fünf Monaten Untersuchung einen launigen, 100seitigen Bericht, der mit der bedauernden Feststellung beginnt: »Vietnam wurde nicht als epidemiologisches Labor angelegt.«

Er habe sechs Bände mit Studien gelesen, schreibt der General, »beginnend mit einer deutschen Studie von 1957«, um etwas über die Giftigkeit der Herbizide zu erfahren. In Südostasien seien sie »hochgeschätzte Kriegswaffen« gewesen, wenn auch »zweischneidige Schwerter«. Die Propaganda des Gegners spreche von 1500 Toten und 1,5 Millionen Vergifteten. Wenn sich eine giftige Wirkung der Herbizide herausstelle, dann »könnte das Uncle Sam in große Schwierigkeiten bringen«. Murray lobt die Arbeit von Christians Datensammlern, _(* 1983 auf einer Versammlung der ) _(Veteranenvereinigung »American Legion«. ) sie sei von »unschätzbarem Wert«. Die Daten würden seiner Meinung nach ausreichen, um die Studie der CDC fertigzustellen, aber als Nichtwissenschaftler fühle er sich nicht kompetent, die Einwände der Wissenschaftler zu tadeln.

Im Oktober 1987 fordert das Weiße Haus die Gesundheitsbehörde auf, die bis dahin 43 Millionen Dollar teure Studie zu stoppen.

Im August 1990, nach zwei Hearings und 14monatiger Ermittlung, verurteilt der Regierungsausschuß des Repräsentantenhauses den Vorgang als »einen Fall von unsauberer Wissenschaft und politischer Manipulation«.

Die CDC-Studie sei vom Weißen Haus »kontrolliert und behindert« worden. Das Weiße Haus habe Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen den Krankheiten der Vietnam-Solda ten und Agent Orange »unterdrückt«, da die Reagan-Administration »Entschädigungen bei militärischen und zivilen Vergiftungsfällen« verhindern wolle.

9 der 15 Republikaner im 39köpfigen Regierungsausschuß tragen dieses Urteil mit.

Der Kampf ums Dioxin ist nicht zu Ende: Zwei Veteranenverbände, American Legion und Vietnam Veterans of America, haben inzwischen die Vereinigten Staaten und ihre CDC verklagt, die unendliche Studie doch noch zu beenden.

Richard Christian hat die Front gewechselt. Er dient der American Legion mit seinem Know-how. »Wenn wir uns nicht um unsere Veteranen kümmern, wer wird dann den nächsten Krieg führen?« gab er immer zur Antwort, wenn man ihn nach dem Grund seiner sturen Spurensuche fragte. Als der nächste Krieg gekommen war, hatten der Präsident und alle Abgeordneten beider Häuser ein Einsehen: Drei Wochen vor Beginn der Bodenoffensive am Golf wurde einstimmig ein Gesetz beschlossen, das zumindest den 2350 Veteranen, die an Chlorakne, Non-Hodgkins-Krebs oder Soft-Tissue-Sarkomen leiden, eine Rente zusichert.

Der Präsident sei begeistert von diesem Gesetz, hieß es in der Kongreß-Debatte, man wolle so »den Truppen am Golf die Botschaft zukommen lassen, daß man die Versprechen ihnen gegenüber genauso halten werde«.

Herbizide und Dioxin seien allerdings nicht verantwortlich für die Leiden der Veteranen. Die National Academy of Science wurde mit einer Studie beauftragt.

»Sie warten darauf, daß wir tot sind«, sagt Michael Landesman lächelnd. Da sein Blutkrebs kein Non-Hodgkins-Lymphom ist, sondern ihm nur ähnelt, muß er abwarten, ob sein Krebs nach Ende der Studie offiziell als Kriegskrebs anerkannt wird.

Bisher bekommt Landesman monatlich 71 Dollar Rente, wegen »posttraumatischer Ausfallerscheinungen«, wie ihm die Veterans Administration geschrieben hat. »America is No. 1 - Thanks to our Veterans« steht neuerdings auf den Briefen der Behörde.

Die Frage nach Entschädigung versteht Co Thi Ren zuerst gar nicht, dann antwortet sie, nein, sie wisse noch nicht, wie sie das Geld für das Krankenhaus aufbringen solle, aber ihr Mann habe begonnen, zusätzlich Erdnüsse anzubauen.

120 Mark Werksrente bekommt Harri Garbrecht von Boehringer; 75 Mark davon seien eine freiwillige Zahlung des Unternehmens, hat ihm die Firmenleitung geschrieben, »die jederzeit gestrichen werden kann«.

»Wir sind versichert, wenden Sie sich an die Berufsgenossenschaft«, hörte _(* 1984 vor dem Gerichtsgebäude, in dem ) _(über die Klage von Agent-Orange-Opfern ) _(gegen amerikanische Chemiefirmen ) _(verhandelt wird. ) Garbrecht, als er Boehringer wegen seiner Dioxin-Gebrechen verklagen wollte. Seine Versicherung verweigerte den Rechtsschutz, weil »der kausale Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Arbeit bei Boehringer schon seit 1962 bestehe, der Versicherungsschutz aber erst seit 1965«.

Garbrechts Kollegen Joachim Voß, seit neun Jahren ohne Kehlkopf, sagte man bei der Berufsgenossenschaft: »Daraus wird nichts«, als der ärztliche Gutachter seinen Krebs dem Dioxin zuschrieb. Seit fünf Jahren hört Voß, wenn er sich nach dem Stand seines Falls erkundigt: »Noch ein bißchen Geduld, bitte!« Daß Dioxin Krebs erregt, bestreitet die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie bisher. Die »statistische Signifikanz« fehle: Es sind noch zuwenig Arbeiter, die mit Dioxin hantierten, an Krebs gestorben.

Nun gibt es genug Krebstote: 115 bei Boehringer in Hamburg. Der Arbeitsmediziner Professor Alfred Manz hat sie ausfindig gemacht. Finanziert vom Hamburger Senat und unterstützt von detektivisch begabten Mitarbeitern, auch ehemaligen Boehringer-Arbeitern, erforschte Manz die Todesursache aller bisher verstorbenen Boehringer-Beschäftigten. Ein Drittel hatten Krebs.

Die Firmenleitung und die Berufsgenossenschaft boykottierten anfangs die Untersuchung, so daß Manz über Friedhöfe, Sterberegister und 400 Interviews dem Tod auf die Spur kommen mußte. Erst kurz vor Abschluß seiner Untersuchung erhielt er von Boehringer eine Personalliste.

Die in der Bundesrepublik einzigartige Studie, die im Herbst vom Hamburger Senat veröffentlicht wird, zeigt, daß Arbeiter, die 20 Jahre bei Boehringer beschäftigt waren, doppelt so häufig an Krebs erkranken wie andere Deutsche. Besonders diejenigen, die in Harri Garbrechts T-Säure-Abteilung den hohen Dioxin-Mengen ausgesetzt waren, zeigen eine »deutliche Übersterblichkeit« von 240 Prozent.

Die Selbstmordrate ist um 62 Prozent überhöht.

Da Dioxin etwa 20 Jahre braucht, um im Körper Krebs wuchern zu lassen, gibt die Studie zu bedenken, daß für die »jüngeren« Boehringer-Jahrgänge erst »im Verlaufe der nächsten Jahre mit einem weiteren Ansteigen der Krebshäufigkeit zu rechnen« sei. Manz und seine Mitarbeiter erforschen nach den toten nun die lebenden 1200 Boehringer-Arbeiter. Leberschäden, Bronchitis, Herzinfarkt, Hirnschrumpfung, Depression - die Liste der Leiden verspricht kein schnelles Ende.

Erbschäden stehen auch auf dieser Liste, verdächtige Zufälle wie die unheilbare Darmerkrankung, die Garbrechts Tochter 1964 mit auf die Welt brachte.

»Sie sind ja verrückt«, hört Harri Garbrecht gelegentlich von Krankenschwestern, denen er verbissene Vorträge über das Teufelszeug namens Dioxin hält. Wer würde an seiner Stelle nicht verrückt werden?

Eine Bombe wollte er gelegentlich bei Boehringer legen, aber als Garbrecht vor zwei Monaten, am Tag der offenen Tür, seinem seit 1984 verschlossenen Arbeitsplatz gegenübersteht, spürt er so etwas wie Mitleid. Das Unternehmen will zeigen, wie sorgfältig es die vergiftete Fabrik zertrümmert.

Jedes Rohr wird in kleine Ringe zersägt, belasteter Boden ausgehoben, jede Maschine zerlegt und (fast) alles darin befindliche Dioxin in einer gigantischen Anlage bei 1200 Grad zerstört. So einfach wie im Backofen, sagt der Fremdenführer. »Backpulver«, murmelt Garbrecht.

Harmlos wie Backpulver war 1962 angeblich die T-Säure, Dioxin machte nur Pickel. Heute warnt das Umweltbundesamt vor 0,000 000 000 001 Gramm Dioxin; das sei die gerade noch tolerierbare tägliche Belastung je Kilogramm Körpergewicht. Doch jeder Deutsche, auch Harri Garbrecht, nimmt inzwischen jeden Tag fast das Doppelte auf; ein Säugling das 80- bis 90fache. In der Muttermilch, in der Milch, im Fisch, in Computern, auf Sportplätzen, in der Luft ist Dioxin. Aus Müllverbrennungsanlagen, aus Metallbetrieben, aus Chemieanlagen, aus Mülldeponien, aus Papierwerken, aus dem Autoauspuff kommt Dioxin.

Wo immer bestimmte Chlorverbindungen stark erhitzt werden, entsteht Dioxin. Und es verschwindet nicht wieder.

Drei Jahrzehnte zu lang konnte das Dioxin wuchern, geschützt durch ein Kartell des Schweigens, durch diese seltsame Allianz von Dow Chemical bis Boehringer, von Lübke bis Weizsäcker, von Kennedy bis Reagan, von Chemie bis Politik, von Kalkül bis Leichtsinn.

Jetzt fordert das Umweltbundesamt Maßnahmen, um die tägliche Dioxin-Dosis zu halbieren. Aber gleichzeitig muß es einräumen, daß bisher nicht einmal die Dioxin-Messung funktioniert.

Dies Gebäude da sei hoch belastet, sagt der Sicherheitsingenieur, der die Schaulustigen über das Boehringer-Gelände führt. Er zeigt auf einen ehemals roten, verwitterten Klinkerbau. »Poröse Materialien wie Klinker wirken auf Dioxin wie ein Schwamm, da kann es gut eindringen.«

Ein Zaun schützt den alten Bau, der so schön ist wie Gemäuer aus dem Frühkapitalismus, vor Neugierigen. Dort drinnen stieß der Hautarzt Schulz auf die schaufelnden Arbeiter und ihre Chlorakne. Durch zerschlagene Fenster sieht Harri Garbrecht, daß die Innereien gründlich zertrümmert wurden, so sorgfältig, daß er seinen Arbeitsplatz nicht mehr wiedererkennt. »Vorsicht, nicht weiter!« hört er.

Männer in Schutzanzügen, die aussehen, als würden sie im Atomkraftwerk arbeiten, schleichen um das immer noch stinkende Museumsstück. »Die Arbeitskleidung wird jeden Abend weggeschmissen«, lobt der Sicherheitsingenieur. Er sieht Garbrechts tadelnden Blick. »Na ja, mit Wasser und Seife kriegt man Dioxin doch nicht wieder heraus«, sagt der Führer und lächelt über soviel Unwissenheit.