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»Es rettet uns kein Gott«

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  • ️Sun Dec 10 1989

Die ideologischen Eiertänze, so vorsichtig sie auch waren, reichten aus, die Leipziger Sektion Marxismus-Leninismus in Berlin als Unruheherd zu diskreditieren. Dabei ist von keinem Institut ein wirklicher Protest gegen die Machthaber gekommen.

»Wir wollen raus": Zu dem verlorenen Häufchen von Demonstranten, die sich mit diesem Aufschrei am 7. Mai (dem Tag der Kommunalwahlen) auf dem Karl-Marx-Platz vor der Uni versammelten, gehörten auch Studenten und Mitarbeiter der Hochschule: 135 waren fort, als die Absurdität der plombierten Züge die Nation erschütterte.

»Wir bleiben hier": Während die Universität noch in den Semesterferien dämmerte, beschleunigte sich vor ihren Toren die Geschichte durch eine neue Qualität der Demonstration, und als sich die Studenten Mitte September wieder zurückmeldeten, erfaßte sie etwa * Von Johann Adam Kern. ein Drittel der akademischen Jugend: Sie demonstrierte mit.

Etwa Julia Werner, erstes Semester, die wie so viele ihrer Kommilitonen aus den fünfziger Jahren der Bundesrepublik zu stammen scheint. Sie hat nichts von dieser ironischen Selbstdistanz, die zur herrschenden Attitüde junger Intellektueller des Westens gehört, so gestrig wirkt sie durch ihre Ernsthaftigkeit.

Der Ruf »Wir wollen raus« deprimierte sie ebenso wie Honeckers Zynismus, die Mauer würde »in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen«. Daß sie wie die meisten hinter der Mauer so wenig hat, daß sie, doch schon erwachsen, durch die Wohnungsnot in der zerbröselnden Stadt gezwungen ist, noch immer mit ihrer Mutter in einem Zimmer zu schlafen, erregte sie nie, aber das Unding, daß sie als Englischstudentin keine englischen Zeitungen lesen durfte. Das Neueste von Benetton wollte sie nicht, die New York Times wollte sie haben - ein kleiner Anspruch, doch zu Ende gedacht revolutionär.

Sie hat jede der großen Demonstrationen mitgemacht, und am 7. Oktober, als Polizei auf die Teilnehmer eindrosch, ist sie neben blutüberströmten Menschen »wie um mein Leben gelaufen«. Morgens am 9. Oktober, als in Leipzig die Angst vor einem Blutbad am Abend umging, an jenem berühmten Montag, hat sie ihrer Mutter versprochen, daß sie nicht demonstrieren wird, und gewußt, daß sie ihr Versprechen brechen wird.

Die Spannung dieses Tages machte eine Reihe von gestandenen Wissenschaftlern physisch regelrecht krank. Dem einen war übel, der andere hatte es auf der Blase, jeder spürte auf seine Weise das Gewicht von Macht und Schicksal für die Betroffenen.

Im Hochhaus der Universität, wo die vielen Büros der Lehrenden eng aneinander liegen, verdrängte die kollektive Angst die kleinen Ängste vor Einbrüchen in der Karriere. »Es herrschte ein und derselbe Gedanke«, so Assistent Ahbe, »daß es jetzt nicht um den Arbeitsplatz von Professor X geht, sondern um eine welthistorische Dimension.«

Fünf Professoren, der Philosoph Okun, der Historiker Manfred Neuhaus, der Soziologe Kurt Starke sowie die beiden Ökonomen Peter Hofmann und Peter Held, begaben sich noch am Vormittag zum SED-Bezirkssekretär Roland Wötzel und teilten ihm mit, daß niemand an der Hochschule hinter einem Einsatz von Staatsgewalt gegen die Demonstration stehen würde. Die Wissenschaftler waren bereit, sich den unruhigen Geistern zum Dialog zu stellen.

Die kleine Studentin Julia Werner erlebte am Abend des 9. Oktober, als die Staatsmacht vor der Masse wie magisch zurückgewichen war und sie wie ein Partikel von »Wir sind das Volk« in der Menge schwebte, einen der »glücklichsten Momente« ihrer 20 Jahre.

Am anderen Morgen war in der Universität alles irgendwie anders und doch wiederum wie gehabt. Der Lehrbetrieb vollzog sich reibungslos und störungsfrei - bei der hochgradigen politischen Erregung ein Phänomen, in dem auch die Disziplinierung der Jugend vom sozialistischen Kindergarten an zu erkennen ist. Es sei aber, so meint Okun, ebenso den kritischen Professoren zuzuschreiben, »unserem Einfluß, daß die Universität relativ geordnet diesen Übergang schaffte«.

Die Sektion Marxismus-Leninismus wurde in ein Institut für Gesellschaftstheorien verwandelt. Trotz des Plurals wird dort aber weiter von dem ganz anderen Sozialismus geträumt, doch auch gebangt, daß die schöne Utopie zerplatzen könnte durch die kleinen Wünsche nach »Videorecorder, Marlboro und Golf GTI« (so der vielzitierte Spruch eines im Leipziger Kabarett persiflierten Arbeiters) oder schlimmer noch durch eine Pogromneigung unter den Dagebliebenen. Okun: »Die Stimmung der Straße wird ,republikanisch'.«

Seit dem 9. Oktober verändert sich die Universität jeden Tag ein bißchen. Alle Zeit vor diesem Tag wurde im Sprachgebrauch zum »damals«, und die Jetzt-Zeit bekam den Bezugspunkt »danach«. Waren »damals« die Kirchen und Gemeindehäuser die einzigen öffentlichen Orte für systemkritische Gesprächsrunden gewesen, so wurden nun die Hörsäle für Diskussionen geöffnet. »Streitkultur« wurde zu einem neuen Modewort.

»Ich äußere meine Meinung bis zum Umfallen«, sagt Julia Werner, aber sie nimmt auch wahr, daß mindestens die Hälfte der Studenten »lahm« im Lehrbetrieb trottet, als ob nichts gewesen wäre, »weil sie gewöhnt sind, daß ihnen das Denken abgenommen wurde«. Wie sollen sie schließlich ihre Meinung sagen können, wenn sie nicht wissen, was ihre Meinung ist.

Aufgegangen sind die sogenannten Giftkammern, wo »damals« die verbotene Lektüre gelagert und nur gegen besonderen Berechtigungsnachweis eingesehen werden durfte, etwa die New York Times. Aber jetzt, da sie offen ausliegt, ist sie immer besetzt wie viele andere begehrte Literatur. »Die Gedanken sind frei - und nun endlich auch jederzeit nachlesbar«, heißt es in der Universitätszeitung UZ, die von der SED-Kreisleitung herausgegeben wird. Beigelegt ist die neue Studentenzeitung Ohne Filter: ein einziges Blatt, die Gedankenfreiheit reicht nur so weit wie das knappe Papier. Marx kichert in der Karikatur.

Euphorisch hat die Studentenschaft die geschwächte FDJ düpiert und sich einen eigenen Rat gewählt. Aber nach den Tagen der Euphorie macht sich auch so etwas wie ein revolutionärer Katzenjammer bemerkbar. »Wo standen unsere Professoren davor, und wo stehen sie danach, haben sie uns damals belogen, oder belügen sie uns jetzt?« Diese Frage bohrt im kritischen Teil der Studentenschaft.

Zunächst hatte sie auf einem Konvent freudig erregt mit Bravo und Beifall zur Kenntnis genommen, daß der Philosophie-Professor Dieter Uhlig der jungen Generation bescheinigte, in der »tiefgehenden Krise dieses Landes« hätte sie einen »historisch bemerkenswerten Mut, Größe - um einen Ausdruck von Gorbatschow zu gebrauchen -, intellektuelle Würde und politischen Anstand« gezeigt: »Ich sage Ihnen dies nicht, um Ihnen Rotz um die Backen zu schmieren.« Gelacht hatten die jungen Zuhörer und frenetisch geklatscht, als er ausrief: »Es rettet uns kein Gott - auch kein Hager und kein Dohlus.«

Im nachhinein kam die Frage auf, ob da ein Demagoge gesprochen hatte, der auch noch frech versicherte: »Ich sage das hier ohne alle Demagogie.« Gehörte er vielleicht zu den Leuten, so hieß es in einem Anschlag, »die ihre Süppchen auf den Feuern der Erneuerung kochen wollen«? Während diejenigen Professoren, die ihre kritischen Untertöne jetzt zu ihren Obertönen machen, gefeiert werden, stehen die anderen, die früher nichts gegen die Verhältnisse gesagt hatten und jetzt viel zu sagen haben, unter Verdacht einer revolutionären Profilierungsneurose. Was ist von Hochschullehrern zu halten, die nun reihenweise versichern, sie hätten durch die Straße, auf der sie nicht waren, einen »Erkenntnisschub« erfahren oder auch schmerzvoll erlitten? Kann das wahr sein, gibt es so was?

Im Prinzip schon, sagte die Schriftstellerin Christa Wolf in einer Poetik-Vorlesung, und das Auditorium voll von diesen Hänsel- und Gretel-Gesichtern hörte ihr andächtig zu. »In diesen Wochen pressen viele den Sklaven literweise aus sich heraus«, so versuchte sie Verständnis zu wecken: »Viele Leute sind in seelischen Krisen, viele zermartern sich ihr Gewissen.« In dem Land der vielen Fragen geht die eine Frage bis an den Rand des Wahnsinns: »War ich vorher normal, bin ich es jetzt?«

Die durcheinandergebrachte Gesellschaft der Hochschullehrer kommt dem Assistenten Ahbe mit seinen Röntgenaugen vor wie »Hühner im Hühnerstall, in dem der Fuchs drinnen ist, und der Fuchs ist die Wirklichkeit, die 20 Jahre verdrängt wurde«. Er selbst quält sich in einer Suche nach dem »stalinistischen Virus, den wir vielleicht mit uns schleppen, ohne ihn noch erkannt zu haben«. Ein autoritäres Kommandosystem, das ein ganzes Land von oben nach unten über unzählige Relaisstationen beherrschte, konnte ja nur funktioniert haben mit lauter Miniatur-Stalins.

Zwar scheint es keine Tabus mehr zu geben, aber manche Professoren haben die gespenstische Vorstellung, daß der alte Machtapparat doch noch zurückschlagen könnte, sofern sich das Volk im Laufe einer weiteren ökonomischen Talfahrt radikalisieren sollte. In den Nischen ihrer Wohnzimmer klagen sich die Gründlicheren unter den Erziehern der sozialistischen Elite an, »daß wir schuldig sind, weil wir zu lange geschwiegen haben, so wie unsere Eltern im Nationalsozialismus«.

Ungenannt will der Hochschullehrer bleiben, der jetzt immerzu eine Szene aus dem Holocaust-Film vor sich sieht: Zehn Leute schleppen sich zur Gaskammer, ihre zwei Wächter hätten sie überwältigen können, wenn sich einige geopfert hätten, statt daß alle Opfer wurden.