»DEN KANZLER JAGEN«
- ️@derspiegel
- ️Sun Oct 16 1994
Schon vor der Wahl hatte der Kanzler im Parteipräsidium zu bedenken gegeben: »Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir die Sozis nicht nach der Methode behandeln können: ,Vogel, friß oder stirb.'«
Schäuble stimmte zu: »Es hilft doch gar nichts, wir kriegen die Große Koalition so oder so, ob die SPD nun mit drin ist oder nicht.«
Der Taktiker Schäuble hat für die Verhandlungen nach der Wahl einen Schmusekurs mit Scharping festgelegt: Es sei aussichtslos, wenn »wir vier Wochen lang Krach mit der SPD machen und dann als Koalition festlegen wollen, was zu geschehen hat. So erreicht man nichts«.
Für die FDP eine erneute Zumutung. Wenn sich die Großen so gut unterhalten, haben Klaus Kinkels Leute nicht mehr, wie sie das gewohnt sind, das letzte Wort.
Vor der Wahl hatte der FDP-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt getönt, es werde mit den Liberalen diesmal »keine einfachen, keine schnellen Koalitionsverhandlungen« geben, denn so wie bei der Pflegeversicherung, bei Awacs oder bei den Blauhelm-Einsätzen der Bundeswehr wollte die FDP nicht noch einmal in der Unionsmasse untergehen.
Diesmal wolle man »alle für uns wichtigen Punkte«, drohte Rexrodt dem mächtigen Partner an, vor einer neuen Kanzlerwahl »klarmachen, klar zuordnen und durchziehen«.
Kohl will dem ausweichen - und eine um ein Drittel geschrumpfte FDP macht es ihm leichter. Er hat sich vorgenommen, sich diesmal nur auf Absichtserklärungen über die große Linie mit den Freidemokraten zu verständigen. Binnen drei Wochen sollen die Koalitionsrunden abgeschlossen sein. Kohl möchte sich auf dem CDU-Parteitag am 28. November schon als wiedergewählter Kanzler feiern lassen.
Auch sein neues Kabinett, im wesentlichen ist es das alte, soll bis dahin stehen. Das große Revirement unter den Kohl-Getreuen wird verschoben.
Angela Merkel bleibt drin, Norbert Blüm, Klaus Töpfer, Matthias Wissmann, Volker Rühe und Paul Krüger behalten gleichfalls Ministerämter. Auch die unauffällige Seniorenministerin Hannelore Rönsch darf weiter hoffen. Kohl tut sich schwer, eine seiner wenigen Frauen aus der Riege zu drücken.
Hat Manfred Kanther als Spitzenkandidat bei der hessischen Landtagswahl Mitte Februar Erfolg, soll ihm Jürgen Rüttgers, der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und enge Kohl-Vertraute, im Amt des Bundesinnenministers nachfolgen.
Ein aufgefrischtes Team wird es erst in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode geben, sofern die Koalition bis dahin überlebt.
Stellen sollen schon jetzt eingespart werden - bei den Parlamentarischen Staatssekretären, vielleicht streicht Kohl auch einen oder zwei Minister-Posten. Einen Kahlschlag aber gibt es nicht. Der Parteivorsitzende möchte sich mit einem auch landsmannschaftlich austarierten Kabinett die Gunst seiner CDU-Landesverbände erhalten.
Das Kanzleramt will Kohl seinen präsidialen Ambitionen gemäß noch stärker zum Kontroll- und Steuerungsinstrument des Regierungsapparats ausbauen. Seinen Beauftragten für den Aufbau Ost, den Leiter der Wirtschafts- und Finanzabteilung im Kanzleramt, Johannes Ludewig, möchte er gegen den Widerstand der FDP nun endlich zum Staatssekretär aufwerten. Die Freidemokraten sperrten sich, weil sie den Kohl-Beauftragten, der ihrer wirtschaftspolitischen Zuständigkeit Konkurrenz macht, nicht auch noch im Rang erhöht sehen wollten.
Schon in der Vergangenheit war Ludewig Kohls heimlicher Wirtschaftsminister gewesen. Er nahm an den Sitzungen der Treuhand teil, organisierte regelmäßige Sitzungen des Kanzlers mit Verbänden und Gewerkschaftern, hielt für Kohl den Kontakt zur Bundesbank. Und wenn der Kanzler etwas vom Bundeswirtschaftsministerium wollte, dann exekutierte das sein Ludewig.
Zweites Machtzentrum wird die Fraktion unter Schäuble. Er muß die schmale Mehrheit sichern. Der Kronprinz will sich für die Nachfolge im Kanzleramt, wenn Kohl, wie mit ihm besprochen, 1996 oder 1997 zurücktritt, durch besonderen Eifer empfehlen. Konkurrent Volker Rühe soll keine Chance haben.
Schäuble hat sich viel vorgenommen. Er will die Finanzverfassung reformieren, sich um die Sicherung der Renten kümmern, den Familienlastenausgleich angehen, er möchte den Arbeitsmarkt in Ordnung bringen und, wie Kohl, den großen Dialog mit den Sozialdemokraten und den Tarifpartnern suchen.
Schon in der Finanzpolitik zeigt sich, wie unbeweglich die Regierung ohne die Mitarbeit der Sozialdemokraten ist. Nicht mal den Haushalt 1995 kann sie ohne Rücksicht auf Scharpings Parteifreunde in der Länderkammer durchbringen.
Will Theo Waigel verhindern, daß sein Etat auf Betreiben der SPD im Vermittlungsausschuß zerfleddert wird, muß er im Gegenzug auf die versprochene Senkung der Unternehmensteuern verzichten. Denn das wollen die Sozialdemokraten nicht.
Unter Zeitdruck müssen Regierung und Opposition einen Kompromiß über die Reform der Einkommensteuer finden: Vom 1. Januar 1996 an muß nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts das Existenzminimum der Bürger vom Zugriff des Fiskus befreit sein.
Die Lösung zeichnete sich trotz allen Wahlkampfgetöses schon vor dem Urnengang ab: Die Steuermindereinnahmen von bis zu 50 Milliarden Mark müssen durch eine Mixtur verschiedener Eingriffe wettgemacht werden. Dazu gehört ein höherer Eingangssteuersatz, das Streichen von Steuervergünstigungen und eine moderate Erhöhung von Umsatz- und/oder Verbrauchsteuern.
Eine Kooperation zwischen Union und SPD bahnt sich ebenso bei der Reform der Arbeitslosenversicherung an: Die Kosten für Umschulung, Weiterbildung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden als Staatsaufgaben deklariert und müssen dann nicht mehr aus den Versichertenbeiträgen finanziert werden, sondern aus Steuergeldern.
Auf eine faktische Große Koalition hofft auch Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) bei der Sanierung des Gesundheitssystems. Seehofer stemmt sich gegen Pläne in der Union und der FDP, die gesetzliche Krankenversicherung künftig auf eine Grundversorgung zu beschränken.
Der Christsoziale hält eine gesetzliche Krankenversicherung, die dem Patienten eine »notwendige, aber hinreichende« medizinische Versorgung auf hohem Niveau garantiert, für unverzichtbar. In diesem Punkt hat er wichtige Bündnispartner wie den SPD-Sozialexperten Rudolf Dreßler.
Eine schwarz-rote Verständigung scheint auch bei der Atomenergie möglich. Die Zusage eines schikanefreien Betriebs der vorhandenen Reaktoren kann die SPD in einem Energiekonsens dann mittragen, wenn die Stromherren im Gegengeschäft einige Altmeiler sogleich abschalten und für die anderen feste Restlaufzeiten vereinbaren.
Die Entscheidung über den Neubau von Kernkraftwerken muß erst nach der Jahrtausendwende fallen. Deshalb ist die Entschlossenheit der Industrie, möglichst rasch einen neuen, sichereren deutsch-französischen Reaktortyp durchzusetzen, längst nicht so groß, wie es aussieht.
Viel wichtiger ist es den Betreibern, von der teuren Wiederaufarbeitung wegzukommen und endlich die abgebrannten Brennelemente dauerhaft zwischenlagern zu dürfen, ohne daß ein Verwaltungsrichter einen Atomreaktor wegen fehlenden Entsorgungsnachweises stillegen könnte. Dafür müßten CDU/CSU und SPD in Bund und Ländern die Voraussetzungen schaffen. Beide sind dazu bereit.
Angesichts der Themen, die nun auf der Tagesordnung stehen, droht den Liberalen ein Schattendasein in der neuen Regierung Kohl. Das gilt zunehmend auch für den FDP-Erbhof Außenpolitik.
Die Zukunft Europas ist zu sehr Kohls eigene Sache, als daß der Außenminister Klaus Kinkel hier noch gefragt wäre. Nun hat sich auch Wolfgang Schäuble der europäischen Einigung angenommen und - zum Ärger Kinkels - die Partner-Länder mit bedrohlichen Visionen verschreckt: Deutschland und Frankreich geben als Antreiber Richtung und Tempo vor; der Rest soll sehen, wie er mitkommt.
So werden Kohl und Schäuble die Europa-Debatte vor der Maastricht-Überprüfungskonferenz 1996 dominieren: Wie schnell soll die EU nach Osten erweitert werden? Wer darf beitreten? Wie viele neue Mitglieder kann die EU finanziell und politisch verkraften?
Wieviel Demokratie wagt die Eurokratie? Bleibt es bei der Absicht der Kohl-Regierung, gemäß dem Vertrag von Maastricht die »schöne, harte D-Mark« (Bild) mit Franc, Gulden, Pfund, Lira und Schilling zur Europa-Währung Ecu zu verschmelzen?
Nicht besser geht es den Liberalen beim anderen beherrschenden Thema der Außenpolitik: der Rolle des neuen, großen Deutschland in der Uno und bei Blauhelmeinsätzen. Überall mischt sich der Christdemokrat Volker Rühe ein. Der Verteidigungsminister dominiert auch die Debatte um die Auslandseinsätze der Bundeswehr, den Umbau der Nato und ihre Öffnung nach Osten.
Meistens muß Kinkel erleben, daß der Chef schon da war: Kohl sonnte sich als Super-Staatsmann im Kreise Jelzins, Clintons und Mitterrands - sein Außenminister durfte wie ein Schulbub danebenstehen. Bis hinab in die einzelnen Botschaften diktierte das Kanzleramt seine außenpolitischen Vorgaben.
Kinkel, der am Wahlabend konfettiselig durchs Thomas-Dehler-Haus, die Parteizentrale, zog, wird nach dieser Wahl Mühe haben, seine Partei vor dem endgültigen Untergang zu retten. Mit seiner Festlegung auf den Kohl-Kurs hat er sich selbst politisch paralysiert.
Aus Neigung und wegen der konservativen Wählerklientel hatte der FDP-Chef allein auf die Fortsetzung der Kohl-Koalition gesetzt. Wie nie zuvor präsentierten sich die Liberalen als Wirtschaftspartei pur. Die Freiheitsrechte, ein liberales Urthema, und das Zukunftsprojekt Ökologie wurden im Wahlkampf nur als Pflichtpensum oder gar nicht erst abgehandelt - die Grünen freuten sich.
In sozial-liberalen Zeiten redeten die Unionschristen von »babylonischer Gefangenschaft« der FDP in den Fängen der Sozialdemokraten. Kinkel habe inzwischen die FDP, höhnten seine Gegner, zu einer »Arbeitsgemeinschaft in der Union« gemacht.
Verstand es Vorgänger Hans-Dietrich Genscher, die schwierige innerparteiliche Balance zwischen Wirtschafts- und Rechtsstaatsliberalen zu bewahren, versuchte Kinkel das gar nicht erst. Je näher der Wahltag heranrückte, desto enger rückte er an die Union. Die Grünen erklärte er für bündnisunfähig. Eine Ampel lehnte er rigoros ab. »Weiter so mit Kohl« oder »Ab in die Opposition« hieß sein nicht gerade zündendes Wahlkampfmotto.
Gegen dieses liberale Schrumpfmodell wetterte auch Genscher, dessen Wende von Schmidt zu Kohl 1982 den linksliberalen FDP-Flügel abgesprengt hatte: »An die liberale Seele denken.« Kinkel mißachtete auch ein Vermächtnis des legendären Generalsekretärs Karl-Hermann Flach: »Die besitzbürgerliche Erstarrung des Liberalismus« sei »die tiefere Ursache für den Schwund der organisierten liberalen Kräfte«.
Die Wahlergebnisse beweisen, daß die Strategie falsch war. In 9 von 16 Landesparlamenten ist die Partei nicht mehr vertreten. Im Osten verloren die Kinkel-Liberalen selbst dort, wo sie Kredit hatten. So rutschte die FDP in Hans-Dietrich Genschers Heimatstadt Halle von 34,6 Prozent bei den Wahlen 1990 auf ganze 6,4 Prozent.
Bei den Liberalen herrscht nun Wende-Stimmung. Der Generalsekretär Werner Hoyer, dem Parteifreunde einen Großteil der Verantwortung für den Profilverlust der Partei anlasten, soll sein Amt an den ehemaligen Juli-Vorsitzenden Guido Westerwelle abgeben.
Um den allseits beklagten Substanzverlust aufzuarbeiten, steht eine programmatische Erneuerung an. Aus den Archiven wird ein Papier zur Parteireform wieder hervorgeholt, das schon der Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff vor zwei Jahren vorgelegt hatte, das aber bald schon in Vergessenheit geriet.
Von mehr »Partizipation« ist darin die Rede. »Als Fitneßcenter für Politikbeschäftigung« sollten »liberale Clubs« gegründet werden. »Starke Anziehungskraft« sollte die FDP für alle entfalten, »die mehr als andere über die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken«. »Prüfstand« soll sie sein »für neue politische Ideen«. Schon ist daran gedacht, einen der Väter der legendären Freiburger Thesen von 1971, den späteren Bundesinnenminister Werner Maihofer, als Ratgeber aus dem Ruhestand zu holen. Intellektuelle Ideenspender sind plötzlich wieder gefragt.
»Das ist die Bewährungsprobe für die FDP«, findet Westerwelle, »daran entscheidet sich, ob die Partei überlebt.« Skeptiker Wolfgang Kubicki aber befürchtet: »Alles bleibt beim alten.« Denn: »Ist doch toll, wir sind ja wieder in der Regierung.«
So toll kann Klaus Kinkel das nicht finden. Zwar darf er noch einmal unter Helmut Kohl aufs Siegertreppchen. Doch daß die eigenen Parteifreunde ihn lassen und ihm nicht wenigstens den Chef-Posten in der Partei abnehmen, verdankt er nur der Verlegenheit, daß die Liberalen keinen passenden Nachfolger haben.
So kann Rudolf Scharping, der heimliche Wahlsieger, in der Opposition eigentlich in Ruhe abwarten, wie sich das desolate Regierungsbündnis quält. »Die haben gesagt, sie wollen es versuchen. Sollen sie doch.«
Union und FDP sollten »jetzt mal ihren Kanzler wählen«. Er sei sicher: »Irgendwann kommen die.«
Doch der SPD-Chef muß erst mal seinen eigenen Laden zusammenhalten. Sonst könnte sein frecher Spruch »Abgerechnet wird zum Schluß«, vieldeutig hingeworfen während des Wahlkampfs beim Doppelkopfspiel mit Journalisten, einen bitteren Beigeschmack von Wahrheit bekommen.
Da sind zwei Genossen, die selber groß von sich denken.
Entgegen aller im Wahlkampf zur Schau getragenen Einigkeit haben Scharpings Mitstreiter Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine die Konflikte nicht vergessen, die sie mit dem Mainzer Senkrechtstarter hatten. Und sie haben auch ihre eigene politische Zukunftsplanung nicht aus den Augen verloren.
Schröder hat während des gesamten Wahlkampfes nie einen Zweifel daran gelassen, daß er sich unverändert für den aussichtsreicheren Kandidaten gehalten hätte. Er machte kein Hehl daraus, daß er sein politisches Ziel nie aus den Augen verloren hat, selbst Kanzler zu werden.
Nun reicht es nicht mal für einen Ministerposten. Und die beiden Mitstreiter Scharpings können darauf verweisen, daß es an ihnen jedenfalls nicht gelegen habe: Haben sie sich doch beide in der Not loyal gezeigt.
Die Frage, wer die SPD künftig führen soll, ist aus der Sicht von Schröder und Lafontaine nicht entschieden, nur vertagt. Und beide meinen wohl, sie könnten die Entwicklung in Ruhe abwarten.
Doch sie gehen nun zurück in ihre Länder, während der Vorsitzende in Bonn als Oppositionschef gegenüber der geschwächten Koalition weiter Profil gewinnen wird.
»Wir dürfen eine Offerte nicht abweisen«
Die Unionsfraktion wird zum zweiten Machtzentrum
Kinkel wird Mühe haben, die FDP vor dem Untergang zu retten
Bei den Liberalen herrscht nun Wendestimmung
Lafontaine und Schröder können in Ruhe abwarten
[Grafiktext]
___8c FDP-Zweitstimmen v. Erstimmenwählern anderer Parteien
_____ PDS-Erststimmen v. Zweistimmenwählern anderer Parteien
___9_ Die neue Sitzverteilung im Bundestag
_____ PDS-Direktmandate
__13e Bundestagswahlergebnisse in Prozent
[GrafiktextEnde]