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Tolles Triebleben

  • ️@derspiegel
  • ️Sun Jan 12 2003

Früher waren die Menschen komische Leut'. Sie heirateten nach Vermögen und Stand, sprachen nie über Sex, und wenn schließlich - was Wunder! - die Sache elend schief ging, dann schossen sich die Herren im Morgengrauen tot.

Dieses trübe Bild vom 19. Jahrhundert spukte wohl Amélie Niermeyer, 37, im Kopf, als sie Fontanes Roman »Effi Briest« auf ihrer Bühne inszenierte. Die neue Intendantin des Theaters Freiburg, die für ihren Start im Badischen schon zur Aufsteigerin der Saison hoch gelobt wird, hat schon an einer gewitzten »Minna von Barnhelm« vor vier Jahren in Berlin bewiesen, dass Texttreue ihr keine Bürde ist und historische Stoffe ihr Lust sein können.

Möglicherweise aber hat die größere historische Distanz zu Lessings Personal ihr ebenjenes Interesse abverlangt, das bei Fontane zu fehlen scheint: Denn Niermeyer behandelt Effi und deren Eltern, den Baron von Innstetten und den Major von Crampas, die Dienstboten und Freunde wie ein Insektenforscher, der die putzigsten Exemplare seiner Sammlung - die Falter mit nur einem Flügel, aber zwei Köpfen, die Albinos, die ohne Antennen und die ohne Augen - fürs allgemeine Publikum auf einer Sperrholzplatte anrichtet und zur Belustigung Eintritt nimmt.

Niermeyer lässt uns vom ersten Moment der Inszenierung an wissen, dass sie Effi von Briest, diese junge und hübsche Frau, verheiratet mit einem viel älteren Mann (der einmal ihre Mutter umwarb), für ein Opfer trostloser Umstände hält, bedauernswert und anziehend zugleich.

Effi (Janina Sachau) kommt aus den Girlie-Springerstiefelchen den ganzen Abend nicht heraus, rennt wie tobsüchtig über die Bühne, um Temperament anzudeuten, trägt ihre weißen Kleider, als wär's im »Schulmädchen-Report«. Sie soll entschieden das vitale Zentrum einer senilen Gesellschaft bilden, die aus deprimierten Rentnern besteht, aus angepassten Schlaffies und ehrgeizigen Vollidioten.

Aus Charakteren werden Chargen - egal, ob der alte Briest zum tristen Tatter-Opa oder Effis Mutter zur schneidigen Zicke entstellt wird, ob die Hausangestellte Roswitha als tumbe Hysterikerin karikiert wird oder Baron Innstetten als Schulmeister, aus Rohrstöcken gebildet. Nur Apotheker Gieshübler fehlt, ausgerechnet, der Buckel - hier wollte die Inszenierung wohl humaner sein als Theodor Fontane selbst, der von politischer Korrektheit ja noch keine Ahnung hatte.

Major Crampas, Effis unwiderstehlicher Verführer, sieht aus wie der Vorsteher einer Rostocker Hähnchenbraterei und wirbt im offenen Hemd überm Bauchspeck und mit der Schnapsflasche in der Hand um das delikate Persönchen - ein bisschen Baal, ein anderes bisschen Woyzeck. Ein besoffener Polkatanz im surrealen Lichterschein deutet die »unbewusste Ebene« der ganzen Sache an.

Niermeyer hält sich ganz an Fontanes Dialoge, doch sie inszeniert sie wie ein Jubiläum von Menges »Ein Herz und eine Seele«. Als es zum dritten Mal heißt: »Das ist ein weites Feld«, da lacht auch die letzte Reihe. Die Neurosen des Wilhelminismus werden unter das Scheinwerferlicht der Bühne gesetzt, und damit wird dem Theaterpublikum erspart, was eine Lektüre des Romans ihm aufgäbe: Zweifel und Nachdenken, Urteilsbildung und Unsicherheit, Einfühlung und Wehmut.

»Bühnenfassung« und Inszenierung machen aus einem der subtilsten Romane deutscher Sprache einen Bilderbogen für Analphabeten, aus einem Gesellschaftspanorama ein Guckkastenspiel, aus einer Analyse des bürgerlichen Lebens eine Satire auf dessen Schwächen. Dass ein Gesellschaftsstück nur beeindruckt, wenn es Individuen zeigt - denn sie selbst bilden ja die Gesellschaft, der sie genügen wollen -, das eben ist die Größe von Anton Tschechow, Virginia Woolf und Henry James. Darin ist Fontane Ausnahme, dass er die im Deutschen seit jeher beliebte Trennung zwischen dem eigentlichen Menschen und seiner Rolle aufhebt - und ebendas macht Niermeyer rückgängig, indem sie die scheinbar ursprüngliche Effi zum Opfer bourgeoiser Vampire macht.

Ach ja, das gute alte Entlarvungstheater! Wie weit haben wir es gebracht, die wir aus Liebe heiraten und über alles reden können und erst zum Therapeuten gehen, bevor wir uns dann einvernehmlich scheiden lassen; wie entspannt ist unser Geschlechterverhältnis, wie befreit unser tolles Triebleben! (Und nebenbei natürlich undenkbar, dass wir die Scheidungskinder so gnadenlos abrichten und missbrauchen wie der böse Innstetten sein Töchterchen Lütt-Annie, das nur noch sagen kann: »O gewiss, wenn ich darf«, wenn es seine Mama besucht. Wir schenken lieber zwei Gameboys, anstatt einmal etwas zu verbieten.)

So zeigt das bürgerliche Theater dem bürgerlichen Publikum, wie zufrieden es mit sich sein kann, und das Publikum ist ganz zu Recht begeistert. Man klatscht und trampelt in Freiburg, feiert sein eigenes Theaterwunder und ist lächelnd zufrieden, dass es doch einen Fortschritt in der Weltgeschichte gibt. ELKE SCHMITTER