Botschaft aus dem Ei
- ️@derspiegel
- ️Tue Feb 18 1964
Es war zwei Stunden vor Mitternacht. Der Landarzt Dr. Erich Baeumer saß an seinem Schreibtisch, las und schrieb. Plötzlich vernahm er ein Geräusch: ein rhythmisches Ticken und Kratzen, darin ein dünnes Piepsen. Baeumer horchte auf. Es war die Botschaft, auf die er den ganzen Abend gewartet hatte: Sie kam aus einem Hühnerei.
Was der technisch versierte Landarzt mit Mikrophon und Lautsprecher aus einem bebrüteten Hühnernest übertragen hatte, waren die ersten Lebenssignale eines noch ungeschlüpften Kükens. Prompt wurden sie von der brütenden Glucke beantwortet - mit drei Vokabeln aus der Hühnersprache, deren Bedeutung Huhn-Horcher Baeumer untrüglich zu identifizieren wußte: »Gluckgluck« (Fühlungaufnahme), »Tucketucktuck« (Locken zum Futter) und »Orrrorrr« (Laut zum Beruhigen von Küken).
Nahezu ein ganzes Forscherleben lang hat der heute 66jährige Arzt und Geburtshelfer in Weidenau im Siegerland ("Ich habe 1500 Kindern auf die Welt geholfen") der Spezies Haushuhn ihre Verhaltenseigenheiten und ihre Sprache abgelauscht.
Mit acht Jahren begab sich Erich Baeumer erstmals zu längerem Aufenthalt in den Hühnerstall ("Meine Mutter hat gesagt ... da sei es nicht so gefährlich wie auf der Straße"); 58 Jahre später stellte er die Ergebnisse seiner. Studien zu einem Buch zusammen, das demnächst in der Franckh'schen Verlagshandlung, Stuttgart, erscheinen soll. Titel des Werks: »Das dumme Huhn"*.
»Daß es dumm ist, schlechthin vom 'dummen Huhn' zu reden«, ist nur eines der Resümees, die Hühnerforscher Baeumer ("Ich bin mit Hühnern aufgewachsen wie mit Brüdern und Schwestern") aus seinen vielfältigen Beobachtungen zog. Baeumer, der mit Land-, Zier- und Zwerghühnern lebte und ihre Lautäußerungen auf zahlreichen Tonbändern eingefangen hat, konnte außerdem nachweisen:
- Das Gespräch unter Hühnern beginnt
schon in der Eierschale;
- Hühner aller Rassen und Nationen sämtlich Nachfahren des indischen Bankivahuhns - sprechen eine gemeinsame Sprache.
Der einzige Unterschied liegt in der Tonhöhe. Während der Hahnenschrei (Baeumer: »Allgemeiner Ausdruck männlichen Selbstgefühls") der leichten
deutschen Rassen mit »Kikeriki« umschrieben wird, produzieren die schwereren französischen Landrassen das französische »Coquericot«. Insgesamt konnte der hühnerkundige Mediziner den Küken, Hennen und Hähnen dreißig verschiedene Laute ablauschen und die jeweilige Bedeutung ermitteln - ein Wortschatz, den Baeumer nahezu perfekt imitieren konnte, solange er Kind war. Erst mit dem Stimmbruch verlor er diese Fähigkeit.
Im Unterschied zur Menschensprache, so ermittelte Baeumer, ist die Hühnersprache angeboren. Hähne, die isoliert von ihren Artgenossen aufgezogen wurden, konnten am Ende stets ebenso wohlartikuliert krähen wie alle anderen Hähne auch. Das Vokabular braucht nicht erlernt zu werden und beschränkt sich auf das, was für das nackte Hühnerleben wichtig ist. Küken, die kurz vor dem Schlüpfen in der Schale piepen verstehen offenbar schon den Warnlaut ihrer Artgenossen: Wenn sie ihn hören,
verstummen sie augenblicklich rund für
längere Zeit.
Beim Alarm unterscheiden die Hühner zwischen Luft- und Bodenfeinden und ihnen unbekannten, verdächtigen Erscheinungen ("rääh"). Der Luftalarm staffelt sich in mehrere Dringlichkeitsstufen. Ein plötzlicher überfall von einem Raubvogel wird mit »korr«, »kirr« oder »kju« gemeldet, worauf alle Hühner Hals über Kopf in Deckung flüchten.
Das Hühnergackern klassifiziert Dr. Baeumer in ein »kleines« und ein »großes« Gackern. Während das kleine Gakkern ("Gack-gack-gackgack-gack") die Annäherung eines Bodenfeindes ankündigt, ist das große Gegacker eine Art Entwarnung oder Entspannung nach vorausgegangener Aufregung ("Ga-ga gaak-ga-ga-gaak").
Eine Abart des großen Gackerns ist das sogenannte Legegackern. Baeumer glaubt, daß es auf die Zeit zurückgeht, da Hennen ihre Eier abseits in verborgene Nester legten. »Ursprünglich« deutet der Huhn-Lauscher, »mögen Hennen, die vom -Nest kamen und nun allein waren, ängstlich gegackert haben; des Hahnes Antwort ließ sie die Gefährten finden, das wurde bleibende Verhaltensweise.«
Bei manchen Haushuhnformen, die unter dem Schutz des Menschen »mehr und mehr geschwätzig« wurden, habe sich diese Verhaltensweise dann so ausgeprägt, daß die Hennen bereits gakkern, wenn sie sich auf den Weg zum Nest machen. Baeumer: »Heute ist Legen und Gackern fest miteinander verkoppelt.«
Bei seiner Hühner-Lebensarbeit hielt sich der Amateur-Tierpsychologe strikt tan die wissenschaftlichen Methoden der Verhaltensforschung, eines Zweiges der Biologie, der in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Sorgfältig registrierte Baeumer ein Gesamtinventar aller Verhaltensweisen des Haushuhns und suchte durch Experimente herauszusondern, welche von ihnen angeborene Instinkte und welche erlernt sind.
Baeumers intime Hühnerkenntnisse wurden denn auch von dem - inzwischen verstorbenen - Verhaltensforscher Professor Erich von Holst am Max-Planck-Institut in Seewiesen (Oberbayern) dankbar ausgewertet; die Seewiesener Forscher engagierten den federviehbegeisterten Landarzt für vier Jahre als wissenschaftlichen Mitarbeiter.
Mit den Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen seiner eigenen Artgenossen ebenso vertraut wie mit den Besonderheiten seines Hühnervolks, bemerkte Baeumer überraschende soziale Parallelen: »Die Rangordnung innerhalb unserer Gesellschaft unterscheidet sich gar nicht so sehr von der im Hühnerhof; auch wir markieren die Grenzen unseres 'Reviers', drohen mit Krieg und brechen erobernd in fremdes Gebiet ein; auch wir kämpfen um 'Weibchen', Nahrung und die besten 'Nistplätze' ...«
Ähnlichkeiten zwischen Huhn und Mensch offenbarten sich dem Arzt und Hühnerhalter auch bei der Erforschung der Sprachgewohnheiten des Federviehs. Baeumer: »Hähne lügen nicht selten. An leeren Stellen täuschen sie durch Locken und Hinweise Futter vor; dann kacken sie eine arglos herbeigelaufene Henne, um zu kopulieren.«
* Dr. Erich Baeumer: »Das dumme Huhn - Verhalten des Haushuhns«. Kosmos-Bibliothek, Band 242. Franckh'sche Verlagshandlung, Stuttgart.
Verhaltensforscher Baeumer
»Orrr-orrr« und »Tucketucktuck«