»Good-bye, Japan«
- ️@derspiegel
- ️Sun Nov 30 1997
Mikio Hibino, 50, verteilt seit Wochen Flugblätter in Tokios vornehmem Bankenviertel. Unter der Überschrift »Kampf den willkürlichen Entlassungen« protestiert der Ex-Filialleiter des kleinen Broker-Hauses Fukuyama Securities gegen seinen Rausschmiß.
Bis vor kurzem ließen ihn die vorbeieilenden Broker unbeachtet. Seit dem Zusammenbruch des Wertpapierhauses Yamaichi am vergangenen Montag reißen sie ihm das kämpferische Pamphlet regelrecht aus der Hand - viele fürchten ein ähnliches Schicksal.
Am Finanzplatz Tokio hat das große Zittern begonnen. Die Börse ist schon seit längerem lustlos, die Banken ächzen seit Jahren unter Bergen von faulen Krediten, Broker produzieren statt Gewinnen einen Finanzskandal nach dem anderen. Doch Anfang vergangener Woche bewiesen die Japaner, daß sie ihr Chaos noch steigern können.
Der Konkurs von Yamaichi - die größte Pleite der japanischen Nachkriegszeit - hat den einstigen Angstgegner der westlichen Industrienationen weltweit zum Gespött gemacht. »Die Realität schlägt zurück«, titelte schadenfroh der »Economist«.
Vorbei sind die Zeiten, als der asiatische Fleiß und die seltsame Mischung aus Markt- und Planwirtschaft im Westen als »Modell Japan« empfohlen wurden. Plötzlich sehen auch Ökonomen das Land, immerhin die Industrienation Nummer zwei, mit anderen Augen.
Der starke Einfluß des Staates wird nun als Makel empfunden. Die Solidarität der Konzerne untereinander scheint das Relikt einer untergegangenen Epoche. Der Immobilienboom, der die Aktienmärkte einst nach oben trieb, wirkt nun wie das Werk von Verblendeten.
Am tiefsten sitzt der Schock in Japan selbst: Yamaichi-Chef Shohei Nozawa hatte Tränen in den Augen, als er den Kollaps des Hauses bekanntgab. Zu Tausenden standen die Kunden vor den Filialen, alle wollten ihre Vermögen in Sicherheit bringen. »Künftig horte ich mein Geld im Schrank - da ist es wenigstens sicher«, schimpfte eine Hausfrau in Tokio.
Harmonie und Höflichkeit? Ja, aber nicht in der Krise. Bei Yamaichi kam es immer wieder zu Rempeleien zwischen erbosten Kunden und überforderten Angestellten.
Auch die Regierenden haben angesichts leerer Staatskassen nichts mehr zu bieten - kein Geld für die Rettung der Firma und kein Mitleid. Japans Finanzminister Hiroshi Mitsuzuka stellte kühl fest: »Der Markt hat sein Urteil gefällt.«
Aus dem Mund von Japans Kassenwart klang das Eingeständnis geradezu revolutionär. Denn um den Markt hatte sich sein Ministerium bislang kaum gekümmert.
Bisher wurden notleidende Banken in Japan durch die sogenannte Geschwadermethode geschützt - kräftige Banken nahmen schwächere Häuser durch Fusionen unter ihre Fittiche. Oder der Staat half ihnen direkt aus der Klemme - mit Milliarden aus der Steuerkasse.
Gemeinsam verfolgten Politiker, Industriefürsten und Banker seit Jahrzehnten eine aggressive Expansionsstrategie. Fernseher, Autos, Schiffe: Mit billigen Produkten sollten Europa und die USA als Absatzmärkte erschlossen werden. Fast jedes Mittel war recht, um die kapitalhungrige heimische Wirtschaft mit Geld zu versorgen.
Fieberhaft suchten Japans Exportstrategen nach immer neuen Wegen der Geldbeschaffung. Die Regierung schraubte die Leitzinsen Mitte 1980 nach unten, mit allerlei Tricks senkten die Firmen die Kapitalkosten am Ende praktisch auf null.
Bis Anfang der achtziger Jahre hatten sich die Firmen auf ihre Tätigkeit als Hersteller konzentriert und die Kapitalbeschaffung ihren Hausbanken überlassen. In den Achtzigern entdeckten sie »Zaitech« - eine japanische Sprachschöpfung aus den Wörtern »Finanzen« und »Technik«.
Damit nahm Japans spekulativer Boom seinen Anfang: In ihren Bilanzen mobilisierten die Firmen in gigantischem Umfang den bisher unbedeutenden Grundbesitz. Die in den Büchern plötzlich wertvollen Immobilien dienten bei der Kreditvergabe als Sicherheit. Mit neuen Krediten ließen sich neue Investitionen planen - für eine neue Exportoffensive.
So wurde aus der Neubewertung in den Firmenbilanzen plötzlich bares Geld. Damit kauften die Firmen weitere Immobilien für zusätzliche Kredite.
Dem Boom in den Büchern folgte ein realer Boom der Immobilienmärkte, und auch der Aktienmarkt kam in Fahrt. Denn das frische Kapital der Konzerne mußte sich früher oder später in den Gewinnen niederschlagen.
Die Immobilienpreise schossen fast senkrecht in die Höhe. Allein im Großraum Tokio stiegen die Bodenpreise zwischen 1985 und 1990 um das Doppelte. Zugleich verdoppelte sich damit auch die Kreditwürdigkeit der Grundbesitzer. Nicht nur Firmen, auch Privatpersonen nutzen ihren Immobilienbesitz, um sich weiter zu verschulden.
Ein Land im Goldrausch, so schien es. Ein Modell war geboren, so glaubten viele, das auch als Vorbild für den Westen taugte. Die japanische Herausforderung wurde zur Schreckensvision von Managern und Arbeitern überall im Westen.
Weltweit registrierte das Publikum verwundert die Kauforgie der Japaner. Sie übernahmen das Hotel »Vier Jahreszeiten« in Hamburg, sie kauften das Rockefeller-Center in New York. Normale Renditerechnungen schienen für die Japaner auf Shopping-Tour nicht zu gelten.
In den Statistiken der Volkswirte meldete die Nippon AG den endgültigen Durchbruch zur Weltspitze. Durch den Wertsprung von Immobilien und Aktien vermehrten die Japaner ihren Reichtum von 1987 bis 1990 um ein Vierfaches.
Die Börse boomte wie in keinem anderen Industrieland. 1988 waren allein die Aktien der Telefongesellschaft NTT mehr wert als Daimler, Siemens, Allianz, Deutsche Bank, Krupp, Thyssen, BMW, Bayer, Hoechst und BASF zusammen.
Aktienkurse und Grundstückspreise schaukelten sich immer weiter hoch. Japans Finanzakrobaten berauschten sich ein Jahrzehnt lang an aberwitzigen Zahlenspielen: Allein das Grundstück des Kai-
serpalastes mitten in Tokio (1,1 Millionen Quadratmeter) sollte mehr wert sein als ganz Kalifornien. Und das gesamte japanische Inselreich, das gerade mal 0,3 Prozent Anteil an der Weltfläche hat, sollte 60 Prozent des Weltbodenpreises ausmachen.
Ein ganzes Volk verfiel der Spekulation, die Banken expandierten. Das Wertpapierhaus Sanyo baute sich in Tokio für 5,5 Milliarden Yen einen Trading-Room von der Größe eines Sportfelds. Heute ist die Firma pleite.
Penible Buchführung war bei den Banken offenbar nicht gefragt. Wer ein Grundstück besaß, bekam Kredit. Staatliche Kontrollen gab es kaum, denn als sogenannte Himmelsboten (Amakudari) starteten Beamte des Finanzministeriums nach der Pensionierung meist selbst eine Karriere als Banker oder Broker.
Über Soll und Haben unterhielten sich Beamte und Manager bei Sake und Sushi in der Geisha-Bar. Das Land schlitterte im Konsens in die Krise.
Im Jahr 1990 platzte die Seifenblase. Die Bank von Japan war nicht mehr bereit, den Boom mit billigem Geld zu fördern. Die Notenbanker setzten die Leitzinsen herauf - innerhalb von nur zwölf Monaten um 100 Prozent.
Dieses Signal konnte niemand übersehen. Der Traum von der endlosen Geldvermehrung war ausgeträumt. Die internationalen Anleger zogen hastig ihre Milliarden ab.
Die Aktienkurse stürzten 1990 auf 54 Prozent ihres Rekordhochs vom Vorjahr. Und mit Verzögerung krachte es auch auf dem Immobilienmarkt - dafür um so lauter.
Seit 1990 fielen die Preise für Geschäftsimmobilien allein in Tokio um bis zu 80 Prozent. Mit einem Mal saßen die Banken auf einem Berg fauler Kredite von rund 900 Milliarden Mark. Tatsächlich könnte die Summe noch höher sein, sagen Experten.
Mit Wucht wäre die Volkswirtschaft zusammengebrochen - doch der Staat war zur Stelle. Japans Politiker handelten wie Ärzte, die einen Drogensüchtigen therapieren. Sie pumpten staatliches Geld in den labilien Kreislauf.
Um die wachstumsabhängige Japan AG am Leben zu erhalten, gaben sie seit 1992 über 560 Milliarden Dollar für neue Straßen, Brücken und Freizeitparks aus. Das Staatsdefizit lag 1996 bei fast fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts - damit würde das Land nicht die Aufnahmekriterien für die Europäische Währungsunion erfüllen.
Zugleich investierten staatliche Fonds Milliarden in die Aktienbörse. So wurde der Absturz des Nikkei-Index verhindert. Denn radikale Kursverluste schmälern automatisch die Buchgewinne der Banken - und somit ihre Fähigkeit, faule Kredite abzuschreiben. Die Regierung spielte auf Zeit.
Doch allmählich geht dem Inselstaat die Puste aus. Die Steuerlast ist rekordverdächtig, die Staatskasse verträgt keine weiteren Stützungsprogramme.
Vor allem die Neuordnung des Finanzsektors steht unmittelbar bevor. Mit einem »Big Bang« - einem Reformknall nach angelsächsischem Vorbild - will Japan seine Finanzmärkte bis zum Jahr 2000 liberalisieren. Gleichzeitig muß die Regierung den Etat in Ordnung bringen - durch radikales Sparen.
Die Folgen der späten Reform sind kaum kalkulierbar. Wie reagiert die Konjunktur auf die Sparpolitik? Welche Banken werden die Liberalisierung überleben?
Zumindest für die gesünderen unter Japans Banken kam die Yamaichi-Krise wahrscheinlich gerade rechtzeitig. »Die Zuspitzung der Krise hat auch ihre Vorteile«, sagt Richard Werner, Chefökonom von Jardine Fleming in Tokio. »Nun tun die Japaner endlich, was sie schon vor fünf, sechs Jahren hätten machen sollen: Sie tragen ihre Finanzzombies zu Grabe.«
Das erleichtert den gesünderen Instituten das Überleben. Sie werden bis Ende 1998 rund 45 Billionen Yen ihrer faulen Kredite abgeschrieben haben.
Doch auch ein anderes Szenario ist denkbar. Die japanische Krise könnte schnell auf die westlichen Industriestaaten überspringen. Noch halten japanische Anleger fast 300 Milliarden Dollar US-Staatsanleihen - und helfen so, das amerikanische Budgetdefizit zu decken.
Wenn die Banken dieses Geld abziehen, um daheim ihre Verluste auszugleichen, kommt schnell ein Dominoeffekt in Gang. Die US-Notenbank müßte mit Zinserhöhung reagieren, das wiederum würde dem weltweiten Aktienmarkt, der ohnehin derzeit keine Superrenditen abwirft, schwer schaden. Ein Börsencrash wäre nicht mehr ausgeschlossen.
Noch geben sich die Analysten entspannt. Noch überwiegt in den USA die Schadenfreude über den angeschlagenen Rivalen.
»Good-bye, Japan Inc.« titelte vergangene Woche die »Washington Post«. »Der kooperative Geist« der Japaner, höhnt das Blatt, »war nur allzuoft nichts anderes als Behäbigkeit, Vetternwirtschaft und Korruption«.
[Grafiktext]
Wertverlust gewerblicher Grundstücke
Grundstückspreise im Großraum Tokio
Kurssturz an den japanischen Börsen
[GrafiktextEnde]
* Am Montag vergangener Woche bei der Bekanntgabe desKonkurses.