»Die Tränen flossen nach innen«
- ️@derspiegel
- ️Sun Mar 15 1992
SPIEGEL: Herr Perel, sprechen wir jetzt mit dem Hitlerjungen Jupp oder mit dem Juden Sally?
PEREL: Mit Sally, aber ein bißchen mit dem Jupp auch. Vier lange Jahre - das sind vier Ewigkeiten - war ich Hitlerjunge. Der Sally hat da geschlummert, der Jupp hat ihn geschützt. Heute hat sich das umgekehrt. Jetzt dominiert der Jude Sally. Aber der kleine Jupp ist noch in mir drin geblieben. Ich will ihn loswerden, aber das ist nicht so einfach. Ich liebe Jupp, weil er mich vor dem Holocaust gerettet hat. Ich liebe jemanden, den ich eigentlich hassen müßte.
SPIEGEL: Woran merken Sie, daß der Hitlerjunge noch immer in Ihnen steckt?
PEREL: Ich spüre ihn sehr häufig, und es ist für mich schmerzhaft, das zuzugeben. Das fängt mit den kleinen Dingen des Lebens an: Wenn meine Söhne die Suppe schlürfen, wenn sie die Zahnpastatube nicht ordentlich von unten aufrollen, sondern in der Mitte draufdrücken, dann stört das den Jupp. _(* Mit SPIEGEL-Redakteuren Bettina Musall ) _(und Nikolaus von Festenberg. )
SPIEGEL: Dafür muß man keinen Hitlerjungen in sich haben.
PEREL: Es sind auch die politischen Meinungen des Jupp von damals in mir stehengeblieben. Die starke jüdische Lobby im US-Senat, die Demonstrationen gegen die Israel-kritische amerikanische Politik - dem Jupp gefällt das nicht. Der sagt: Siehst du, wir Nazis haben doch recht gehabt, die Juden sitzen überall und verschaffen sich Einfluß. Ich muß natürlich dem Jupp sofort eins auf den Kopp geben. Das ist der Preis, den ich für mein Überleben zahle.
SPIEGEL: Es ist schwer zu verstehen, wie sich ein 16jähriger so plötzlich vom Juden in einen Hitlerjungen verwandelt.
PEREL: Auf der Flucht vor den Nazis war ich in einem russischen Waisenhaus gelandet, wo ich zum Komsomolzen erzogen wurde. Bei Minsk trieb mich die Wehrmacht mit anderen zusammen. Viele tausend standen in langen Reihen, die Nazis sortierten Juden und Politruks aus, und aus dem Wald hörte man Schüsse. Ich ließ meine Papiere auf den Acker fallen und begrub sie mit dem Stiefelabsatz. Wir rückten langsam auf das Selektionskommando zu. Ich zitterte. Meine Zunge lag wie Blei im Mund. Ich fühlte, daß zwischen Leben und Tod nur noch ein Haar Platz hatte. Und dann entstand etwas in mir, was ich mir bis heute nicht erklären kann.
SPIEGEL: Versuchen Sie es.
PEREL: Ich sah auf dem Koppel des Offiziers die Inschrift »Gott mit uns«. Ich bin nicht besonders gläubig, aber in dieser Sekunde dachte ich, Gott ist überall. Ich bin 16, ich kann doch noch nicht sterben. Die Soldaten tasteten uns nach Waffen ab. Da hörte ich mich plötzlich mit fester Stimme auf deutsch sagen: »Ich hab'' doch keine Waffen.« Der Offizier fragte: »Bist du Jude?« Und ich sagte: »Ich bin doch kein Jude. Ich bin Volksdeutscher.«
SPIEGEL: Aus dieser Notlüge entwickelte sich ein Doppelleben am Rande des Wahnsinns.
PEREL: Es war wirklich wie ein Wunder. Wo war die deutsche Gründlichkeit? Der Offizier hat mir geglaubt, daß meine Papiere bei einem Angriff verlorengegangen waren. Es ist mir spontan der Name Josef eingefallen. Sonst klang meine Stimme oft unsicher, auf einmal sprach ich ruhig. Ich bewundere mich selbst, wie ich alle diese Examina bestanden habe. Die Kompanie fing an, mich zu verwöhnen.
SPIEGEL: Und niemand wurde mißtrauisch?
PEREL: Ein Ausbilder an der Hitlerjungen-Schule ahnte wohl etwas. Wie ich später gehört habe, hat der gesagt: »Der Jupp verschweigt etwas. Gebt acht auf den, der ist nicht rein.« Ich war oft nahe am Tod.
SPIEGEL: Wie hält man eine solche Spannung auf Dauer aus?
PEREL: Ich denke, das schafft man nur mit 16. Zehn Jahre später wäre es wohl unmöglich gewesen. Immer wieder mußte ich mein inneres Gleichgewicht ausbalancieren. Wenn meine Sicherheit als Jupp erschüttert wurde, bin ich aufs Klo gelaufen und habe wie ein Verrückter geheult.
SPIEGEL: Mußte die Anpassung so weit gehen, daß Sie ein überzeugter Nazi wurden?
PEREL: Man kann nur glaubwürdig sein, wenn man selber dran glaubt. Ich habe kein Theater gespielt. Als die Schlacht bei Stalingrad verlorenging, war ich wirklich so verzweifelt, daß ich mit meinen Kameraden geweint habe.
SPIEGEL: Fühlten Sie sich nie bedroht vom Judenhaß der Nazis?
PEREL: Darüber durfte ich nicht nachdenken. Stellen Sie sich vor: Ausgerechnet ich mußte im Rassenkundeunterricht erklären, warum das jüdische Blut vernichtet werden muß. Ich hatte den Stoff perfekt gelernt: Der Jude hat zwar Gehirn und Augen wie ein Mensch, aber moralisch steht er niedriger als ein Tier. Der Jude ist der Führer der Unterwelt. Wenn er nicht ausgerottet wird, ist das der Untergang des Abendlandes. Ich wollte ein Musterschüler sein. Wenn man überleben will, muß man eins werden mit dem Feind.
SPIEGEL: Ihr Vater hatte doch gesagt: »Vergiß nie, woher du kommst.«
PEREL: Ich mußte es vergessen, und es ist mir beinahe gelungen. Ich habe sogar versucht, meine Beschneidung rückgängig zu machen. Ich habe die Penishaut ganz nach vorne gezogen und mit einem Wollfaden zusammengeschnürt. Das hat natürlich nicht geklappt.
SPIEGEL: Hätte es Grenzen der Anpassung gegeben? Wie hätten Sie reagiert, wenn Sie als Aufseher im KZ eingesetzt worden wären?
PEREL: Eine schlimme Frage. Ich danke meinem Schicksal, daß es dazu nicht gekommen ist. Soviel ich mich kenne, wäre ich unfähig gewesen, mit einer Waffe in der Hand auf Menschen zu schießen. Als ich am Ende des Krieges zum Volkssturm eingezogen wurde, habe ich die Panzerfaust nicht benutzt.
SPIEGEL: Wie viele Menschen haben damals von Ihrem Doppelleben gewußt?
PEREL: Ein homosexueller Soldat an der Front, der sich in mich verliebt hatte, entdeckte beim Waschen meine Beschneidung. Da dachte ich, jetzt hilft mir kein Engel mehr. Aber ausgerechnet dieser eine war ein guter Mensch. Er sagte: »Du mußt keine Angst haben. Es gibt auch ein anderes Deutschland.« Von da an hat er mich nie mehr belästigt. Er wurde mein bester Freund.
SPIEGEL: Und warum haben Sie sich Ihrer Jugendliebe Leni nicht offenbart?
PEREL: Ich war einmal nahe daran. Aber ich konnte nicht sicher sein, was in dem BDM-Mädel stärker war: die Liebe zu Jupp oder die Treue zu den Nazis.
SPIEGEL: Aber Lenis Mutter haben Sie sich anvertraut . . .
PEREL: . . . und ich hatte wieder Glück. Sie hat mich nicht einmal ihrer Tochter verraten.
SPIEGEL: Ihr Schicksal erregt auch Anstoß. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Deutschland werfen Ihnen vor, die Veröffentlichung der Geschichte Ihres Überlebens verharmlose das Grauen des Holocaust.
PEREL: Besonders der Vorwurf einer jungen Frau hat mich geschockt, die sagte, ich hätte mir das Leben nehmen sollen. Superkluge verlangen von mir, daß ich mich schämen soll. Dabei müßten sich doch nur diejenigen schuldig fühlen und schämen, die einen Jungen in diese aberwitzige Lage bringen. Ich schäme mich für gar nichts. Ich wollte lieber moralisch leben als moralisch sterben. Das Leben ist heiliger als der Tod.
SPIEGEL: Wieviel haben Sie damals über die Judenvernichtung gewußt?
PEREL: Ich wollte es nicht genau wissen. Ich habe mich mit dem Gerücht getröstet, daß alle Juden nach Madagaskar geschickt würden. Von den Vernichtungslagern hatte ich keine Ahnung.
SPIEGEL: Sie sind Weihnachten 1943 ins Ghetto Lodz gefahren, um Ihre Eltern zu suchen. Ist Ihnen da nicht klargeworden, was mit den Juden geschah?
PEREL: Das war einfach furchtbar. Ich bin jeden Tag mehrere Male in HJ-Uniform in der verschlossenen Straßenbahn durch das Ghetto gefahren. Ich habe Menschen gesehen, die so ausgemergelt waren, daß sie kaum noch gehen konnten. Ich sah einen Wagen mit gestapelten Leichen, die waren notdürftig bedeckt, Arme und Beine hingen heraus. Äußerlich mußte ich gleichgültig erscheinen. Die Tränen flossen nach innen.
Einmal habe ich eine Frau über den Ghettozaun hinweg beobachtet, und ich wurde mir immer sicherer, daß es meine Mutter war. Ich hätte sie anrufen können, doch ich habe mich nicht getraut. Aber, daß tatsächlich Millionen von Juden umgebracht wurden, die Möglichkeit ließ ich nicht an mich heran.
SPIEGEL: Wie verkraftet einer soviel Selbstbetrug?
PEREL: Die Schizophrenie ging noch viel weiter. Ich hatte ein volksdeutsches Mädchen kennengelernt. Mit der feierte ich Silvester. Am Tage fuhr der Jude Sally verzweifelt durchs Ghetto, am Abend tanzte der Jupp.
SPIEGEL: Kein Wunder, daß Ihnen vorgehalten wird, Ihr Fall sei etwas für den Psychiater und nichts für Spielfilme und Bücher.
PEREL: Ich habe keinen Psychiater gebraucht. Ich wollte meine Geschichte mit ins Grab nehmen. Aber ich konnte nicht. Es kam der Tag, an dem ich nur noch die Wahl hatte, darüber zu reden oder im Irrenhaus zu landen. Zuerst habe ich es nur meiner Familie erzählt. Später dann setzte ich mich in einen Park und schrieb meine Geschichte auf. Ich schrieb auf deutsch. Der Jupp wollte heraus.
SPIEGEL: Nach 40 Jahren. Warum so spät?
PEREL: So eine Vergangenheitsbewältigung braucht ihre Zeit. Die meisten Holocaust-Opfer in Israel haben erst ihren Enkeln von den Schrecken erzählt. Druck von außen nützt da gar nichts. Das muß von innen kommen.
SPIEGEL: War es auch der Jupp, der Sie dazu brachte, den Kontakt zu Kameraden aus der Nazizeit wiederaufzunehmen, was Ihnen hier in Israel viele übelnehmen?
PEREL: Das war Neugier, aber es war auch Nostalgie dabei. Als ich 1987 die Einladung zum Kameradentreffen der 12. Panzerdivision erhielt, bin ich hingefahren. Ich wollte wissen, wer sind die, wer bin ich.
SPIEGEL: Hatten Sie den Eindruck, daß die mit sich so ehrlich umgegangen waren wie Sie?
PEREL: Nicht so ehrlich. Die Reden hatten immer das gleiche Muster: Wir haben als Soldaten nur unserem Vaterland gedient. Wir haben Befehle erhalten und sie ordnungsgemäß ausgeführt.
SPIEGEL: Und das können Sie entschuldigen?
PEREL: Nein, es gibt kein Verzeihen. Ich kann auch nicht verstehen, daß mein Antrag auf Wiedergutmachung in Deutschland abgelehnt worden ist.
SPIEGEL: Mit welcher Begründung?
PEREL: Es hieß, ich sei nicht meiner Freiheit beraubt gewesen, sondern hätte die »angenehme Aufgabe eines Dolmetschers an der Front ausüben dürfen«. Außerdem sei ich so raffiniert gewesen, mir die Zuneigung eines deutschen Offiziers zu erschleichen, der dafür sorgte, daß ich von der Front zur Hitlerjungen-Schule kam.
SPIEGEL: Da kommt keine Wut hoch?
PEREL: Haß und Rache führen zu nichts. Das gilt auch für die Probleme in Israel heute. Ich gehöre der Peace-now-Bewegung an. Wir müssen uns mit den Palästinensern an einen Tisch setzen und ihnen das Recht auf einen eigenen Staat einräumen.
SPIEGEL: Ihre Biographie hat Sie nicht zum politischen Anpasser gemacht.
PEREL: Nein wirklich nicht. Ich war auch noch in Israel ein begeisterter Kommunist. Ich glaubte, daß diese Ideologie »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« alle Probleme der Welt heilen wird. Das wurde die größte Enttäuschung meines Lebens. Nach der Chruschtschow-Rede über die Verbrechen Stalins 1956 bin ich ausgetreten.
SPIEGEL: Die Qualitätskontrolleure des deutschen Kinos halten den Film »Hitlerjunge Salomon« nicht für preiswürdig. Haben jene recht, die Agnieszka Hollands Inszenierung peinlich nennen, einen Kitsch, der nicht in das luxuriöse Ambiente einer Oscar-Verleihung passe?
PEREL: Ich halte den Film für gelungen. Er hat mir bei meiner Selbsttherapie sehr geholfen. Schlimm finde ich, daß Leute meinen, ein Film mit einer jüdischen Leidensgeschichte sei nicht vorzeigbar. Besonders im Lande der Täter sollten sich viele für das Thema stark machen. Die Regisseurin hat hier und da vielleicht ein wenig übertrieben, aber eigentlich hat sie die Stimmung getroffen.
SPIEGEL: Sie haben gesagt, Sie hätten nur vier Wochen gebraucht, um ein ordentlicher Hitlerjunge zu werden, aber ein ganzes Leben, um wieder ein achtbarer Jude zu sein. Haben Sie auch zum Glauben Ihrer Väter zurückgefunden?
PEREL: Ich war nie besonders fromm. Ich fürchte, die Marxisten haben recht, daß Religion das Opium für das Volk sei. Wie hat ein Gott den Holocaust zulassen können? Solange mir das niemand erklären kann, habe ich beschlossen, daß mein Gott in Lodz geblieben ist. *VITA-KASTEN-2 *ÜBERSCHRIFT:
Salomon Perel *
hat den Holocaust überlebt, weil er der totalen Vernichtung seines Volkes mit totaler Selbstverleugnung begegnete. 1925 als Sohn polnisch-jüdischer Eltern im niedersächsischen Peine geboren, landete Perel als Zehnjähriger auf der Flucht vor den Nazis in einem russischen Waisenhaus. 1942 geriet der überzeugte Komsomolze in deutsche Kriegsgefangenschaft und gab sich als der Volksdeutsche Josef Perjell aus.
Erst als Dolmetscher an der Front, dann in der HJ-Berufsschule des Braunschweiger Volkswagenwerks mutierte der kommunistische Jude Sally zum mustergültigen Jung-Nazi Jupp; Agnieszka Hollands umstrittener Film »Hitlerjunge Salomon« erzählt diese Geschichte.
Nach Kriegsende wanderte Perel nach Israel aus; bis Anfang der achtziger Jahre mochte er nicht einmal mit seiner Familie über seine traumatische Doppelexistenz sprechen.
Salomon Perel geht diese Woche mit seinem Lebensdrama »Ich war Hitlerjunge Salomon« auf Lesereise durch Deutschland.
* Mit SPIEGEL-Redakteuren Bettina Musall und Nikolaus vonFestenberg.