Engpässe in der Tumormedizin: Krebsärzten gehen die Diagnosemittel aus
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- ️Tue May 11 2010

Nuklearmedizinische Diagnose: "Nur noch auf die absoluten Härtefälle konzentrieren"
Foto: Jan-Peter Kasper/ dpaFür die Patientin ist es nur ein kleiner Stich, als der Arzt ihr das Technetium-99m spritzt. Doch er bedeutet viel: Bald wird sie Gewissheit haben, endlich. Immer wieder war die Untersuchung verschoben worden, weil für sie kein Kontrastmittel übrig war. Ist der Knoten in der Schilddrüse harmlos - oder Krebs? Muss sie operiert werden? Die Substanz in ihrem Blut wird es verraten, wenn sie gleich vor einer Spezialkamera sitzt, die die Entzündung in ihrem Hals aufnimmt.
Das radioaktive Kontrastmittel Technetium-99m brauchen Ärzte vor allem, um Tumore in der Schilddrüse, Knochenkrebs und Krankheiten von Herz und anderen Organen zu diagnostizieren (siehe Kasten links). Weltweit wird die Substanz allerdings nur von fünf Kernreaktoren produziert. Drei stehen in Europa, einer in Kanada und einer in Südafrika. Jetzt droht erstmals ein totaler Herstellungsstopp: Gleich alle fünf Meiler fallen in den nächsten Monaten gleichzeitig aus, Grund dafür sind Wartungsarbeiten und technische Probleme.
Für die Medizin hat das fatale Folgen: Untersuchungen sind kaum noch möglich. Kliniken und Ärzte sind auf ständigen Nachschub aus den Reaktoren angewiesen, denn Vorräte haben sie nicht angelegt. Das Kontrastmittel zerfällt innerhalb weniger Tage.
Der Engpass kommt nicht überraschend. Schon seit 2008 ist die Versorgung mit Technetium-99m extrem problematisch. Damals fiel Europas größter Produzent, der High Flux Reactor (HFR) im niederländischen Petten wegen eines Schadens im Kühlkreislauf aus. Nur mit einem Notfallplan konnten Strahlenmediziner die schlimmsten Folgen mindern. Viele Ärzte schickten Patienten in entfernte Praxen, wo es noch Restbestände an Technetium gab. Wenigstens die dringende Fälle konnten so noch ausreichend behandelt werden.
Doch jetzt werde es viel schlimmer kommen, warnt Wolfgang Mohnike, Professor und Arzt für Nuklearmedizin aus Berlin. "Wir werden uns nur noch auf die absoluten Härtefälle konzentrieren können", sagt er. Die Menge des verfügbaren Technetiums könne auf ein Zehntel sinken. Neunzig Prozent der rund 60.000 Behandlungen pro Woche in Deutschland müssten dann aufgeschoben werden. "Einem ist es aber egal, ob ein Reaktor läuft, oder nicht", sagt Mohnike. Das Problem: Ohne Diagnose lässt sich keine Tumortherapie starten. Geschwüre und können unerkannt wuchern.
"Es müssen dringend neue Reaktoren gebaut werden"
Vor allem technische Probleme bremsen die Technetium-Herstellung. Nur speziell dafür ausgelegte Forschungsreaktoren können den Grundstoff, das radioaktive Molybdän-99, erzeugen. Es zerfällt dann im zweiten Schritt zum so dringend benötigten Technetium-99m. Das geschieht in sogenannten Generatoren, kleinen Metallbehältern, die von der pharmazeutische Industrie produziert und an die Ärzte ausliefert werden.
Alle Forschungsreaktoren, die Molybdän-99 produzieren, sind jedoch um die 50 Jahre alt. Ausfälle und Störungen häufen sich, Wartungsperioden ziehen sich in die Länge. Seit Mai 2009 steht der weltgrößte Hersteller, der National Research Universal Reaktor (NRU) im kanadischen Chalk River wegen eines Lecks im Reaktordruckbehälter still. Ob und wann er wieder angefahren wird, ist unklar. Zusätzlich wurde der europäische HFR im Februar heruntergefahren, um den Kühlsystemschaden von 2008 endgültig zu reparieren. Vor August wird Petten nicht wieder anlaufen.
Mit NRU und HFR stehen 65 Prozent der Weltproduktionskapazität langfristig still. Hinzu kommt, dass die drei verbleibenden Reaktoren in Frankreich, Belgien und Südafrika abgeschaltet werden mussten. Vorgeschriebene Wartungsperioden sorgen bei ihnen für Zwangspausen.
Und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht: Petten hat nur eine Lizenz bis 2015, Chalk River maximal bis 2016. Spätestens dann klaffen dauerhaft riesige Lücken in der Technetium-Versorgung.
Forderung nach neuen Reaktoren
Inzwischen schlagen Ärzte und Kliniken Alarm. "Es müssen dringend neue Reaktoren für ausreichende Kapazitäten gebaut werden", fordert Manfred Gaillard, Geschäftsführer im Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner (BDN). Das Versorgungsproblem sei den europäischen Regierungen schon lange bekannt. Dennoch passiere nichts, fügt er hinzu.
Die Milliarden für einen neuen Meiler will derzeit keine Regierung in die Hand nehmen. Dabei gibt es eine viel preiswertere Lösung: Der Forschungsreaktor FRM-II in Garching bei München ließe sich für nur 5,4 Millionen Euro umrüsten. Schon Ende 2013 könnte er dadurch so viel Molybdän-99 produzieren, dass es für halb Europa reichen würde.
Seit über einem Jahr ist der Vorschlag auf dem Tisch. Zwar unterstützen Ärzte, Pharmakonzerne und die Politik den Vorschlag, der Streit dreht sich aber um die Finanzierung. Der Freistaat Bayern hat schon 1,2 Millionen zugesagt, die Industrie zwei. Nur der Bund hält sich mit Zusagen zurück.
"Herausgekommen ist Null Komma nichts"
"Auf Bundesebene streiten sich derzeit fünf Ministerien über den kleinen Betrag von 2,2 Millionen Euro pro Jahr", empört sich Manfred Gaillard. Er fordert eine "unverzügliche Entscheidung". Denn für den Umbau in Garching wird die Zeit knapp. Im Oktober wird der Forschungsreaktor zur Wartung heruntergefahren. Dann müsste er für die Molybdän-Produktion umgerüstet werden. Danach wäre ein neuer Anlauf erst wieder 2013 möglich.
"2,2 Millionen sind doch heute Peanuts", ärgert sich Winfried Petry, Wissenschaftlicher Direktor am FRM II über die Bundesregierung. Er sieht das in der Pflicht, das Geld zu besorgen. Und zwar schnell. "Seit Ende 2008 wird nur verhandelt. Herausgekommen ist dabei Null Komma nichts."
Stefan Kapferer, Staatssekretär im Gesundheitsministerium will trotzdem weiter sprechen: "Wir bemühen uns, alle Finanzierungsmöglichkeiten, auch auf EU-Ebene abzuklopfen", sagt er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Rechtzeitig vor Oktober muss eine Entscheidung über die Finanzierung der restlichen 2,2 Millionen Euro fallen."
Winfried Petry will zur Not ohne weitere Zusagen im Oktober die ersten Teile in seinen Reaktor einbauen. "Wir müssen auch handeln, wenn die Politik unfähig dazu ist." Die dafür nötigen 500.000 Euro werde man zur Not vorstrecken.
Technetium-Preise explodieren
Doch das Gezerre um die fehlenden Millionen könnte noch lange weitergehen, befürchten Beobachter. Das Gesundheitsministerium will das Problem erst einmal auf EU-Ebene diskutieren. Gebe es von dort kein Geld, heißt es, werde man auch weiter auf Bundesebene nach Mittelgebern suchen.
Doch wer könnte das sein? Das Forschungsministerium, das für den Forschungsreaktor in Garching mitverantwortlich ist, macht klar, dass es kein Geld geben will und kann. Vielmehr solle das Gesundheitsministerium "Wege finden", die Kosten "aus Mitteln des Gesundheitssektors zu decken", sagt ein Sprecher des Forschungsministeriums.
Die Ärzte haben für die Politik längst kein Verständnis mehr. Haben sie den Technetium-Engpass im Mai durchgestanden, ist der nächste für Juli schon absehbar. Das lässt sich aus den Betriebsplänen der Reaktorbetreiber ablesen. Mittlerweile bangen die Nuklearmediziner nicht mehr nur um ihre Patienten, sondern auch um ihr wirtschaftliches Überleben. In der Krise haben sich die Kosten für Technetium-99 zum Teil mehr als verdoppelt.
Jetzt beraten die Mediziner über einen historischen Schritt: Sie könnten selbst die 2,2 Millionen Euro zusammenzulegen - und als Investor in Garching einsteigen. Inzwischen, sagt BDN-Geschäftsführer Gaillard, sei die Wut unter den Ärzten groß genug für einen radikalen Schritt. "Die Politik hat uns verlassen."