Entdeckung in Ypern: In der Tunnelstadt der Weltkriegssoldaten
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- ️Tue Feb 17 2009
Die Gegend rund um die belgische Stadt Ypern ist flach, extrem flach. Soldaten haben hier keinen Sichtschutz vor feindlichen Zielfernrohren. Die Deutschen änderten daher ihre Kriegstaktik. Mit schwerem Geschütz wurden kilometerlange Frontabschnitte brachial bombardiert. Mit nie zuvor gekannter Wucht zerfetzten sie alles, was sie trafen. Selbst Schützengräben boten keine Deckung mehr. Die Folge: Eine halbe Million Menschen ließen in Ypern ihr Leben. Und als die deutschen Truppen im November 1918 endlich kapitulierten, war die Innenstadt nahezu vollständig verwüstet. Kaum noch ein Haus oder ein Baum stand.
Die Alliierten reagierten ihrerseits mit einer neuen Taktik: Sie gingen unter die Erde. Britische und neuseeländische Minenarbeiter und Abwasseringenieure bauten in der flämischen Tiefebene ein komplettes Höhlensystem. In den Jahren 1917 und 1918 lebten in und um Ypern mehr Menschen unter der Erde, als die Stadt heute Einwohner hat immerhin knapp 35.000. Die Tunnel und Höhlen waren logistische Meisterwerke. Es gab unterirdische Küchen, Krankenhäuser, Operationssäle, Systeme für Abwasser- und Müllentsorgung, in einigen Höhlen sogar Strom.
Nach dem Krieg geriet die Stadt unter der Stadt schnell in Vergessenheit. Eine dieser Höhlen, in der Soldaten einst Schutz suchten, hat Tony Pollard von der University of Glasgow entdeckt. Der Experte für Schlachtfeldarchäologie betrat nach 90 Jahren als erster Mensch das Höhlensystem: "Wir hatten nur eine alte Karte der Royal Engineers, auf der mitten in einem Feld ein Kreuz eingezeichnet war", erzählt Pollard im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Aber die Felder um Ypern sehen schon lange nicht mehr so aus wie zu der Zeit, als diese Karte entstand."
Ein Bauer nahe Zonnebeke, etwa acht Kilometer von Ypern entfernt, erinnerte sich noch an das tiefe Loch, das da inmitten seines Feldes geklafft hatte. Zunächst diente es als Brunnen, aber aus Angst, dass seine Kinder hineinfallen könnten, verschloss er den Schacht. "Ein schon lange versiegeltes Loch in einem Feld zu finden ist, wie die berühmte Nadel im Heuhaufen", sagt Pollard. "Wir wollten schon aufgeben. Aber dann, nur wenige Stunden, bevor wir unsere Sachen packen und unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren wollten, fanden wir den Deckel über dem alten Einstieg." Auf der Leiter, die hinab führte, konnte man noch die Abdrücke schwerer Soldatenstiefel ausmachen. Unten verschwanden die Sprossen im Wasser.
Aus dem amtlichen "Victor" wurde "Vampir"
Die erste Erkundung überließen Pollard und sein Team einem kleinen ferngesteuerten U-Boot. "Die Bilder, die es uns hoch schickte, sahen vielversprechend aus", erinnert sich der Archäologe. Das Team warf die Pumpen an. In vier Tagen wurden Hunderte von Tonnen schlammigen Wassers abgepumpt. Dann war es so weit - der Boden lag trocken.
Von der alten Karte kannten die Archäologen den Namen des Verstecks: Vampirhöhle. "Die Höhlen entlang der Frontlinie waren nach dem Alphabet benannt, also Schacht A, Schacht B, Schacht C und so weiter", erklärt Pollard. "Dies war der Schacht V. Aber statt die üblichen Buchstabierhilfen zu verwenden, also Alpha, Bravo, Charlie, ersetzten die Soldaten die Namen durch eigene Kreationen." Aus dem amtlichen "Victor" wurde so "Vampir".
Unten lag alles so da, wie die Soldaten es vor 90 Jahren verlassen hatten. Das kalte Grundwasser bietet ideale Bedingungen für die Erhaltung organischen Materials. "Wir fanden sogar eine zwar nasse, aber vollständig konservierte Socke", erzählt Pollard. "Den Fund zu reinigen war schon ein seltsames Gefühl eine 90 Jahre alte Socke zu waschen." Aber einen noch viel intimeren Einblick in das Leben unter Tage geben die leeren Flaschen und Dosen, die dort in Ecken und Winkeln lagen.
Das Essen der Soldaten war, wie man aus zeitgenössischen Berichten weiß, nicht besonders schmackhaft. Zu den begehrtesten Geschenken von zu Hause gehörten deshalb Gewürze oder Beilagen, die den Einheitsbrei erträglicher machten. In der Vampirhöhle lag ein Fläschchen HP Sauce, ein bekanntes britisches Würzmittel aus den Schoten des Tamarindenbaums. Stammte sie aus einem Päckchen, das eine liebende Mutter ihrem Sohn an die Front geschickt hatte? Weitere kulinarische Funde: eine kleine Büchse Sardellenpaste und eingelegte Salzgurken der Marke Baird. Das Glas kam aus Schottland so wie vielleicht auch sein Eigentümer.
An den Wänden zeigten dunkle Flecken jene Stellen, an denen Kerzen in einfachen Tonklumpen geklebt hatten. Ihr flackernder Schein war die einzige Lichtquelle in der völligen Dunkelheit 15 Meter tief unter der Erde. Aber trotz der beengten Lebensumstände hielten die Briten an einem heimischen Ritual fest: Teetrinken. Davon zeugt ein Kanister, der laut Aufschrift eigens fürs Wasserkochen reserviert war. Vor den Hauptaufgängen hingen schwere Vorhänge. Sie bezeugen die verheerende neue Kriegstaktik des Ersten Weltkrieges: den Einsatz von Giftgas.
Heute sind die Tunnel selbst eine Bedrohung
Der Name Ypern wurde im Ersten Weltkrieg zum Synonym für die Schrecken der chemischen Kampfstoffe. Hier setzten während der Zweiten Flandernschlacht am 22. April 1915 deutsche Truppen erstmals Chlorgas als Kampfmittel ein. Das schwere Gas sank in die Schützengräben, die Soldaten atmeten es ein, es zerstörte ihre Lungen. 5000 französische Soldaten starben qualvoll, 10.000 weitere wurden verletzt.
Am 12. Juli 1917 testeten die Deutschen einen weiteren Kampfstoff - wieder in Ypern. Dichlordiethylsulfid, besser bekannt unter dem Namen Senfgas, wurde von vielen Soldaten auch Yperit genannt - nach seinem ersten Einsatzort. Die Vorhänge vor den Eingängen zur Vampirhöhle waren ein verzweifelter Versuch, die sinkenden Gase aufzuhalten, falls sich eine Granate in den Einstiegsschacht verirrte.
"Das beeindruckendste Artefakt aber ist die ganze Konstruktion selbst", sagt Pollard. Ein stabiles Konstrukt aus Bahnschienen und schweren Holzbalken hält die unzähligen Tonnen Erde über den Gängen, der Boden ist mit Beton ausgegossen. Die Vampirhöhle war kein hastig in den Boden gegrabenes Versteck, sondern eine Zuflucht, deren Haltbarkeit auf Jahrzehnte ausgelegt war. Pollard und sein Team fanden eine der Wasserpumpen, welche die Gänge trocken hielten. "Als wir sie anschalteten, funktionierte sie noch einwandfrei nach fast einem Jahrhundert!" Wie groß die unterirdische Anlage tatsächlich war, ist schwer zu schätzen: "Nach etwa 15 Metern ist der Weg durch Geröll versperrt. Und eine Ausgrabung ist sehr kostspielig und gefährlich."
Heute sind die Tunnel selber eine Gefahr für die Bürger von Ypern. Denn trotz der stabilen Bauweise kollabieren immer mehr der unterirdischen Gänge. Und es liegen noch Tausende der vergessenen Tunnel unter den ehemaligen Frontlinien. Eine Gefahr für Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft, denn die verkraften Erdbewegungen solchen Ausmaßes nicht. Pollard untersucht die Stadt unter der Stadt daher nicht allein aus archäologischen Gründen: "Auch für die Menschen, deren Häuser heute durch einstürzende Gänge bedroht sind, ist es wichtig, dass wir uns endlich mit archäologischen Methoden dieser Artefakte aus dem Ersten Weltkrieg annehmen."