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Wir leben zwischen Wänden

  • ️DIE ZEIT (Archiv)
  • ️Thu Mar 08 1956

Wir leben zwischen Wänden", stellte vor einiger Zeit eine bemühte Tapetenfabrik in ihrer Werbeschrift fest. Tatsächlich betont das Haus unserer nördlichen Breiten die Wand, vollzieht sich unser Leben vorzugsweise im Innenraum, der von ihren vier Flächen umschlossen wird, nicht in Gärten, auf Terrassen, im innigsten Zusammenhang mit der Außenwelt, nicht im Innenhof, den Säulen umstellen und in den man durch Bögen oder eine Pergola immer wieder aus dem Hause hinaustritt. Immer wieder hat man gegen den Zwang zur schützenden, aber auch einschränkenden Wand protestiert: das Mittelalter verhängte die rohen Mauern mit Bildteppichen und machte sie so durchlässig für die Phantasie. Der Barock (vom Süden kommend) löste die Wand durch illusionäre Perspektiven auf, die ins "Draußen", in verschlungene Architekturen und unendliche Gärten führten, verwandelte, vom östlichen Vorbild angeregt, den Salon in eine umblühte Laube, zauberte Volieren, Jagd- und Schäferszenen al fresco auf die Wand oder eine sie verhüllende Stoffbespannung. Um 1800 gedieh der Papierhanddruck, der zu einem Teile diese Motive übernahm, und seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts übertrug die Tapetendruckmaschine immer fader werdende Muster auf das unendliche Papier. Wir schließlich brechen — licht, luft- und sonnenhungrig und im Drange, die "Welt ins Haus" zu holen — große durchsichtige Flächen, kaum noch Fenster zu nennen, aus der Wand heraus und geraten so in Gefahr, im Glashause zu sitzen und in eine desillusionierende Wirklichkeit hinauszuschauen (wenn wir sie nicht eigens mitgestalten).