Am Anfang steht ein Missverständnis
- ️Iris Radisch
- ️Thu Feb 14 2008
Warum gibt es so viel Aufregung über ein literarisch mittelmäßig bis dürftig geratenes, 1400 Seiten starkes Debüt eines bis vor Kurzem gänzlich unbekannten Autors? Die Antwort liegt auf der Hand. Das Buch ist eine strategische Provokation. Wäre dieses Buch einer der üblichen historischen Thriller, zu denen es seiner sprachlichen Ambition nach zu rechnen ist, wäre es bereits wieder in den Katakomben der Unterhaltungsliteratur verschwunden, Seite an Seite mit ungezählten anderen Wälzern voller splitternder Hirnschalen, ejakulierender Gehenkter, purpurroter Erwürgter und aufgeschlitzter Soldaten. Doch der jüdische Autor Jonathan Littell hat getan, was in der Tat noch niemand gewagt hat und was die Interpreten in Frankreich und in Deutschland verblüfft und herausfordert. Er spielt 1400 Seiten lang SS-Obersturmbannführer. Er beschreibt den NS-Täter nicht – das haben schon viele getan –, er erkundet, wie sich Täterschaft von innen anfühlt. Der detaillierte Bericht des nach Frankreich geflohenen SS-Mannes Dr. Max Aue über seine Jahrzehnte zurückliegenden Kriegserlebnisse füllt eine publizistische Lücke, die merkwürdigerweise noch niemandem aufgefallen war.
Diese Kühnheit hält die literarische Welt in Atem. Das Selbstporträt eines Mörders zu zeichnen, seine Kaltblütigkeit, seinen Amoralismus und seine Verwirrung in literarischer Stellvertreterschaft anzunehmen, ist ein Projekt von dostojewskijschem Format. Um es gleich zu sagen: Die ungewöhnliche Perspektive dieses ambitionierten Romans ist nicht das Problem. Sie ist im Gegenteil seine eminente Chance, dem Landser-Kitsch, dem Doku-Thriller und dem Edelporno zu entkommen, in die das Buch an vielen Stellen abzusinken droht. Das Problem ist auch nicht Dr. Max Aue, der Platon, Stendhal, Flaubert, Plutarch, Kant und Hegel lesende NS-Mörder, der mit seinen Opfern vor der Exekution zuweilen noch Altgriechisch zu parlieren pflegt. Einen solchen SS-Musterschüler mag es nicht gegeben haben, er mag auch gegen jede historische Wahrscheinlichkeit entworfen sein, doch ist historische Wahrscheinlichkeit kein Kriterium literarischer Beurteilung. Max Aue muss kein Mensch sein, den es so gegeben haben könnte. Dostojewskijs Mörder Raskolnikow ist das auch nicht. Beide sind eher ein Geisteszustand als Menschen aus Fleisch und Blut. Das ist kein Nachteil. Literatur ist im weitesten Sinn auch nur ein Geisteszustand. Sie hat große Freiheiten gegenüber der Geschichte. Das Problem dieses Romans liegt einzig darin, wie und zu welchem Endzweck Littell diese Freiheit nutzt. Das Problem liegt darin, dass Max Aue mitsamt seinem Geisteszustand 1400 Seiten lang den Nachlass des Nationalsozialismus poliert.
Das, darf man einwenden, ist auch nicht verwunderlich. Schließlich spricht hier ein zwar zu existenziellem Nihilismus neigender, enttäuschter, aber anhaltend unbekehrter und keineswegs selbstzerknirschter Nationalsozialist. Alle Widerwärtigkeiten, aller Kitsch, aller weltanschauliche Schwachsinn, die in diesem Buch in quälender Ausführlichkeit verbreitet werden, gehen auf sein Konto. Nicht auf Littells Konto. Das muss man ausdrücklich hervorheben, weil Autor und Figur sich immer wieder zwillingshaft zu vereinen scheinen. Viele Ausführungen Aues kehren in Littells Interviews wieder, und die beiden teilen offenbar zahlreiche Vorstellungen und Lieblingsautoren. Dennoch bleibt unklar: Was sollen wir mit dieser endlosen Rollenprosa eines überzeugten Nationalsozialisten und Rassisten?
Littell souffliert uns in seinen Interviews, die er in Frankreich gegeben hat, eine Antwort: Wir sollen während dieser mühsamen, häufig ekelerregenden, noch häufiger einfach langweiligen Lektüre etwas über die tiefsten Motive der NS-Täter erfahren. Von Anfang an, sagt er in einem Gespräch mit dem französischen Historiker Pierre Nora, habe ihn "die Frage nach den Motiven der Leute, die töten, gefesselt. Viel mehr als die Opfer."
Das ist ein starkes Argument. Die tiefsten Motive der NS-Täter sind ein ungelöstes Geheimnis. Wenn das Versprechen, dieses Geheimnis zu lüften, in diesem endlosen Buch auch nur für Augenblicke eingelöst wird, dann wären in der Tat alle Mühen, alle Qual, die man mit diesem geschwätzigen Buch hat, nicht vergeblich gewesen. Dann wäre es aller literarischen Mängel zum Trotz ein großes Buch.
Die französische Kritik hat diese Frage bereits beantwortet. Sie behauptet, von vereinzelten Gegenstimmen abgesehen, Littell habe das Wunder vollbracht. Er habe die Untiefen der NS-Täterschaft ausgeleuchtet, er sei in den Sumpf gestiegen wie Dante in die Hölle und habe von dort kostbare Erkenntnisse ans Licht befördert. Er habe aus den Unmenschen Menschen gemacht, den Mördern ein Gesicht und eine Familiengeschichte gegeben, der europäischen Literatur die große Erzählung des 20. Jahrhunderts geliefert und so weiter. Diese Lesart ist von Jorge Semprún über Pierre Nora bis zum Literaturteil von Le Monde in Frankreich die dominierende. In dieser Lesart ist alles Misslungene des Romans – die Kolportage, der Kitsch, die Pornografie, das NS-Geschwätz – nichts als ein notwendiger Baustein zum Gelingen des Ganzen. Da nun das Buch am 23. Februar auch in Deutschland erscheint, wird man aus deutscher Sicht hinzufügen müssen: Von kostbaren Erkenntnissen kann keine Rede sein. Dieses Buch ist allenfalls eine Bibliotheksfantasie, ein gebildetes und größenwahnsinniges Spiel mit Unmengen von Archivmaterialien. Das wäre noch kein Schade. Viele Bücher spielen mit vorgefundenen Materialien, auch NS-Materialien. Der Hauptvorwurf, der in Frankreich erstaunlicherweise nicht erhoben wurde, geht jedoch darüber hinaus: Das Buch ist mehr als nur ein literarisches Spiel mit Dokumenten. Es ist eine verstörende Arbeit am nationalsozialistischen Mythos.
Dr. Max Aue ist die gebildete Bestie aus dem Oberseminar
Aus vielerlei Gründen. Der Hauptgrund ist das unverständliche Bestreben Littells, seinen Helden und die Ideologie, die er vertritt, zu veredeln und gleichsam "hoch zu schreiben". Dr. Aue ist die gebildete Bestie aus dem Oberseminar. Er verachtet die nationalsozialistischen Schlächter und vertritt einen modernen intellektuellen Nationalsozialismus, den er für die reine Lehre hält. In den Sicherheitsdienst treibt ihn ein "leidenschaftlicher Wunsch nach dem Absoluten und der Grenzüberschreitung", die ihn in besseren Zeiten vermutlich ins Kolloquium über Georges Bataille geführt hätten. Er liest und bewundert Ernst Jünger und verachtet die "Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze" und die "laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrages". Er vertritt einen "abstrakten, intellektuellen Antisemitismus", der die Massenabschlachtungen in der Ukraine, an denen er gleichwohl teilnimmt, nur seufzend (beziehungsweise unablässig kotzend) in Kauf nimmt. Er ist kein blinder Technokrat, sondern ein Edelnazi, der die Judenfrage gerne kühler, sachlicher und vor allem für das Deutsche Reich effizienter gelöst hätte. Immer wieder wird in dem Roman suggeriert: Mit diesem, dem intellektuellen, dem nüchternen und geläuterten und nicht durch "viele Mechanismen der Entscheidungsfindung pervertierten und verderbten" Nationalsozialismus hätte man auskommen können.
Über eine derartige Ehrenrettung des gehobenen Nationalsozialismus muss nicht debattiert werden. Entscheidend ist nur: Diese schnittigen, juvenilen Gedankensplitter der konservativen Revolution und die Nachtgewächse des französischen akademischen Diskurses tragen nichts bei zur Lösung der schmerzhaften Frage, was genau unsere Großväter zu Mördern gemacht hat. Insofern bleibt dieser Dr. Max Aue als literarische Figur ein ärgerliches Spiel und eine schockierende Obsession.
Veredelt wird der Edelnazi auch durch das intertextuelle Spiel des Romans mit der Orestie des Aischylos, das noch viele Doktorarbeiten alimentieren wird. Aue als Orest, die beiden Polizisten, die Aue als Muttermörder überführen, in der Rolle der Erinnyen (auf Deutsch der "Wohlgesinnten"), die Zwillingsschwester Una, der Aue inzestuös verfallen ist, als Elektra und so weiter – all das sind hochkulturelle Köder, nach denen die Interpreten schnappen wie der Fisch nach dem Wurm an der Angel. Doch das literaturgeschichtliche Veredelungsprogramm mag noch so virtuos inszeniert sein. Seine Botschaft ist zweifelhaft: Wenn Aue ein antiker Held oder diesem doch vergleichbar ist, hat seine Tragik mythologische Ausmaße. Sie ist schicksalsgegeben, unerreichbar für die christliche Verantwortungsethik.
An diesem Punkt laufen alle Motive zusammen: Orest folgt dem Fatum. Aue "findet sich" eines Tages als SS-Obersturmbannführer wieder. "Der grauenhafte Morast" war es, der die Menschen "zwang", sich gegenseitig zu töten. "All das Böse drang" wie von selbst in Aues Leben. Sein persönliches Gewissen hat Dr. Aue ganz und gar seinen Verdauungsorganen überantwortet, über deren beklagenswerten Zustand man in analerotischer Ausführlichkeit laufend informiert wird. "Der Zusammenhang zwischen Wille und Verbrechen", erklärt der SS-Offizier in endlosen Tiraden, sei nur "eine christliche Vorstellung", aber – dieser Beweisführung dient der ganze Roman – eine falsche. Ein großes fatalistisches Schulterzucken geht durch das Buch: Was geschehen ist, ist geschehen, musste geschehen. Die christliche Moral, die menschliches Geschehen bewertet, wird als rückständiges Ideengut verhöhnt.
Littell stellt den Täter ins Zentrum –und erklärt ihn für unschuldig
Auch Littell bevorzugt, wie er Pierre Nora erläutert hat, eine "strukturalistische" oder "funktionalistische" Betrachtung des Nationalsozialismus, die ebenfalls die Frage nach der individuellen Verantwortung als eine "Rückkehr zur Standard-Erzählung" vernachlässigt. Das Problem der Ausrottung, sagt er, solle am besten universalisiert und "dejudaisiert" werden. Hier liegt das größte Paradox des Romans: Wenn Autor und Erzähler der Ansicht sind, dass der einzelne Mensch und sein Innenleben für die Erklärung der deutschen Verbrechen bedeutungslos sind, dann ist ein Roman, der sich dieser persönlichen Innenperspektive ganz und gar anvertraut, sinnlos. Dann müssen Strukturzusammenhänge, Funktionsverläufe und Dokumente, nicht Seelen untersucht werden. Zwischen beidem kann sich Littell (deswegen ist der Roman so angeschwollen und letztlich rein additiv gestaltet) nie entscheiden, beides kann er nie überzeugend verbinden. Den Täter aber ins Zentrum zu rücken, intellektuell und mythologisch aufzurüschen und gleichzeitig für unschuldig – im antiken Sinn schuldunfähig – zu erklären, das ist Legendenbildung. Eine Überhöhung des Täters, wie sie eine am Stockholm-Syndrom leidende Geisel vornimmt. Beinahe eine Heldenerzählung. Aber wozu, bitte schön, brauchen wir einen nationalsozialistischen Helden?
Bleibt noch ein Wort zum sogenannten Stil des Romans, von dem Pierre Nora sagt, es gebe in ihm "keinen einzigen falschen Ton". Zunächst muss man sagen, dass dieser Roman auch im französischen Original zu einem beträchtlichen Teil auf Deutsch geschrieben ist. Es wimmelt darin nicht nur im Militärsprachlichen von "Oberfehlshabern", "Generalfeldmarschällen" und "Befehlsnotständen", sodass manche Sätze geradezu deutsch-französisch ausfallen ("…le lendemain matin le Standartenführer Blobel réunit ses Leiter" und so weiter). Es gibt den "Führervernichtungsbefehl", den "Schnaps", die "Herren", den "Genickschuss", den "Übermenschen", das "Feldgrau", den "Strichjungen", die "Endlösung" nur auf Deutsch. Einem französischen Kritiker ist vor lauter Germano-Chic so schwindelig geworden, dass er schlussendlich die "Endlösung" mit der "Erlösung" der Juden verwechselte.
Die Sprache bedient sich beim Standardvokabular des Horrors
Darüber hinaus ist anzumerken, dass der Roman entweder gar keinen Stil hat, weil er sich ganz auf den dokumentarischen Rapport im anspruchslosen Hauptsatzformat zurückzieht, oder einen schwülstigen, primitiven Ton anschlägt, wenn Aue sich in homosexuellen, inzestuösen oder analerotischen Fantasien ergeht (vor dem Foto der Mutter "wichste ich oder blies meinen Liebhabern einen oder ließ sie darauf abspritzen" und so weiter). Um das Grauen an den Erschießungsgräben in der Ukraine, an der Rampe von Auschwitz oder in den Eiswüsten von Stalingrad (Dr. Aue war überall, wo was los war) zu beschreiben, bedient Littell sich beim Standardvokabular des Horrors ("…die Schreie durchbohrten das Gehirn wie ein Messer, das in einem dicken, klebrigen Morast voll von Würmern und schmutzigem Leben wühlte" und so weiter).
Dem deutschen Übersetzer ist das in keiner Weise anzulasten. Er hat sein Bestes getan und sich sicherlich auch zu Herzen genommen, dass er – so Littell in einem gelahrten Brief an seine Übersetzer – insbesondere auf die "Tempora der französischen Verben in der großen Tradition Flauberts" und "die Interpunktion des 18. Jahrhunderts in Frankreich" achten solle. Viel geholfen hat das nicht: Der Ton des Romans ist, die Interpunktion des 18. Jahrhunderts hin oder her, öde, hochtrabend und floskelhaft. Aber Pierre Nora hat recht: Warum sollte ein SS-Obersturmbannführer auch besser schreiben können?
Das ungelöste Geheimnis, warum unsere Großväter zu mitleidlosen Mördern wurden, hat dieser Roman nicht gelöst. Oder nur insofern gelöst, als er die Schuldfrage entkräftet. Über den Kriegsverlauf und die einzelnen Stationen und technischen Schwierigkeiten des NS-Ausrottungsprogramms lässt sich in dem detail- und dokumentengetreuen Werk vieles, aber nicht viel Neues in Erfahrung bringen. Manche der hier ausgebreiteten Interna des NS-Netzwerkes und des NS-Ränkewesens mögen so noch nicht erzählt worden sein, sind in ihrer staubigen und langweiligen Kleinkariertheit aber auch nicht in dieser Ausführlichkeit erzählenswert. Die antike Sexualtragödie, die bis in die letzten Winkel der feuchten Schwester-Vulva ausgekostet wird, bleibt ein küchenpsychologischer Nebenschauplatz. Und eine vulgärerotische Primanerfantasie, die dadurch nicht an Attraktivität gewinnt, dass sie in den trüben rassepsychologischen Niederungen des Romans noch einmal aufgegriffen wird. Wie die unglückseligen Zwillinge der Familie Aue sollen auch die Juden und die Deutschen durch eine aussichtslose, zerstörerische Zwillingsliebe verbunden sein. Die Beweislage für diese Deutung des Holocaust ist dürftig, aber immerhin verschafft Aue seinem Führer einen kurzen Romanauftritt mit Schläfenlocken und Gebetsriemen und beißt Hitler in dessen letzten Lebenstagen im Führerbunker in die übergroße Nase.
Bleibt die allerletzte Frage: Warum sollen wir dieses Buch eines schlecht schreibenden, von sexuellen Perversionen gebeutelten, einer elitären Rasseideologie und einem antiken Schicksalsglauben ergebenen gebildeten Idioten um Himmels willen dennoch lesen? Ich muss gestehen: Pardon, chers amis français, aber auf diese Frage habe ich keine Antwort gefunden.