Oskar Negt
glossen: artikel
Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags zum 10-jährigen Bestehens des Studiengangs Kulturwissenschaft an der Universität Bremen, den Oskar Negt am 29.11.1996 gehalten hat. Die einleitenden Anspielungen beziehen sich auf diese Situation.
Was ist das: Kultur?
Oskar Negt
Meine Damen und Herren, was mich betrifft, würde das jetzt für eine Festveranstaltung völlig ausreichen, was in den Vorreden gesagt wurde. Es ist befriedigend, es weist irgendwie in die Zukunft, und jeder kann sich damit identifizieren. Der Teufel muß mich geritten haben, als ich in traumwandlerischer Gewißheit zu dem Thema etwas sagen zu können, zustimmte, eine Aufgabe zu übernehmen, über das, was Kultur sei, hier zu reden. Der leichte Anflug ironischen Lächelns in den Gesichtern meiner Vorrednerinnen verkündet mir Unheil, wenn sie gespannt darauf seien, was das wohl sein könnte - Kultur, und was ich dazu zu sagen hätte. Das hätte ich voraussehen müssen. Deshalb beginne ich mit vier Verlegenheiten.Die eine Verlegenheit ist in der Tat - und Sie haben freundlicherweise in Ihren wirklich rührenden Einleitungsworten darauf schon verwiesen - ich habe immer Schwierigkeiten vor versammelter Fachkompetenz zu reden zu einem Thema, das nicht ganz woanders liegt. Also vor Kulturwissenschaftlern über Kultur zu reden, nimmt mir zunächst den Atem. Ich meine das gar nicht abwertend und ironisch, sondern wenn man sich fragt "was ist Soziologie, was ist Germanistik?" habe ich jedenfalls meinen Studenten und Studentinnen immer gesagt "was die Germanisten machen ist Germanistik, und was die Soziologen machen, ist Soziologie" - als grobe Orientierung. So könnte man ja hier auch sagen, Kulturwissenschaft ist das, was die Kulturwissenschaftler machen; und das bringt die zweite Verlegenheit. Ich habe mich vorbereitet, indem ich die Vorlesungsverzeichnisse der letzten Zeit studiert habe, und ich habe eigentlich kein nennenswertes Thema gefunden, das es nicht da gibt, außer einem einzigen! Darauf werde ich noch zu sprechen kommen, ich hoffe, ich vergesse es nicht, aber ich will es jetzt noch nicht sagen.
Literaturgeschichte, Öffentlichkeit, Kindheitsgeschichte, Märchen, Familie; Sie haben ja selber dankenswerterweise das noch einmal dokumentiert durch historisch beweisbares Material, also nicht nur durch die Ankündigungen, und das ist ein Hinweis schon auf das Thema: alle großen historischen Begriffe, wie Nietzsche einmal gesagt hat, sind nicht definierbar. Alles, was sich im gesellschaftlichen Leben wirklich abspielt, ist durch Definitionen nicht vollständig faßbar, und das könnte ein Zeichen dafür sein, daß in den kulturellen Suchbewegungen gerade diese Vielfältigkeit, solche offenen Prozesse, solche Annäherungen das bestimmen, was Kultur heute ist. Und das dritte ist, was ist das Objekt der Kulturwissenschaft? Natürlich Kultur. Aber was ist das? Und welche Ausdrucksformen hat das? Wieweit sind wir befugt zu gehen, wenn wir den Begriff der Kultur so auf das beziehen, was wir als Wissenschaftler leisten können, das heißt: in der methodischen Zugangsweise zu einer Sache und in begründender Argumentation. Wieweit können wir da gehen, den Begriff "Kultur" zu dehnen? Und viertens vielleicht das Problem des Anlasses: "Festvortrag" - so ist es angekündigt; aber der Kultur, und was damit verknüpft ist, geht es heute nicht gut. Es ist also eher eine Trauerrede, die man halten müßte, als eine Festrede, wo etwas was im Aufbruch begriffen ist und was vielleicht gestützt werden sollte, noch bekräftigt werden kann in einer solchen Rede.
So bin ich auf Annäherungen, offene Fragen angewiesen. Es sind
Reflexionen, die ich anzubieten habe, Überlegungen aus meinem eigenen
Erfahrungs- und Lebenszusammenhang, aber keine festen Positionen und schon
gar keine Definitionen, "clare et distincte", was Descartes für sie
gefordert hatte. Ich will es versuchen auf einer Ebene, die mich zunächst
auch einfügt in das, was hier gemacht wird. Gerne habe ich die Zeitschrift
"Haute culture" Nr. 13 in die Hand genommen - Ihnen wird sie geläufig
sein - und da sagt Rainer Stollmann folgendes (das ist eine Krücke,
an die man ganz gut anknüpfen kann, in einem solchen Vortrag): "Mir
stellt sich gelegentlich die Frage, ob die Tatsache, daß auch, auf
unseren Zulauf bezogen, Kultur solch ein Renner ist, daher kommt, daß
sie in Wirklichkeit verschwunden ist, und daß die Leute dies merken
und sich deshalb so sehr darum kümmern, kümmern wollen, (wollen
in Klammern) gesetzt. Und Ralf Rummel, mit dem Sie, Rainer Stollmann, da
diskutieren, sagt: "Ich denke eher, daß die Kultur inzwischen so
aufgebläht ist, daß fast alles da hineinfließt z.B. mit
solchen Stellen" ã offenbar ist gemeint die Ausbildung auch für
Leute, die bei RTL arbeiten. Und Rainer Stollmann präzisiert: "Was
ich mit verschwindender Kultur meine, ist zum einen der Verlust des Politischen,
zum anderen von Lebensformen und Lebenskulturen. Ich glaube, daß dieser
Prozeß wahrgenommen wird und daraus ein gewisses Bedürfnis entsteht,
sich mit Kultur zu beschäftigen." Das nehme ich als Ausgangspunkt
für meine Überlegungen.
In der Tat ist es heute so, daß der inflationäre Gebrauch
des Begriffs "Kultur" auf ein gebrochenes Selbstverständnis hindeutet,
und wir sind darauf verwiesen, nachzufragen, was er auch verdecken soll.
Man könnte vielleicht sogar davon sprechen, daß Kultur eine Art
Schambegriff geworden ist, als sollte etwas zugedeckt, verschlossen, vielleicht
verschlüsselt werden, was sich in Bereichen der unterschlagenen Wirklichkeit
so unberührt aufhalten kann, wenn man es wenigstens benennbar macht.
Unternehmenskultur, Kultur der Armut, viele dieser Dinge sind mit dem Etikett
"Kultur" versehen, Streitkultur, und jetzt haben sie noch die Interbestimmungen,
die zwischenkulturellen Ortsbestimmungen, das heißt: die Vernetzungen
dessen, was es hier gibt.
Es ist eine sehr merkwürdige Erfahrung für mich, daß
ich, wenn ich zurückblicke in die Geschichte um das beginnende Jahrhundert
und das Ende des letzten Jahrhunderts, eine ähnliche Mühe sehe
um den Kulturbegriff. Da finden Sie in den akademischen Bereichen sehr viele
Leute, die sich um Kulturwissenschaft kümmern: Heinrich Rickert, Wilhelm
Dilthey, Wilhelm Windelband. Sie finden hier den Versuch, nomothetische
Wissenschaften, das heißt Gesetzeswissenschaften, Naturwissenschaften
methodisch abzugrenzen von den sogenannten ideographischen Wissenschaften.
Und Max Weber spricht von der Kulturbedeutung aller gesellschaftlichen
Erscheinungen um diese Zeit. Ist vielleicht der inflationäre Gebrauch
der Kultur heute die Andeutung eines möglichen gesellschaftlichen Unheils,
das darunter wächst, im Verborgenen gehalten wird? Verborgen, so daß
durch eine ungeheure kulturelle Betriebsamkeit die Menschen sich fernzuhalten
versuchen von zentralen Widersprüchen und Zuspitzungen ihrer Gesellschaft?
Ist das möglich? Denn gerade in solchen gesellschaftlichen Umbrüchen,
wie wir sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg - jedenfalls im ersten Jahrzehnt
dieses Jahrhunderts - und heute wieder finden, werden ganz verschiedene,
ja manchmal völlig unvereinbare Dinge leicht mit dem belegt, was auch
den durchsichtigsten Interessen noch die Würde einer kulturellen Aura
verleiht; Kultur oder der Kulturbegriff sind zu einer Form magischer Praxis
geworden. Man bannt, was bannend ist, indem man einen Titel verleiht, einen
Namen gibt. Wenn man z. B. Unternehmenskultur sagt, ist der Profit schon
nicht mehr so schäbig. Ja, man kann sagen, der gehört dazu, das
ist eine Kulturerscheinung allerhöchsten Grades.
Wer will schon einem Unternehmen, das wirklich an der Unternehmenskultur
arbeitet, Tag und Nacht daran denkt, wer will der Deutschen Bank, die in
den Etagen ihres Hochhauses verschiedene junge, auch unbekannte Künstler
ausgestellt hat, nicht nur Joseph Beuys (der jetzt bereits Klassikerrang
hat), das Kulturbedürfnis absprechen, das sich hier mit viel Geld
assimiliert? Und Sie haben auf allen Ebenen, auf buchstäblich
allen Ebenen ähnliche Versuche, durch Kulturarrangements die
Affekte zu kontrollieren, die sich auf diskriminierte oder gar tabuierte
Dinge richten. Kultur bricht Affekte. Kultur ist, wie Norbert Elias das
beschrieben hat, ein Element der Affektkontrolle, auch im Sinne derjenigen,
die sich eben mit dem Begriff der Kultur eindecken. Beschwörungsrituale
sind es, wenn namhafte Werbemanager ã mit einem dieser berühmt
gewordenen Theoretiker dieser Branche habe ich jüngst darüber einen
öffentlichen Disput geführt ã Kultur, Kunst und Werbung
ununterscheidbar machen. So war es mir in dieser Diskussion nicht möglich,
meinem Gesprächspartner klarzumachen, daß es hier Unterschiede
im Wahrheitsgehalt gibt; in den Graden der Manipulierbarkeit, der
Äußerlichkeit der Ausdrucksformen, des Interessenbezogenen zwischen
Kultur, Kunst und Werbung. Die gelungene Werbung ist Kunst, sagte er, und
natürlich ist Kunst Kultur.
Wo den Dingen und Verhältnissen das Wort Kultur assoziativ
angefügt werden kann, sind auch Banalität und Endlichkeit gebrochen.
Das Tote, das Gehässige und Häßliche, sie haben etwas von
der Erdenschwere verloren. Was den inneren Widerwillen, die Idiosynkrasien
der Menschen ausmacht, nimmt durch kulturelle Konnotationen eine Blickrichtung
nach oben. Ich lese in der Frankfurter Rundschau vom 23. November 1996 folgenden
Artikel, der überschrieben ist "Das Kulturgut Tod darf nicht länger
ignoriert werden". These 4 lautet: "Mit dem schwindenden Einfluß
der Kirchen und Sinngebungsinstitutionen entsteht an der Schwelle der
Informationsgesellschaft eine riesige Begleitungslücke bei der seelischen
Verarbeitung von Schwellenzeiten des Lebens". Sie haben hier im Grunde
die ganze Philosophie in den Alltag gebracht, von Schwellenzeiten wird geredet;
viele ehrwürdige Arbeitsbegriffe der Wissenschaft sind abgesackt in
den Absud journalistischer Begriffsbildungen, die in hoher Philosophie einst
beheimatet waren. "Also 'Schwellenzeiten des Lebens', Geburt, Adoleszenz,
Trennungen, Tod. Bereits auf dem heutigen dürftigen Stand der Trauerkultur
zeichnen sich die ersten Folgen des Rückzugs der Kirschen aus diesen
Feldern ab. Die archaischen Grundzüge des Menschen melden sich in Krisen
und Abschiedszeiten z.B. beim Tod eines Menschen wie eh und je in ihrer
ungezügelten Wildheit zurück - deshalb Kultur -und erschrecken
die Lebenden mit panischer Angst. Wer wird in Zukunft Archaik und moderne
Lebensweltlichkeit miteinander befrieden? Wer die Rituale und symbolischen
Formen der Übergangsriten als gesellschaftliche Hilfen bereitstellen?
Hier liegt eine weitere Herausforderung an das Bestattungswesen." Die
Übergangszeiten brauchen andere Helfer. Der Mann, dessen Memorandum
ich eben zitiert habe, ist als Berater und Bestatter Vorsitzender einer
Genossenschaft. Und die Konsequenz aus dieser Sache ist jetzt, daß
er vorschlägt, die drei großen B's künftig verstärkt
in das öffentliche Blickfeld zu rücken. Das ist: Begleiten,
Bestatten, Bilden. Begleiten, Bestatten, Bilden, das ist gar nicht so
unsinnig, das Ganze. Ich habe das hier zitiert, nicht aus Hochmut, sondern
weil diese merkwürdige Metapher Kultur benutzt wird für all das,
was für die Menschen unter Sinnverdacht steht. Natürlich ist
Trauerarbeit ein uraltes kollektives Ritual, das gerade in seiner
Kollektivität zerstört ist. Und selbstverständlich ist es
etwas, was zu den großen Hochkulturen gehört, gerade die Gemeinschaft
der Bestattungsrituale. Es klingt hier nur so merkwürdig, weil es absolut
nüchtern und im Sinne eines Interessenverbandes vorgetragen wird; die
drei großen B"s, wie er sagt, beabsichtigen Verbandswerbung.
Wenn aber schon das Bestattungswesen andere Helfer benötigt, wie
erst, wenn es um die Totenerweckung lebendiger "Kulturgüter" geht?
Dialektische Kulturkritik ging zentral auf die Enthüllung des wahren
Charakters der Kultur; was sich im "Gut" dokumentiert, im Kulturgut, trug
schon das Unwahrheitssiegel der Ware. Adorno, Benjamin, Horkheimer, Marcuse,
alle haben, soweit sie die Kulturindustrie zum Gegenstand ihrer Kritik machten,
das Verstorbene der Kultur, das Tote der Kultur, das
Gegenständliche, den Warencharakter der Kultur, so wie Marx von der
Ware als verstorbener lebendiger Arbeit spricht, zum Gegenstand ihrer
Kritik gemacht.
Diese Kultur möchte ich zunächst in ihrer kritischen Dimension
kennzeichnen, um dann zu versuchen, einen Gegenwartsbezug zu dem herzustellen,
was in meiner Blickrichtung Kultur und Kulturkritik heute sein könnten.
Diese Kulturkritik, soweit sie den dialektischen Sinngehalt der objektivierten
Gebilde betrifft, ist auf Zweierlei einer notwendigen Dechiffrierung gerichtet.
Zum einen auf den Zeitkern dessen, was sich hier verewigt gibt. Die
Enthüllung und Dechiffrierung des Zeitkerns der Wahrheit, auch in der
mit Ewigkeitsverdacht belasteten Kunst und der Kultur, ist wesentliches Element
der Kritik von Benjamin und Adorno, in diesem großen Bogen gesprochen.
Öffentlich nachprüfbare Enthüllung dieses Zeitkerns der Wahrheit
bedeutet nie bloße soziologische Zuordnung zu Interessen und Schichten;
was sich im Zeitkern der Wahrheit vergegenständlicht, ist der emanzipative
Zielinhalt einer Epoche, wo die Menschen auch hinwollen. In dem Sinne zitieren
beide, Benjamin und Adorno, einen Satz von Stendhal: Kunst sei promesse de
bonheur, ein Versprechen auf Glück. Das Versprechen enthält mehr,
als die Wirklichkeit ausmacht.
An diesem Kulturbegriff möchte ich zunächst festhalten,
daß Kultur nicht bloßes Etikett der Wirklichkeit ist, sondern
ihrem Wahrheits- und Substanzgehalt nach wie vor etwas Wider-Sinniges,
Eigensinniges, Widerständiges, Antizipatorisches bezeichnet, was gerade
Wirklichkeit sprengt. Und in den stimmigen, d.h. wahrheitshaltigen Gebilden
kultureller Produktion sehen Adorno und Benjamin - ich nehme sie hier einmal
zusammen - im Grunde eine Verflechtung, eine innere Verflechtung von Fortschritt
und Barbarei, Wahrem und Falschem. (Kultur ist, um ein Wort Spinozas zu
variieren, "index sui et falsi", auch Zeichen des Falschen.)
Von Fortschritt ist in dem Sinne zu reden, daß in der Tat hier die
Stimmigkeit der Kunstwerke und der gesamten Kultur einen Zustand der Gesellschaft
für möglich erklärt, der einer von Freiheit und Gerechtigkeit
ist - und nicht nur in der Traumphantasie, sondern im gedanklichen Vorgriff
auf eine Gesellschaftsordnung zu verstehen ist, in der es so zugehen solle.
Aber nicht die Macht des Wortes, die ein brüderliches Gemeinwesen
verspricht, ist Index des Wahrheitsgehalts des musikalischen Kunstwerks,
wie es in Schillers Oden-Schlußchor der neunten Symphonie aufscheint;
dieser liegt vielmehr in der kompositorischen Struktur, in der Stimmigkeit
der dialektischen Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem. Jedes Kunstwerk
ist Adorno zufolge wahrheitshaltig vor allem deshalb, weil es das Besondere
und Allgemeine in eine spezifische, stimmige Form gewaltloser Verbindungen
bringt - weshalb, in bestimmten gesellschaftlichen Situationen, Kunstwerke
sich umorganisieren müssen, um ihrem alten Wahrheitsgehalt zu entsprechen.
Ich will das verdeutlichen an Strawinskys "Histoire du Soldat", an dem Adorno
das zeigt. Er sagt, hier drückt sich an der spärlichen, schockhaft
lädierten Kammerbesetzung etwas aus, was Fortschritt und Barbarei
miteinander verbindet. Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur
so verfilzt, daß einzig in barbarischer Askese eine Soldaten- und
Kriegsgeschichte die Intimität des individuellen Leidens
zurückgewinnt; das Unbarbarische, das heißt: das Humane
herzustellende ist nur noch als Protest gegen den Fortschritt der technischen
Mittel öffentlich zu machen; deshalb diese technisch-kompositorische
Askese der Musik, welche die geschichtliche Schlachtbank und ihr Getöse
auf Kammerton zurückbringt.
Kultur bezeichnet also den Widerspruch zur Realität. Das Wahre
ist noch nicht wirklich, das ist der Wesensgehalt von Kultur. Durch Kultur
werden Wahrheit und Lüge unterscheidbar, denn wo nicht mehr Wahrheit
und Lüge Trennschärfe haben, hört jede Kultur auf, und hört
auch jede authentische Kunst auf. Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und
Lüge, die Unterscheidung zwischen ästhetischem Schein als Wahrheits-
und Freiheitsversprechen und der Täuschung, der Manipulation kunstvoller
Warenwerbung, ist wesentlich für den Begriff der Kultur, wie ich ihn
hier vertrete. Die ästhetische Urteilskraft bei Kant, das eigentliche
politische Buch unter seinen drei großen Kritiken, mutet demjenigen,
der ein Kunstwerk betrachtet, zu, einzustimmen in das Urteil, weil es so
etwas wie einen sensus communis gibt, einen eigentümlichen Sinn für
die gemeinsamen Voraussetzungen des Zusammenlebens vernunftbegabter Wesen,
einen kulturellen Sinn, mit dem wir es zu tun haben, immer, wenn wir über
Kultur sprechen.
So ist, in diesem kritischen Zusammenhang abschließend gesagt,
die ganze traditionelle Kulturkritik mit der Voraussetzung behaftet, daß
Kultur ein verdinglichtes Produkt ist, das in Prozesse aufzulösen ist.
Die Strukturen sind gegeben; das verleiht der Kulturkritik als zentraler
Verdinglichungskritik seine politische Spitze. Meinetwegen kann man sagen,
es sind autoritäre Strukturen in dieser Kultur, die aufgebrochen werden
müssen, um im Umgang der einzelnen Menschen mit diesen kulturellen
Produktionen den Wahrheitsgehalt für sich als eine Art Phantasie über
das noch Kommende herauszubringen. Was ist es jetzt aber, wenn wir in einer
gesellschaftlichen Situation des Umbruchs leben, in der nicht mehr feste
Strukturen die gegenständliche Realität ausmachen, eine Art betonierte
Realität nach prozesshafter Verflüssigung geradezu drängt?
Wenn wir es vielmehr mit einer gesellschaftlichen Umgebung zu tun haben,
in der uns alles zu verschwinden droht, wo Formen der Beliebigkeit auftreten,
wo heute vielleicht das gedacht und für wahr gehalten wird, und
morgen etwas ganz anderes.
Ich erinnere mich, als ich Assistent bei Habermas am Philosophischen
Seminar der Universität Heidelberg war, an die Diskussion in Mannheim
mit zwei ausgekochten Positivisten (Hans Albert und Paul Feyerabend) über
Hegel, mehrere nächtelang vor gut dreißig Jahren. Eine qualvolle,
mir jedenfalls qualvoll in Erinnerung gebliebene Diskussion, in der nichts
Geltung hatte, als das, was nach Prinzipien der aristotelischen Logik
Argumentation bedeutet: tertium non datur. Ein Satz ist wahr oder
falsch; ein Drittes gibt es nicht. Immer wieder wurde von beiden eingewandt:
den dialektischen Widerspruch kann es nicht geben, und ich wunderte mich
dann schon in den achtziger Jahren, daß einer meiner Gesprächspartner
und auch seine ganze intellektuelle Umgebung anfing, Schritt für Schritt
an einer anarchistischen Erkenntnistheorie herumzuarbeiten, was ja nun wirklich
die Dialektik noch um einiges an offenen Deutungsmöglichkeiten
überholt, jedenfalls im Blick auf die Koexistenz von Widersprüchen;
man kann Leute dieser Art wissenschaftstheoretische Konvertiten nennen, mit
derselben Wärme, mit derselben Leidenschaft, mit der sie ehedem der
formalen Logik huldigten, wird jetzt jedes schlußfolgernde Argumentieren
und jedes produktive Suchen in Organisationszusammenhängen von Texten
als unproduktiv verworfen, und es ist leider so, daß diese Form der
Beliebigkeit, "anything goes", in der Tat das alles auflöst, woran Adorno,
Horkheimer, Marcuse und Benjamin sich noch abgearbeitet haben. Das dialektische
ìtertium datur" hat die bestimmte Negation zur Grundlage; das Denken
in Paradoxien, Chaos-Konstellationen, Ambivalenzen, hält sich im Nebel
des Unbestimmten und der Beliebigkeit.
Deshalb ist diese dialektische Kulturkritik nicht überholt, so
wenig wie der ihr vorausgesetzte Kulturbegriff. Wir sind freilich gehalten,
uns Gedanken zu machen, die immer stärker dort hingehen, wo wir die
vorkulturelle Realität vermuten. So ist für mich heute jede
Kulturwissenschaft ohne Berücksichtigung der Wirtschaft eine erhebliche
Abstraktion; Ihr Veranstaltungsprogramm enthält nicht den geringsten
Hinweis auf Wirtschaft. Die gibts hier einfach nicht. Ich habe keine einzige
Veranstaltung angekündigt gefunden. Ich mag mich täuschen, aber
ich habe extra danach gesucht. Bedeutet dies, daß für diese
kulturwissenschaftliche Zugangsweise Wirtschaft irrelevant ist? Daß
sie von vornherein in Realitätsdimensionen gesehen wird, wie sie von
deutscher Kultur immer definiert wurde? Als das Widerständige und Rohe,
bestenfalls das unbearbeitete Außen der Kultur? Diese dagegen,
wesentlich ranghöher, als machtgeschützte Innerlichkeit mit
Vorzugsobjekten, die näher sind den Menschen als das Kalte der Wirtschaft?
Ich will das nicht unterstellen; wenn es so wäre, würde es
jedoch bedeuten, daß fatale Traditionen unbewußt sich durchsetzen,
gefährliche Aufspaltungen: Kälte nach Außen, Wärme
nach Innen. Der Kälte der Öffentlichkeit, der Kälte der
Gesellschaft stehen die Näheverhältnisse der Kultur unvermittelbar
gegenüber, wie es Thomas Mann in den ìBetrachtungen eines
Unpolitischen" festgehalten hat; diese Ausgliederung der politischen und
ökonomischen Bezüge von Kulturwissenschaft hat zur Folge, daß
wir heute keinen Zugang zu einer neuen Definition dessen bekommen können,
was Kultur ist. Herbert Marcuse hat das einmal so ausgedrückt, in "Eros
und Kultur", in diesem Kapitel über den Widerspruch von Eros und Thanatos.
"Die Vision einer Kultur ohne Unterdrückung und Verdrängung,
wie wir sie aus einem Randgedanken der Mythologie und Philosophie entwickelten,
tendiert auf eine neue Beziehung zwischen Trieben und Vernunft hin. Die
kulturelle Moral wird durch die Harmonisierung von Triebfreiheit und Ordnung
aufgehoben und ersetzt: befreit von der Tyrannei repressiver Vernunft richten
sich die Triebe auf freie und dauerhafte existentielle Beziehungen. Sie schaffen"
(und das ist für Marcuse eben ein neuer Kulturbegriff) ein
neues Realitätsprinzip. In Schillers Gedanken eines
"ästhetischen Staates" ist die Vision einer unterdrückungsfreien
Kultur auf der Ebene einer reifen Zivilisation konkretisiert. Auf dieser
Ebene wird die Organisation der Triebe zu einem sozialen Problem," (in
Schillers Terminologie zu einem politischen), wie sie das auch
in der Freudschen Psychologie wird. Psychoanalytische Begriffe wie Sublimierung,
Identifikation, Introjektion und ähnliche haben nicht nur einen
psychologischen Inhalt, sondern auch einen sozialen: Sie enden" (das
ist der entscheidende Punkt für Marcuse) ìin einem System
von Einrichtungen, Gesetzen, Institutionen, Dinge, Bräuche, die dem
Individuum als objektive Einheiten entgegentreten."
Mit anderen Worten: Marcuse formuliert hier einen Kulturbegriff, der
die Frage einer Dialektik zwischen kulturellen Produktionen und
gesellschaftlichen Institutionen ins Zentrum kulturwissenschaftlicher
Betrachtungen rückt. Wie lassen sich Institutionen herstellen, die ein
befriedigendes Triebverhalten der Menschen ermöglichen, was nach Freudschen
Maßstäben als Glück bezeichnet werden kann und nicht das
Unbehagen in der Kultur vergrößert? Kultur ist hier in
Zusammenhänge einbezogen, die durch das gesellschaftliche Machtgefüge
und die institutionellen Bindungen menschlicher Handlungsweisen bestimmt
sind, in denen Menschen mit gewissen Herkunftsmerkmalen, Hautfarbe,
religiöser Gesinnung, des sozialen Status vielleicht ausgegrenzt werden,
Organisationen und Institutionen, die klare Freund-Feinddefinitionen
praktizieren? Was ist das also für ein Kulturzustand, mit dem wir es
gegenwärtig zu tun haben? Goethe hatte einen Begriff von Kultur, genauso
wie Kant, für den unverwechselbare Merkmale Geltung hatten: Befreiung,
Würde, Achtung der Menschheit in meiner Person, Hospitalität, das
heißt Umgang mit dem Fremden, wie sind die diesen Prinzipien entsprechenden
Institutionen? Was ist das heute für eine Kultur, aus der wir einen
Kulturbegriff legitimerweise formulieren könnten?
Ich gehe auf den Ursprungssinn von Kultur zurück. Colere, Kulturbegriff
im modernen Verständnis wird zum ersten Mal von Cicero formuliert; in
den Gesprächen auf seinem Landsitz in Tusculum, spricht er von Cultura
Animi. Im Unterschied zu Agri-Cultura. Cultura animi hat eine weite Bedeutung;
in meiner Übersetzung heißt das: Beackerung der Seele,
des Geistes und der Sinne. Cultura animi ist ein Produktionsvorgang und keiner
der Verteilung des Gegebenen. Kultur im Ursprungssinne bedeutet
Veränderung, Umgestaltung, Humanisierung der rohen Verhältnisse.
Kultur so gefaßt, wäre jetzt zu prüfen an bestimmten
gesellschaftlichen Entwicklungen und Zuständen, mit denen wir es zu
tun haben, wo kulturelle Selbstdeutungen in Institutionen stattfinden, die
zur Identitätsbildung der Menschen beitragen, zur Verlebendigung ihrer
Kommunikation in Arbeitsbeziehungen, zur Erweiterung ihrer Autonomie- und
Urteilsfähigkeit. Also dort, wo sie tatsächlich sich aufhalten,
wie ihre konkreten Lebenszusammenhänge ausgestattet sind. Ich bin der
Überzeugung, daß wir auf Dauer nicht herum kommen werden, neue
Berufsethiken zu entwickeln. Die alten Berufsethiken, ob es die der Mediziner,
der Anwälte, der Unternehmer, der Hochschullehrer, der
Produktionsfacharbeiter sind, die sind überholt. Sie sind nicht mehr
tragfähig, weil die traditionellen Normen in der alten Weise nicht mehr
verpflichtend sind und neue Normen, dem alten Verpflichtungsgrad entsprechend,
noch nicht da sind. Emile Durkheim hat diesen Kulturzustand als den der Anomie
bezeichnet. Von einem solchen Zustand ist heute auszugehen. Der Zustand der
Anomie bedeutet, daß alte Normen, alte Verpflichtungen noch da sind,
aber zwingend Selbstverständliches verloren haben; und diese ethisch
labile Zwischenwelt spüren gleichsam instinktiv besonders junge Leute.
Viele junge Leute befinden sich in solchen kulturellen Suchbewegungen nach
neuen Formen der Identität und des sinnstiftenden Selbstverständnisses
ihrer Lebensverhältnisse.
Ich mache jetzt einen Sprung. Eine Analyse der gegenwärtigen Welt
zu entwickeln, das ist nicht anspruchsvoller, als zu sagen, was Kultur ist.
Ohne den Versuch einer begrifflichen Krisenbestimmung der gegenwärtigen
Welt tappen wir im Dunkeln. Mit welchen Erosionsprozessen haben wir es denn
heute zu tun? Es ist ja nicht nur die östliche Wende von "89; was einen
Weltkrisenherd beseitigt hat, die Fortexistenz des die Menschheit bedrohenden
dualistische Machtsystem, in dem wir erzogen sind, in dem wir uns unsere
übersichtlichen Deutungsregeln zurechtgeschneidert haben, hat gleichzeitig
dazu geführt, daß sich die Krisenherde vervielfältigt, in
den letzten sieben, acht Jahren zunehmend überlagert haben. Die
Wiedervereinigung z. B. hat gar nichts mit der zentralen Krise des Erwerbssystems
und der Arbeitsgesellschaft zu tun. Sie verschärft sie, aber sie ist
nicht deren Ursache. Und wir wissen, daß heute, wenn denn von Kultur
geredet werden soll, immer stärker einbezogen werden muß die wachsende
Zahl derjenigen, die nicht nur von Kultur, auch von den alten
ìKulturgütern" getrennt werden, sondern die zum Teil auf Dauer
vom gesellschaftlichen System der Arbeit abgekoppelt werden - auf Dauer.
Das ist der eine Aspekt, der für mich Kulturbedeutung hat bzw. die Frage
nicht unberührt läßt, was wir unter Kultur da noch
verstehen.
Der zweite Punkt ist folgender: Es gibt gegenwärtig eine komplette
Ideologie im alten Marxschen Sinne. Als objektiv falsches Bewußtsein
verstand er Ideologie. In dem Objektiven liegt aber auch ein Wahrheits- und
Realitätsmoment. Durch diese sind gesellschaftliche Einrichtungen ebenso
geprägt wie die Individuen. In einer bisher kaum denkbaren Dimension
hat heute betriebswirtschaftliche Rationalität alles aufgezehrt, was
einst unter Volkswohlstand, unter Volkswirtschaft verstanden wurde, gleichsam
die "Ökonomie des Ganzen Hauses". Was bestimmte
Rationalisierungsentscheidungen an Kosten verursachen für die
Gesamtgesellschaft, ist völlig reduziert auf den Ehrenpunkt des Stolzes
schlanker Produktion im Einzelbetrieb (oder auf Regierungsseite im einzelnen
Ressort). Sie können das in der Universität nehmen, Sie können
das im einzelnen Dienstleistungs- oder Industriebetrieb nehmen oder in der
Schule. Keine dieser System-Monaden macht sich Gedanken darüber, kulturelle,
ethische, religiöse oder einfach humanitäre, wo und von wem die
eingesparten Kosten gedeckt werden, wer am Ende die summierte Einsparungszeche
bezahlt.
Das läßt sich auch anders ausdrücken: In dem Maße,
wie Betriebswirtschaft die bilanzierende Gesamtrechnung der ganzen Gesellschaft
aufzehrt, werden immer mehr Bereiche unter die Ideologie gestellt, als ob
die Gesellschaft sich aus einzelnen Betrieben zusammensetzt, ja aus der Summe
einzelner Individuen besteht, und diese Ideologie führt dazu, daß
das, was mit Kultur bei Schiller und in der Tradition der dialektischen
Kulturkritik verknüpft ist - nämlich die Sorge um das Wohl und
Wehe des Gemeinwesens - völlig ausgegliedert ist.
Die zentrale Frage für eine moderne Kultur ist jedoch: Was kann
ich, was kann eine Institution, was können die Verhältnisse dazu
beitragen, daß das Gemeinwesen nicht beschädigt wird? Denn in
einem beschädigten Gemeinwesen können auch die Individuen nicht
ohne Schaden ihr Leben gestalten. Darin sehe ich eine zentrale Frage an Kultur
heute, unter heutigen Voraussetzungen der ìconditio humana"; was
können wir dazu beitragen, welche Verantwortung kann jeder von uns ganz
persönlich übernehmen, daß es so etwas wie eine pflegliche
Beziehung zwischen Besonderem und Allgemeinem gibt, in dem nicht das Allgemeine,
philosophisch gesprochen, nicht nur Subsumtionsgröße des Besonderen
ist, sondern wo aus dem Besonderen ein befriedetes und befriedigendes Allgemeines
hervorgeht; das betrifft Kommunikationsdichte der Menschen untereinander,
das betrifft aber auch einschneidend das Wohl und Wehe des Gemeinwesens.
Kultur als das zu betrachten, was diesem Unbewußtseinszustand der
Verdrehungen aufliegt, wäre für mich ein Akt der Barbarei. Ich
will Sie daran erinnern, daß Pierre Bourdieu vor wenigen Tagen in
Frankreich versucht hat, diesen Schein, diesen objektiven Schein mit
einer publizistischen Aktion zu durchbrechen, an einem Beispiel, das vielleicht
nicht besonders geglückt ist, in einem Punkt jedoch den Nagel auf den
Kopf trifft. Er spricht von den ìPensées Tietmeyer". Sie werden
wissen, er ist Präsident der Bundesbank. Er hatte in Le Monde ein Interview
gegeben, wo er gesagt hat, wir sind in einer gesellschaftlichen und
kulturellen Lage, in der es um ein einziges Prinzip geht, nämlich
überall günstige Bedingungen für Investitionen zu schaffen.
Das ist gleichsam die oberste kulturelle Norm, so unverhohlen drückt
der höchste Geldfunktionär unseres Landes das aus. Das heißt,
der ganze Kulturzusammenhang ist der Logik des Kapitals und des Marktes
zugeordnet, untergeordnet. Es gibt keine sozialkulturelle Logik daneben.
Und Bourdieu verweist mit Recht darauf, daß im Grunde alle
menschenwürdigen Prozesse nicht nach dem Ökonomisierungsschema
laufen. Ja, er betont, daß die Plünderung der Individuen dazu
führt, daß am Ende selbst auch Unsicherheiten in den
ökonomischen Prozessen entstehen. Es ist aber doch so, daß im
Augenblick diese gestörte Balance zwischen Individuum und Gesellschaft,
zwischen Besonderem und Allgemeinem soweit bestimmt, was den offiziellen
Kulturzusammenhang ausmacht, daß gerade aus diesem Grunde kulturelle
Arbeit sich dieses Zusammenhangs annehmen muß. Er ist so prägend
für die gesellschaftlichen Verhältnisse, daß niemand darauf
verzichten möchte, sich das Etikett "Kultur" anzuheften. Wenn man einen
Begriff der Kultur heute entwickeln will, ist es unabdingbar, daß wir
uns auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse einlassen. Ich will
damit gar nicht kulturpessimistisch argumentieren. Ich will nur sagen, daß
das, womit wir es zu tun haben, in diesem Kulturbegriff auf mehrfache Weise
neu zu bestimmen wäre.
Zum einen, wenn wir von Kultur sprechen, müssen wir wissen, welche
Gefäße, Formen, lebensfähige Einheiten da sind. Kultur hat
es immer mit der Frage einer Dialektik zwischen Nähe und Distanz zu
tun, eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz.
Wo die Distanz zu groß wird, wo die Menschen in anonyme Gehäuse
der Hörigkeit, wie Max Weber sagt, eingebunden sind, hat das ìcolere"
keinen Produktionsboden. Arbeitsprozessen des Kultivierens fehlt der
Materialbezug, Erweiterung der Sinne, der konkreten Erfahrungsfähigkeit.
Aber arbeitsvermittelte Berührungsflächen entstehen auch nicht,
wenn die Näheverhältnisse nur monadisch im vereinzelten Einzelnen
festgehalten werden. Die Ausschläge nach der einen oder der anderen
Seite sind heute extrem. Deshalb zeigt sich eine spezifische Störung
in dieser Dialektik von Nähe und Distanz. Die Arbeits- und Lebens-Einheiten
sind zu klein, andere wiederum zu groß.
Zu klein für bestimmte Prozesse der Erziehung und des Lernens sind
heute die Familienstrukturen. Das Dissoziative darin führt dazu, daß
nicht mehr Grundausstattungen für die soziale Persönlichkeitsbildung
dort selbstverständlich ablaufen können. Wo lernt man heute Teilen,
wenn es keine Geschwister mehr gibt? In Scheidungsfamilien wird zugeteilt,
im Kampf um Verteilung findet allenfalls ein Teilen von oben statt. Es ist
nicht ausgleichende Gerechtigkeit, die als zivilisatorische Kompetenz erworben
wird. Wo lernt man heute Verläßlichkeit? Die verläßliche
Möglichkeit der Rückkehr?
Die bürgerliche Familie in ihrer Erosion mag nicht bedauernswert
sein, sie ist genug am Unglück beteiligt gewesen in der Geschichte,
aber ihre Funktionen können nicht einfach verschwinden. Es ist also
die Frage neuer lebensfähiger Einheiten, in denen eine gewisse Balance
zwischen Distanz und Nähe da ist. Die radikal veränderte Schule?
Haushaltsgemeinschaften mit verschiedenen Generationen unter demselben
Dach?
Ich habe wahrgenommen, daß ein großer Teil der hier Studierenden
Frauen sind und möchte, das in meinem Zusammenhang so spontan aufgreifend,
einen Punkt weiterführen. Ich glaube, daß Kultur heute soweit
gebunden ist an eben diese Dialektik von Nähe und Distanz, daß
die Veränderung des Geschlechterverhältnisses eine fundamentale
Bedeutung hat für die Neubegründung kultureller Normen und
zivilisatorischer Beziehungen. Und zwar gerade in diesem Sinne, daß
die Näheverhältnisse traditionellerweise der Frau zugesprochen
werden, dem weiblichen Lebenszusammenhang. Die Kultivierung der
Näheverhältnisse, die Produktion und die Entwicklung neuen Lebens
ist ohne Nähe nicht denkbar. Aber diese an sich positive gesellschaftliche
Zuschreibung ist gleichzeitig Legitimationsgrund von Herrschaft, indem sie
den Ausschluß von allem nahelegt, was die universalistische Tendenz
in dieser Distanz ausmacht. Der Universalismus, Affektkontrolle, Denk- und
Urteilsvermögen werden der Erwerbsarbeit der Männer nach wie vor
zugesprochen. Hier haben Sie also in allen Institutionen eine merkwürdige
Störung, die in der Tat etwas mit Nähe und Distanz zu tun hat.
Wenn Sie sagen, mit keineswegs unberechtigtem Stolz, überwiegend studieren
in unserem kulturwissenschaftlichen Fachbereich Frauen, dann bestätigt
es zugleich ein Vorurteil, daß nämlich Kultur eine weiche Materie
ist, etwas für Frauen. Die sind für das Warme und das Nahe und
alles das, was das Leben lebenswert macht, zuständig. Die Männer
für das feindliche Leben, die gnadenlose Risikogesellschaft: obwohl
sie, wie man weiß, häufig kein Risiko tragen, sind sie doch
natürliche Mitglieder der Risikogesellschaft. Diese
Bewußtseinsspaltung ist für mich ein zentraler kultureller Bruch.
Ich habe eine merkwürdige Erfahrung gemacht, als ich vor 4 Wochen (November
1996) in Kuba war und feststellte, daß drei Viertel der Dozenten Frauen
an den Kubanischen Universitäten sind. Das hat denselben Grund.
Erziehungstätigkeit, Wissenschaft, Kinderpflege usw., das sind keine
richtigen männlichen Berufe für einen anständigen Latino,
das überläßt er, wenn sonst genug zu kommandieren und zu
kämpfen ist, gerne den Frauen, zumal die Bezahlung einen entsprechenden
Rang hat. Andererseits sehen wir, daß Frauen gerade in den harten Berufen
erfolgreich sind, das gilt für Jura, das gilt für eine ganze Reihe
von Studienbereichen der Informatik. Es gibt inzwischen einige bedeutende
Frauen auf Informatiklehrstühlen und in den Naturwissenschaften. Es
vollzieht sich unter der Hand, mühsam, in ganz kleinen Schritten,
gewiß, ein Wandel. In manchen Organisationen jedoch, wie der Gewerkschaft
und den Kirchen, sind patriarchalische Strukturen geradezu Monumente. Hier
ist wenig aufgebrochen.
Wenn ich von Kultur rede, kann ich über solche Probleme nicht
schweigen, denn sie definieren einen gesellschaftlichen Zustand, in dem das
Maßverhältnis von Nähe und Distanz gestört ist. Und
ein drittes Element der Störung ist dem hinzuzufügen; und das wird
uns künftig wachsend zu schaffen machen. Man muß nicht bedauern,
daß es den Nationalstaat alter Prägung nicht mehr gibt. Aber die
Vision, daß eine EG-Bürokratie zusammen mit einem völlig
mitbestimmungsunfähigen Parlament über die Schicksale in Europa
bestimmt, hat für mich den Charakter eines Alptraums. Demokratische
Mitbestimmungsstrukturen werden ausgehöhlt dadurch, daß erfahrbare
und erlebnisfähige Zwischeninstanzen in dieser Dialektik von Nähe
und Distanz verschwinden, ohne daß wir das wollen und damit eine
Anreicherung unseres gesellschaftlichen Lebens verbinden können. So
zeigt sich ein neuartiger Widerspruch, den wir in Europa bisher nicht hatten:
Der patriarchalische Territorialstaat, der National-Staat stirbt ab, (wie
Marx sich das gewünscht hatte), aber ohne daß sich die Gesellschaft
emanzipiert hätte. Und das ist ein bedrohlicher Zustand, wenn die Potentiale
staatlichen Gewaltmonopols in die Gesellschaft zurückgedrückt werden,
ohne daß das entsteht, was Marx unter einer emanzipierten Gesellschaft,
das heißt: einer Kulturnation verstanden hat, und in dieser Dimension
ist er gewiß Goethe und Schiller und Herder näher, die von dieser
Kulturnation sprechen, als vielen anderen, die ein Marxsches Denken
jahrhundertelang für Legitimationszwecke verwendet haben.
Lassen Sie mich zum Schluß noch die Frage stellen, die in jeder
Kulturbetrachtung mitschwingt: was ist eigentlich die Idee des Menschen heute,
von der die Mächtigen und Einflußreichen träumen? Ich weiß,
es ist nicht möglich, ein widerspruchsloses Bild des Menschen zu entwerfen.
Aber die Idee, wie der Mensch aussehen sollte, ist auch Produkt solcher
kulturellen Auseinandersetzungen, wie ich sie darzulegen versucht habe. Die
Idee des Menschen, wenn ich die vorherrschende ökonomistische Ideologie
nehme, ist definiert als der universell verfügbare Mensch. Ich
sage das mit Bedacht, weil Flexibilität in dieser Tietmeyer-Weltanschauung
eine zentrale Rolle spielt. Marktflexibilität ist das organisierende
Zentrum des modernen Menschen. Der universell verfügbare Mensch ist
derjenige, der in schnell wechselnden Beziehungen, ohne Verwurzelungen,
irgendwelcher Art, weder in familiären Zusammenhängen noch des
Dorfes und der Stadt, sich zu bewegen vermag, jederzeit verfügungsbereit.
Wer in Emden den Arbeitsplatz verliert, soll möglichst rasch in den
Schwarzwald ziehen, wenn die Marktverhältnisse dort günstiger sind.
Diese Idee von dem universell verfügbaren Menschen ist eine
Vorstellung, die einen uralten Mythos wiederbelebt; der Mensch hängt
gnadenlos und ohne Auswege in einem Schicksalzusammenhang. Die Menschen verhalten
sich systemgerecht nur, wenn sie bereitwillig und mit möglichst befriedigtem
Gesichtsausdruck als Trabanten um die Sonne des Kapitals kreisen.
Einem solchen Menschenbild (der komplett außengeleitete Mensch)
widerspricht alles, was in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft
an Menschheitsentwürfen ausgebildet wurde. So die Idee des Menschen
in der Renaissance, der ìuomo universale" (lat: homo universalis),
der allseitig gebildete Mensch, der von jedem etwas kann und viel weiß.
Leonardo drückt die Uridee des Renaissance-Menschen am prägnantesten
aus: Bildhauer, Maler, aber natürlich auch sezierender Anatom, der sich
die Leichen freilich stehlen mußte, um sie zu sezieren, Projektierer
vielfältiger Art; Projektile hat er auch erfunden und Wurfmaschinen,
das war alles nicht so gelungen. Aber die universelle Bildung betraf auch
die äußerliche Bildung der Tätigkeiten.
Wenn Sie jetzt die Goethezeit nehmen, haben Sie den innerlich, vom Zentrum
der philosophischen Fakultät ausgehenden Menschen als einen, der die
Welt in sich noch einmal produziert. Das ist die Grundidee des deutschen
Idealismus; nichts in der äußeren Welt, was nicht auch im Subjekt
wäre. Vom "Ich als Prinzip aller Philosophie" ist eine programmatische
Schrift des jungen Schelling. Ich bedeutet: Autonomie, Urteilsfähigkeit,
Achtung der Menschheit in der eigenen Person. Austritt aus der selbst
verschuldeten Unmündigkeit, ist das Prinzip der Selbstaufklärung
dieses ganz auf Innenleitung und Selbstbestimmung gehenden Subjekts, so wie
Kant es gefordert hat.
Und jetzt haben Sie eine Welt vor sich, die so reich ist, wie nie zuvor, in der die objektive Möglichkeit zum ersten Mal besteht, Hunger und Elend abzuschaffen. Nie hat es soviel Möglichkeiten gegeben, Krankheiten zu mindern, nie ist die Lebenserwartung der Menschen so groß gewesen. Heute gibt es 5.000 Einhundertjährige in Deutschland, in zehn Jahren wird es 15.000 geben. Das mag nicht viel aussagen, aber die Lebenserwartung steigt immer noch, insbesondere der Frauen. In diesem Widerspruchzusammenhang, erhöhte Lebenserwartung, Universalisierung des Marktes, wird jetzt der Mensch selber immer schmaler definiert. Es hat nie in der Geschichte eine so enge, dürftige, offizielle Definition gegeben wie hier: abgemagert, um seine Potentiale, seine Fähigkeiten gebracht. Er soll sich nicht ausruhen in der Bildung, sondern schnell umbilden, flexibel sein, vergessen, was er gestern gedacht hat. Gegen diesen Aberwitz eines manipulierbaren, jedes Eigensinns entbehrenden und allseitig verfügbaren Menschen entschieden Einspruch zu erheben, das wäre einer breiten Kulturoffensive wert. Denn eine Wissenschaft von der Kultur, wie sie von Ihrer Universität mit großem Einsatz betrieben wird, also eine Kultur-Wissenschaft, muß gleichzeitig eine Wissenschaft für die Kultur werden, öffentlicher Gebrauch der kulturwissenschaftlichen Vernunft würde eine Lücke schließen und dem Ansehen dieser Wissenschaft im Lande bestimmt zugute kommen.
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