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Ansiedlungsrayon – Wikipedia

Der Ansiedlungsrayon mit den Prozentsätzen an jüdischer Bevölkerung in den jeweiligen Gouvernements (1905)

Als Ansiedlungsrayon (russisch Черта оседлости Tscherta osedlosti; jiddisch דער תּחום-המושבֿ der tchum-ha-mojschew; hebräisch תְּחוּם הַמּוֹשָב t'ẖum hammoscháv) wird das Gebiet im europäischen Westen des Russischen Kaiserreiches bezeichnet, auf das zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt war. Das Gebiet war zuvor größtenteils Bestandteil Polen-Litauens gewesen und mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt.

Der Ansiedlungsrayon, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, umfasste mehr als eine Million Quadratkilometer. Dort lebten Ende des 19. Jahrhunderts beinahe fünf Millionen Juden, die nach dem offiziellen Zensus von 1897 11,46 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Der jüdische Bevölkerungsanteil im übrigen Russischen Reich lag bei 0,38 Prozent, wobei die Gouvernements Kurland mit 7,33 Prozent und Livland mit 2,24 Prozent die höchsten Werte erreichten.[1]

1791 wurde durch einen Erlass der Zarin Katharina II. festgelegt, dass Juden nur innerhalb bestimmter Gebiete leben und arbeiten durften. 1835 änderte Nikolaus I. diesen Erlass und erließ für weitere spezielle Bezirke Genehmigungen, die die Ansiedlung für Juden regelten. Der Ansiedlungsrayon umfasste 15 westrussische Gouvernements und 10 polnische Gebietseinheiten. Während der Reformära unter Alexander II. wurden einige Bestimmungen gelockert. Zwischen 1859 und 1865 erhielten jüdische Kaufleute der Ersten Gilde, Träger akademischer Grade und Zunfthandwerker ein unbegrenztes Niederlassungsrecht außerhalb des Ansiedlungsrayons. 1861 erhielten Juden mit akademischem Grad und 1879 alle jüdischen Hochschulabsolventen de jure einen begrenzten Zugang zum russischen Staatsdienst. De facto blieben die staatlichen oder unter staatlicher Regie stehenden Positionen den Juden jedoch zum großen Teil verschlossen, wenn sie nicht zum Christentum konvertierten. Eine gewisse Ausnahme bildete nur der Rechtsanwaltsberuf, in dem viele jüdische Akademiker tätig wurden, so dass in den Gerichtsbezirken von St. Petersburg, Odessa und Warschau etwa 30 Prozent der Anwälte Juden waren. In den kongresspolnischen Gouvernements kam es 1862 sogar zur rechtlichen Gleichstellung der Juden, die auch nach dem Januaraufstand 1863 beibehalten wurde. Nach der Ermordung des „Reformzaren“ Alexander II. kam es unter seinem Nachfolger Alexander III. zu einer Gegenreaktion mit vermehrter Repression gegen die Minderheiten im Russischen Reich. Durch die sogenannten Maigesetze, die vom Mai 1882 bis zur Februarrevolution 1917 gültig waren, wurde die Bewegungsfreiheit der russischen Juden wieder eingeschränkt. Ab 1889 konnte kein Jude mehr ohne die ausdrückliche Genehmigung des Innenministeriums Rechtsanwalt werden.[2]

Eine Niederlassungsbewilligung außerhalb des Rayons konnte jederzeit entzogen werden. Ab Mai 1882 durften sich mit einem solchen Dokument versehene Juden nur noch in Städten neu ansiedeln, die Wohnsitznahme auf dem Land wurde ihnen verboten. Die im Ansiedlungsrayon verbliebene überwiegende Mehrheit wurde ab 1881 von der an anderen Minderheiten praktizierten Russifizierung ausgenommen, Russischunterricht an jüdischen Schulen war verboten. Zahlreiche Pogrome ereigneten sich mit Duldung oder aktiver Förderung durch staatliche Organe.[3]

Eine Folge dieser Politik war, dass bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als fünf Millionen Juden, rund 90 Prozent der im russischen Einzugsbereich lebenden Juden, im Ansiedlungsrayon sesshaft waren. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 geriet das Gebiet unter deutsche Besatzung, wobei ein kleinerer Teil der Juden in sowjetische Gebiete weiter nach Osten fliehen konnte – jedoch die überwiegend verbliebene jüdische Bevölkerung durch Deutsche und einheimische Helfer beinahe vollständig während des Holocaust ermordet wurden.

Die erste als zuverlässig geltende Volkszählung im Russischen Kaiserreich war die aus dem Jahr 1897. Im Folgenden sind die Angaben zur jüdischen Bevölkerung in den einzelnen Gouvernements wiedergegeben.[1]

Gouvernement Jüdische
Bevölkerung
Gesamt-
bevölkerung
Jüdischer
Bevölkerungsanteil
(in Prozent)
I Nordrussland
Archangelsk 252 346.536 0,08
Kasan 2.286 2.176.424 0,11
Kostroma 830 1.389.812 0,06
Nowgorod 4.740 1.367.022 0,03
Olonez 403 364.156 0,11
Perm 2.019 2.993.562 0,07
Pskow 6.454 1.122.152 0,58
St. Petersburg 21.270 2.109.463 1,01
Ufa 695 2.196.642 0,03
Wologda 425 1.341.785 0,03
Wjatka 817 3.032.552 0,03
Gesamt 40.191 18.440.106 0,22
II Zentralrussland
Kaluga 1.481 1.132.843 0,13
Kursk 4.141 2.371.213 0,17
Moskau 8.749 2.427.415 0,36
Nischni Nowgorod 2.673 1.584.774 0,12
Orel 6.258 2.039.808 0,31
Pensa 560 1.470.968 0,04
Rjasan 1.547 1.803.617 0,09
Saratow 3.042 2.406.919 0,13
Simbirsk 571 1.527.481 0,04
Smolensk 10.496 1.525.629 0,69
Tambow 2.163 2.683.059 0,08
Tula 2.650 1.422.291 0,19
Twer 1.396 1.769.443 0,08
Wladimir 1.167 1.515.693 0,09
Jaroslawl 1.646 1.071.579 0,15
Gesamt 48.540 26.752.732 0,18
III Südostrussland
Astrachan 3.173 1.003.542 0,31
Don-Territorium 15.440 2.562.754 0,69
Charkow 13.725 2.492.367 0,55
Orenburg 2.093 1.600.500 0,13
Samara 2.501 2.748.876 0,09
Woronesch 2.680 2.531.253 0,11
Gesamt 39.612 12.939.292 0,31
IV Baltische Provinzen
Kurland 49.313 672.308 7,33
Estland 1.396 418.817 0,33
Livland 28.654 1.299.523 2,24
Gesamt 79.363 2.390.648 3,32
Europäisches Russland ohne den Rayon 207.706 60.522.778 0,34
Gouvernement Jüdische
Bevölkerung
Gesamt-
bevölkerung
Jüdischer
Bevölkerungsanteil
(in Prozent)
I Nordwestrussland
Grodno 276.874 1.602.681 17,28
Kowno 212.230 1.548.410 13,71
Minsk 338.657 2.147.911 15,77
Mogiljow 201.301 1.688.573 11,92
Witebsk 175.678 1.489.228 11,80
Wilna 205.261 1.591.207 12,90
Gesamt 1.410.001 10.068.010 14,00
II Südwestrussland
Tschernigow 114.630 2.298.834 4,99
Kiew 427.863 3.559.481 12,03
Podolien 366.597 3.018.551 12,15
Poltawa 111.417 2.780.424 4,02
Wolhynien 397.772 2.987.970 13,31
Gesamt 1.418.279 14.645.260 9,70
III Südrussland
Bessarabien 225.637 1.936.392 11,65
Taurien (Krim) 66.125 1.448.973 4,57
Cherson (mit Odessa) 337.282 2.738.923 12,32
Jekaterinoslaw 100.736 2.113.384 4,77
Gesamt 729.780 8.237.672 8,86
IV Polen (Weichselland)
Kalisch 72.339 842.398 8,59
Kielce 82.427 761.689 10,82
Lomscha 90.912 579.300 15,69
Lublin 153.728 1.159.273 13,26
Piotrkow (Petrikau) 222.299 1.404.031 15,83
Plozk 50.473 553.094 9,13
Radom 113.277 815.062 13,89
Suwalki 58.808 582.696 10,09
Syedlitz 122.370 772.386 15,84
Warschau 349.943 1.931.168 18,12
Gesamt 1.316.576 9.401.097 14,01
Gesamter Ansiedlungsrayon 4.874.636 42.352.039 11,46
Gouvernements und Oblaste Jüdische
Bevölkerung
Gesamt-
bevölkerung
Jüdischer
Bevölkerungsanteil
(in Prozent)
I Kaukasus
Baku 11.650 826.806 1,41
Schwarzmeer 1.054 57.478 1,83
Dagestan 9.850 571.381 1,72
Elisabethpol 2.023 878.185 0,23
Eriwan 2.073 829.550 0,25
Kars 1.208 290.654 0,42
Kuban 4.796 1.919.397 0,25
Kutais 8.902 1.057.243 0,84
Stawropol 1.291 873.805 0,15
Terek 7.120 932.341 0,76
Tiflis 8.504 1.054.250 0,81
Gesamt 58.471 9.291.090 0,63
II Zentralasien
Akmolinsk 1.628 682.429 0,24
Fergana 2.269 1.575.869 0,14
Samarkand 4.379 859.123 0,51
Semipalatinsk 302 686.909 0,04
Semiretschensk 279 990.211 0,03
Sir Darja 2.777 1.466.249 0,19
Turgai 58 453.691 0,02
Transkaspien 909 380.323 0,24
Ural 128 645.590 0,02
Gesamt 12.729 7.740.394 0,16
III Sibirien
Amur 394 120.306 0,33
Küstenprovinz (Chabarowsk) 1.591 223.336 0,72
Irkutsk 8.239 514.202 1,60
Sachalin 127 28.113 0,45
Tobolsk 2.453 1.434.482 0,17
Tomsk 7.696 1.928.257 0,40
Transbaikalien (Chita) 7.550 637.777 1,18
Jakutsk 697 209.607 0,26
Jenisseisk 5.730 570.579 1,00
Gesamt 34.477 5.666.659 0,60
Asiatisches Russland gesamt 105.677 22.698.143 0,48
  • Eugene M. Avrutin: Ansiedlungsrayon. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 1: A–Cl. Metzler, Stuttgart/Weimar 2011, ISBN 978-3-476-02501-2, S. 109–113.
  • Nathaniel Deutsch: The Jewish dark continent. Life and death in the Russian pale of settlement. Harvard University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-674-04728-0.
  • Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1990 (seither mehrere aktualisierte und erweiterte Neuausgaben).
  • Yvonne Kleinmann: Jüdische Zuwanderer aus dem Ansiedlungsrayon in Odessa sowie in Städten Zentralrußlands und Polens im 19. Jahrhundert. In: Klaus Jürgen Bade (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. Schöningh, Paderborn 2010, ISBN 978-3-506-75632-9, S. 725–731.
  • Yehuda Slutsky: Pale of Settlement. In: Encyclopaedia Judaica. Band 15, Macmillan Reference USA, Detroit 2007, S. 577–580, abgerufen am 18. November 2011 (englisch).
  • John Klier: Pale of Settlement. In: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. Abgerufen am 18. November 2011 (englisch).
  • The Pale of Settlement (mit Landkarte). In: Jewish Virtual Library. Abgerufen am 18. November 2011 (englisch).
  1. a b Herman Rosenthal, J. G. Lipman, Vasili Rosenthal, L. Wygodsky, M. Mysh, Abraham Galante: Russia. The Jewish Encyclopedia, 1906, abgerufen am 14. März 2021 (englisch).
  2. Jörg Baberowski: Juden und Antisemiten in der russischen Rechtsanwaltschaft, 1864-1917. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Folge. Band 43, Nr. 4. Franz Steiner Verlag, 1995, S. 493–518, JSTOR:41049581.
  3. Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich – Entstehung, Geschichte, Zerfall. In: Beck'sche Reihe. 2. Auflage. Nr. 1447. Verlag C. H. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47573-6, S. 220 ff.