Fehlerfortpflanzung – Wikipedia
Bei vielen Messaufgaben ist eine physikalische Größe nicht direkt messbar, sondern sie muss indirekt aus messbaren Größen nach einer mathematischen Formel bestimmt werden. Jeder gemessene Wert weicht von seinem richtigen Wert ab (siehe Messabweichung,[1] die ältere Bezeichnung war Messfehler). Diese Messabweichungen werden mit der Formel übertragen (oder fortgepflanzt). Daher wird auch das Ergebnis von seinem richtigen Wert abweichen. Diese Tatsache wird Fehlerfortpflanzung genannt. Für diese existieren Rechenregeln, mit denen die Abweichung des Ergebnisses bestimmt oder abgeschätzt werden kann.
Seit der Unterscheidung zwischen Messabweichung und Messfehler ist die Bezeichnung Fehlerfortpflanzung als überholt anzusehen. Da sich aber noch kein neuer Ausdruck etabliert hat, wird zur sprachlichen Einheitlichkeit hier noch die Bezeichnung Fehler beibehalten.
Systematische Fehler[1] sind im Prinzip bestimmbar, sie haben Betrag und Vorzeichen.
- Beispiel: Die in einem Verbraucher umgesetzte elektrische Leistung soll berechnet und dazu die Stromstärke durch den Verbraucher gemessen werden. Dazu wird ein Strommesser in die Leitung geschaltet. An dem Messgerät fällt aber eine Spannung ab; dadurch wird die Spannung am Verbraucher kleiner als die Speisespannung; dadurch wird bei einem ohmschen Verbraucher die Stromstärke auch kleiner; es wird etwas zu wenig gemessen (negative Rückwirkungsabweichung, die sich bei bekannter Speisespannung und bei bekanntem Messgeräte-Innenwiderstand ausrechnen lässt). Die aus Speisespannung und gemessener Stromstärke berechnete Leistung wird damit auch zu niedrig angegeben.
Bei einem systematischen Fehler der Eingangsgröße oder bei systematischen Fehlern der Eingangsgrößen lässt sich mittels der Fehlerfortpflanzungs-Regeln zu den Fehlern mit Vorzeichen der systematische Fehler der Ausgangsgröße berechnen.
Ferner kann nicht davon ausgegangen werden, dass die vom Messgerät erfasste Größe ohne Messgerätefehler angezeigt wird. In seltenen Fällen ist anhand einer Fehlerkurve zu dem Messwert der zugehörige systematische Fehler bekannt. Im Allgemeinen ist von einem Messgerätefehler nur dessen vorzeichenloser Grenzwert, die Fehlergrenze bekannt.
- Beispiel: Kann die Stromstärke im obigen Beispiel nur mit einer Fehlergrenze von 4 % bestimmt werden, kann die Leistung auch nur in einem Bereich von −4 % bis +4 % um den berechneten Wert bestimmt werden.
Bei einer Fehlergrenze der Eingangsgröße oder bei Fehlergrenzen der Eingangsgrößen lässt sich mittels der zugehörigen Fehlerfortpflanzungs-Regeln die Fehlergrenze der Ausgangsgröße berechnen.
Soweit bisher behandelt, gibt es mehrere Eingangsgrößen (unabhängige Variable, Messgrößen) und davon jeweils nur einen Wert. Anders ist es bei zufälligen Fehlern[1], die erkannt werden, wenn von einer Eingangsgröße mehrere Werte vorliegen – gewonnen durch wiederholte Bestimmung (Messung) unter konstanten Bedingungen. Aus diesen Werten lässt sich ein arithmetischer Mittelwert berechnen, der als Schätzwert der Eingangsgröße weiterverwendet wird, der aber mit einer vorzeichenlosen Typ-A-Komponente der Messunsicherheit behaftet ist.[1][2]
Bei einer Messunsicherheit der Eingangsgröße oder bei Messunsicherheiten mehrerer Eingangsgrößen lässt sich mittels der zugehörigen Fehlerfortpflanzungs-Regeln die Unsicherheit der Ausgangsgröße berechnen.
Bei Messgerätefehlern kann gemäß[1] davon ausgegangen werden, dass der Betrag des zufälligen Fehlers wesentlich kleiner ist als die Fehlergrenze (anderenfalls ist auch der zufällige Fehler bei der Festlegung der Fehlergrenze zu berücksichtigen). Bei voneinander unabhängigen Messwerten, deren Qualität von den Fehlergrenzen der Messgeräte bestimmt wird, ist die Untersuchung zufälliger Fehler dann aber nicht sinnvoll.
Die zu berechnende Größe muss durch die mathematische Formel korrekt beschrieben werden. Um leichter rechnen zu können oder mangels vollständiger Kenntnis wird aber oft auf Näherungen ausgewichen.
- Beispiel: Die Speisespannung im obigen Beispiel wird als bekannt angenommen, wie das bei Bezug aus einer Konstantspannungsquelle zulässig ist. Falls die Spannung der Quelle aber von der Belastung abhängig ist, ist ihre Kenngröße „Leerlaufspannung“ nicht mehr die Speisespannung; es entsteht ein weiterer Fehler.
Ein Fehler der Ausgangsgröße, welcher aufgrund eines unzureichenden mathematischen Modells für den Zusammenhang mit den Eingangsgrößen entsteht, lässt sich mit Fehlerfortpflanzungs-Regeln nicht berechnen.
Eine glatte Funktion , wie das in der klassischen Physik und in der Technik fast immer gegeben ist, lässt sich in der Umgebung einer Stelle x durch ihre Taylorreihe darstellen. Der nachfolgend dargestellte Formalismus mit linearer Näherung benötigt nur die einfache Differenzierbarkeit.
Der Einfluss einer fehlerbehafteten Eingangsgröße auf das Ergebnis
kann mittels der Taylorreihe abgeschätzt werden:
Bei genügend kleinem kann die Reihenentwicklung nach dem linearen Glied abgebrochen werden, weil Glieder mit
und noch höheren Potenzen erst recht klein werden. Damit ergibt sich die Näherungslösung
Dieses liefert eine Regel zur Fehlerfortpflanzung, wenn die -Werte als absolute Fehler angesehen werden.
- Beispiel: Proportionalität
- Für die Ausgangsgröße
enthält deren absoluter Fehler
die spezielle Proportionalitätskonstante
. Besser wird mit dem relativen Fehler
gerechnet, der unabhängig von
ist und stets genauso groß wie der relative Fehler
der Eingangsgröße
.
- Beispiel: umgekehrte Proportionalität (Kehrwertbildung)
- Der relative Fehler der Ausgangsgröße hat denselben Betrag wie der relative Fehler der Eingangsgröße, aber entgegengesetztes Vorzeichen.
Bei mehreren voneinander unabhängigen Eingangsgrößen wird die entsprechende Reihenentwicklung verwendet, ebenfalls bis zum linearen Glied als Näherungslösung für kleine :
Die hier einzusetzenden partiellen Differentialquotienten liefern Aussagen, wie stark sich
ändert, wenn sich von allen unabhängigen Eingangsgrößen ausschließlich
ändert; die übrigen Eingangsgrößen werden jeweils als Konstanten behandelt.
Die allgemeine Lösung vereinfacht sich für die vier Grundrechenarten:
* Bei Addition | ||||
* Bei Subtraktion | ||||
* Bei Multiplikation | ||||
* Bei Division |
- Hinweis: Dabei sind Angaben mit ungewissem Vorzeichen (±) keine Angaben von Fehlern; der Unterschied zwischen Fehler und Fehlergrenze ist zu beachten. Bei Fehlergrenzen und Messunsicherheiten gelten andere Sachverhalte, siehe dazu die nächsten Abschnitte.
Die Formeln gelten nur, wenn die tatsächlichen Werte der Fehler mit Vorzeichen bekannt sind. Bei Fehlerfortpflanzung können sich die Fehler mehr oder weniger ergänzen oder aufheben.
- Beispiel: Wenn
um 2 % zu groß und
um 3 % zu groß sind:
- Dann wird bei der Multiplikation
um 5 % zu groß.
- Dann wird bei der Division
um 1 % zu klein.
- Dann wird bei der Multiplikation
- Zur Verdeutlichung kann folgendes Beispiel dienen: Wer
ausrechnen will, aber im Zähler eine um 2 % zu große Zahl einsetzt und im Nenner eine um 3 % zu große Zahl, berechnet
und erhält 0,99. Dieses Ergebnis weicht vom richtigen Wert 1,00 um −1 % ab. Diese Feststellung zum Fehler lässt sich mit der Formel
einfacher bekommen. Und das Minuszeichen vor
ist offensichtlich richtig!
Sind nicht die Fehler selber bekannt, sondern nur ihre Grenzen, so lässt sich derselbe mathematische Ansatz verwenden, wenn die -Werte als Fehlergrenzen angesehen werden. Diese sind vorzeichenlos, also als Betrag definiert. Für das Ergebnis lässt sich so auch nur die Fehlergrenze ausrechnen; dazu ist mit der ungünstigsten Vorzeichenkombination zu rechnen, indem Beträge addiert werden.
Die allgemeine Lösung vereinfacht sich bei den vier Grundrechenarten:
- Beispiel: Wenn
um bis 2 % zu groß oder zu klein und
um bis 3 % zu groß oder zu klein sein können:
- Dann kann bei der Multiplikation wie bei der Division
um bis 5 % zu groß oder zu klein sein.
- Dann kann bei der Multiplikation wie bei der Division
Gibt es von der Größe mehrere mit zufälligen Fehlern behaftete Werte
mit
, so ergibt sich nach den Regeln der Fehlerrechnung für Normalverteilung gegenüber dem Einzelwert eine verbesserte Aussage durch Bildung des empirischen Mittelwertes
:[2]
Jeder neu hinzukommende Wert verändert mit seinem individuellen zufälligen Fehler den Mittelwert und macht ihn somit unsicher. Die Unsicherheit , die dem berechneten Mittelwert anhaftet, ist gegeben:[2]
Anschaulich sind hier näherungsweise die quadrierten zufälligen Fehler addiert worden. Für große strebt die Unsicherheit gegen null, und bei Abwesenheit systematischer Fehler strebt der Mittelwert gegen den richtigen Wert.
Wird in einer Rechnung zur Fehlerfortpflanzung als Eingangsgröße der Mittelwert
verwendet, so wirkt sich dessen Unsicherheit
auf die Unsicherheit
des Ergebnisses
aus. Bei genügend kleinem
kann dieser Wert für die Fehlerfortpflanzung als
in die lineare Näherung der Taylorreihe eingesetzt werden. Dabei ist zu beachten, dass Unsicherheiten als Beträge definiert sind:[2]
Bei mehreren voneinander unabhängigen Eingangsgrößen seien die Mittelwerte jeweils mit einer Unsicherheit
bestimmt worden. Das Ergebnis
wird aus den Mittelwerten berechnet. Zur Berechnung seiner Unsicherheit
wird wieder mit der linearen Näherung bei mehreren unabhängigen Variablen begonnen; allerdings müssen – wie bei der Berechnung der Unsicherheit – die quadrierten Beiträge der Einzel-Unsicherheiten addiert werden.[2]
Diese Gleichung „wurde früher Gaußsches Fehlerfortpflanzungsgesetz genannt“.[2][3] „Sie betrifft jedoch nicht die Fortpflanzung von Messabweichungen (früher „Fehler“), sondern die von Unsicherheiten.“
Die Gleichung vereinfacht sich für die vier Grundrechenarten:
Das Gesetz ist nur anwendbar, wenn sich die Modellfunktion bei Änderungen der Einflussgrößen
im Bereich ihrer Standardunsicherheiten
hinreichend linear verhält. Ist dies nicht der Fall, ist das Rechenverfahren erheblich aufwändiger. Die Norm DIN 1319[3] und der „Leitfaden zur Angabe der Unsicherheit beim Messen“ geben Hinweise, wie eine unzulässige Nichtlinearität zu erkennen und zu umgehen ist. Außerdem ist Varianzhomogenität vorausgesetzt.
Bei einer Abhängigkeit (Korrelation) zwischen fehlerbehafteten Größen muss das Gauß’sche Fehlerfortpflanzungsgesetz unter Einbeziehung der Kovarianzen oder der Korrelationskoeffizienten zwischen jeweils zwei Größen zum verallgemeinerten (generalisierten) Gauß’schen Fehlerfortpflanzungsgesetz erweitert werden:[2]
mit der Kovarianz . Für unabhängige Größen fallen die Korrelationsterme weg und es ergibt sich die Formel aus dem Abschnitt für unabhängige Größen.
Die relative Unsicherheit einer Größe, die sich aus zwei vollkommen korrelierten Größen ableitet, kann dabei kleiner (besser) werden als die beiden relativen Unsicherheiten der Eingangsgrößen.
Die Fehlerfortpflanzung für ein Ergebnis und den korrelierten Messfehlern, lässt sich auch folgendermaßen formulieren:
mit als Kovarianzmatrix.
Mit Hilfe des Matrixformalismus kann das allgemeine Fehlerfortpflanzungsgesetz kompakt ausgedrückt werden als:[4]
wobei und
die jeweiligen Kovarianzmatrizen der Vektoren
und
sind und
die Jacobi-Matrix
. Dabei handelt es sich hier nicht nur um ein Ergebnis
wie im oben genannten Beispiel, sondern um einen Vektor mit vielen Ergebnissen, die aus den Eingangsgrößen
abgeleitet werden. Die Standardabweichung für jedes
ergibt sich nun aus den Wurzeln der Diagonalelemente
.
- H.J.J. Braddick: Die Physik des experimentellen Arbeitens (= Franz Xaver Eder, Robert Rompe [Hrsg.]: Hochschulbücher für Physik. Band 33). Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1959 (archive.org). 2. Aufl. 1963 in Englisch.
- Ronald H. Dieck: Measurement uncertainty methods and applications (= An independent learning module from the Instrument Society of America). Instrument Society of America, Research Triangle Park, N.C. 1992, ISBN 978-1-55617-126-0 (englisch).
- Klaus Weise, Wolfgang Wöger: Meßunsicherheit und Meßdatenauswertung. Wiley, 1999, ISBN 978-3-527-29610-1, doi:10.1002/3527602984.
- Les Kirkup, Bob Frenkel: An introduction to uncertainty in measurement using the GUM (Guide to the expression of Uncertainty in Measurement). Cambridge University Press, Cambridge, UK ; New York 2006, ISBN 978-0-521-84428-4 (englisch).
- Wolfgang Kamke: Der Umgang mit experimentellen Daten, insbesondere Fehleranalyse, im Physikalischen Anfänger-Praktikum: eine elementare Einführung. 10., erw. Auflage. Shaker, Aachen 2014, ISBN 978-3-8440-2921-5.
- Hans Joachim Eichler, Heinz-Detlef Kronfeldt, Jürgen Sahm: Das neue Physikalische Grundpraktikum (= Springer-Lehrbuch). Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-662-49022-8, doi:10.1007/978-3-662-49023-5.
- Thomas Bornath, Günter Walter: Messdatenauswertung im Physikalischen Praktikum: Messunsicherheit. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 2023, ISBN 978-3-662-67578-6, doi:10.1007/978-3-662-67579-3.
- BIMP: Evaluation of measurement data — Guide to the expression of uncertainty in measurement. 2008, abgerufen am 6. Oktober 2024 (englisch).
- BIMP: Evaluation of measurement data — Supplement 1 to the “Guide to the expression of uncertainty in measurement” — Propagation of distributions using a Monte Carlo method. 2008, abgerufen am 6. Oktober 2024 (englisch).
- Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) – Organisation für die SI-Einheiten; das Subkommittee Joint Committee for Guides in Metrology (JCGM) beschäftigt sich mit Methoden zur Messunsicherheit und Metrologie. Es veröffentlicht auch Handbücher zu dem Thema.[5]
- National Institute of Standards and Technology (NIST) – U.S. Organisation für Messwesen und messtechnische Angelegenheiten
- Physikalische-Technische Bundesanstalt (PTB)
- ↑ a b c d e f DIN 1319-1
- ↑ a b c d e f g DIN 1319-3
- ↑ a b DIN 1319-4
- ↑ Roger J. Barlow: A Guide to the Use of Statistical Methods in the Physical Sciences Wiley, Chichester 1989, ISBN 0-471-92295-1, S. 60.
- ↑ JCGM Publications: Guides in Metrology. BIPM, abgerufen am 6. Oktober 2024 (amerikanisches Englisch).