EU plant großen Wurf: Das Plattformgrundgesetz
- ️Tomas Rudl
- ️Mon Jul 13 2020
Die große Umwälzung versteckt sich hinter einer Wust sperriger Begriffe. Verantwortliche in Brüssel sprechen von Haftungsausschluss, von Interoperabilität und ex-ante-Regulierung. Die Wortgirlanden verschleiern, dass die EU an einem revolutionären Vorhaben arbeitet. Es könnte die digitale Welt für immer verändern.
Das Gesetzespaket, an dem eine Abteilung von 20 Leuten in Brüssel die ganze Pandemiezeit hindurch arbeitete, trägt den spröden Namen „Gesetz für digitale Dienste“, im Englischen Digital Services Act.
Ein erster Textentwurf wird gegen Jahresende erwartet, doch Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat das Gesetz zu einem der Leuchtturmprojekte ihrer Amtszeit erklärt. Der Rundumschlag soll die e-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 rundum erneuern und die Marktmacht von Plattformkonzernen wie Google und Amazon beschränken. Zugleich soll er europäischen Startups durch eine europaweite Vereinheitlichung der Spielregeln helfen.
Die Hauptziele der Kommission
Die Kommission möchte drei Hauptziele erreichen. Ziel eins: Der digitale Binnenmarkt muss vereinheitlicht werden. Denn bislang herrsche ein Wildwuchs an Vorschriften. Für Anbieter von neuen Diensten sei es oft leichter, in den USA zu starten als in einem anderen europäischen Land, klagt ein Kommissionsbeamter.
Zu dem Wildwuchs tragen das NetzDG in Deutschland oder das zuletzt vom französischen Verfassungsgericht wieder aufgehobene Avia-Gesetz gegen Hassrede bei. Beide Gesetz schaffen unterschiedliche und teils problematische Auflagen für den Umgang mit „illegalen Inhalten“. Statt nationalen Alleingängen möchte die Kommission einheitliche Verpflichtungen für Diensteanbieter sehen.
Ziel zwei ist die Schaffung eines Kontrollrahmens für derzeit übermächtig scheinende Plattformen. Ein Konzern wie Facebook mit seinen weltweit mehr als zwei Milliarden Nutzer:innen müsse einer europaweiten Aufsichtsstruktur unterworfen sein. Diese soll sicherstellen, dass die Plattformen ihre rechtlichen Verpflichtungen bei Datenschutz, Inhaltemoderation und anderen Fragen einhalten.
Die Kommission will aus der Datenschutzgrundverordnung lernen. Diese schuf einen einheitlichen EU-Rechtsrahmen, die Durchsetzung der Regeln blieb aber Angelegenheit der oft kümmerlich ausgestatteten nationalen Datenschutzbehörden. Die Kommission überlegt daher, eine neue Aufsichtsbehörde auf EU-Ebene ins Leben zu rufen und somit „eine Art Accountability-Framework“ zu schaffen, wie es ein Kommissionsbeamter ausdrückt.
Ziel drei ist die Sicherung des fairen Wettbewerbs. Neue Marktinstrumente sollen der Kommission die Möglichkeit geben, schon einzugreifen, bevor eine Plattform überhaupt eine marktdominante Stellung erobert. Bislang erlaubt das Wettbewerbsrecht erst dann ein Eingreifen, wenn die Plattform schon große Teile des Marktes beherrscht.
Künftig könnte eine sogenannte „ex-ante“-Regulierung erlauben, auf Basis einer Analyse der Ausgangslage Schritte gegen später möglicherweise problematische Situationen zu treffen. Als Beispiel nennt die Kommission die Digitalwährung Libra, die von Facebook mitgegründet wurde. In Frage kommen aber auch Übernahmen wie jene von WhatsApp oder Instagram. Eine Vorab-Regulierung würde in solchen Fällen verhindern, dass Facebook seine Marktmacht in einem Sektor dazu nutzt, sich in einem anderen einen uneinholbaren Startvorteil zu verschaffen.
Zugleich prüft die Kommission eine Anpassung bestehender Wettbewerbsregeln. Diese sollen es möglich machen, Datenmacht als klaren Marktvorteil zu berücksichtigen. Auch sollen gewisse Praktiken großer Plattformen unter die Lupe genommen werden. Ein Händler wie Amazon dürfte dann nicht mehr wie bislang seine Eigenmarken im Empfehlungsalgorithmus auf der eigenen Plattform bevorzugen. Anbieter wie Apple wiederum, die in Europa keine marktmächtige Position innehaben, könnten dennoch gezwungen werden, nur mehr eingeschränkt im eigenen digitalen Laden mit Dritt-Entwicklern zu konkurrieren.
Die Kommission möchte neue Werkzeuge für die Behörden schaffen. Eines davon ist eine mögliche Pflicht zur Interoperabilität. Dies würde bedeuten, dass die Aufsichtsbehörde Plattformen die Öffnung ihrer Dienste anordnen kann. Wer etwa mit WhatsApp kommuniziert, dürfte dann auch mit Nutzer:innen anderer Apps wie Signal oder Telegram Nachrichten austauschen.
Diese Idee, die in Kommissionskreisen diskutiert wird, soll den Netzwerkeffekt aushebeln und Alternativen jenseits der großen Plattformen bieten. Diese Idee wird von zahlreichen Stimmen in der europäischen Debatte unterstützt, allerdings befürchten Softwareentwickler wie Signal-Gründer Moxie Marlinspike, dass verpflichtende Interoperabilität die Weiterentwicklung technischer Standards behindern könnte.
Reform der Haftungsregeln?
Ein in Fachkreisen heiß diskutierter Punkt des Gesetzes ist eine mögliche Reform der Haftungsregeln für Plattformen. Diese Regeln gelten als eine Grundbedingung für die Meinungsfreiheit im Internet – eine Änderung könnte schlimme Auswirkungen haben, sollte die Reform verunglücken. Eine Reform der Haftungsregeln wurde immer wieder debattiert, auch wenn die Kommission nun betont, breite Haftungsausnahmen behalten zu wollen.
Worum es geht: Das sogenannte Providerprivileg aus der zwei Jahrzehnte alten E-Commerce-Richtlinie schützt bislang Diensteanbieter vor einer direkten Haftung für Inhalte, die Nutzer:innen auf der Plattform hinterlassen. Sie laufen erst dann Gefahr, dieses Haftungsprivileg zu verlieren, wenn sie nach einem Hinweis offenkundig illegales Material nicht rasch entfernen. Das ist als Notice and Takedown bekannt.
Grundsätzlich hat dieses Prinzip das Internet erst groß werden lassen: Verantwortlich für die jeweiligen Inhalte sind in erster Linie die Nutzer:innen selbst, während Internetdienste lediglich die Infrastruktur zu Verfügung stellen. Plattformen wie Youtube oder Facebook wären kaum denkbar, müssten sie jeden einzelnen Upload ihrer Nutzer:innen auf dessen Legalität abklopfen, um ihren Dienst rechtssicher betreiben zu können.
Inzwischen kratzen nationale und EU-Gesetze am Haftungsausschluss für Plattformen. In Deutschland drohen Betreibern hohe Geldstrafen, kommen sie den deutlich schärferen NetzDG-Vorgaben nicht ausreichend nach. Bald müssen sie wohl Uploadfilter einsetzen, um der EU-Urheberrechtsreform zu genügen – und am Horizont zeichnen sich bereits weitere mögliche Filterverpflichtungen ab, die sich gegen mutmaßliche Terrorpropaganda richten.
An diesen Mitteln lässt sich ablesen, wohin die Reise gehen könnte: vermehrt hin zu „proaktiven“ und automatisierten Systemen, die unerwünschte Inhalte filtern, bevor sie veröffentlicht werden. Obwohl die Mängel von Uploadfiltern gut dokumentiert und allgemeine Überwachungsverpflichtungen in Europa von höchster Stelle verboten sind, kamen Forderungen danach zuletzt immer mehr in Mode. So stellten etwa der deutsche Innenminister Horst Seehofer und sein damaliger französischer Amtskollege Gérard Collomb perspektivisch eine Ausweitung der Technik zur „Bekämpfung kinderpornografischer Inhalte und sonstiger rechtswidriger Inhalte“ zur Debatte.
Der Ansatz birgt für sich genommen schon genug Gefahr, die Meinungsfreiheit einzuschränken, etwa durch „Overblocking“. Zugleich drängt er aber Plattformen dazu, zunehmend auf eigene Faust zu entscheiden, welche Inhalte legal sind und welche nicht. Eine Reform müsste also penibel darauf achten, das Problem privatisierter Rechtsdurchsetzung nicht weiter zu verschlimmern.
Positionen im EU-Parlament
Aus dem EU-Parlament sind bislang zur Idee eines Digitale-Dienste-Gesetzes grundsätzlich wohlwollende Töne zu vernehmen. Einer Überarbeitung der Regeln für Plattformen will sich niemand in den Weg stellen, allerdings mahnen die Abgeordneten, das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten. Gleich vier Ausschüsse haben Berichte mit Empfehlungen für das Gesetz geschrieben, zum Hauptbericht im Binnenmarktausschuss allein liegen nicht weniger als 919 Änderungsanträge vor.
Was das Parlament sich wünscht: Weitgehend übereinstimmend pochen die verantwortlichen Ausschüsse darauf, von der bedingten Haftungsfreiheit für Online-Dienste wie auch vom Überwachungsverbot nicht abzurücken. Zugleich sehen sie, je nach Schwerpunkt des jeweiligen Ausschusses, erheblichen Verbesserungsbedarf an den derzeit geltenden Regeln.
So wünscht sich der federführende Binnenmarktausschuss mehr Transparenz, Auflagen und gegebenenfalls empfindliche Strafen für Online-Händler, damit weniger gefälschte oder illegale Produkte bei Kunden landen. Mit Transparenz alleine ist es jedoch nicht getan, schreibt der sozialdemokratische Berichterstatter Alex Agius Saliba in seinem Berichtsentwurf: „Drängende Probleme rund um Profilbildung, Targeting und personalisierte Preise können nicht nur durch Transparenzverpflichtungen und Wahlfreiheit für Verbraucher adressiert werden“.
Einen konkreten Ausweg nennt er zwar nicht, dafür helfen die Kollegen aus dem Innenausschuss aus. Sie fordern von der Kommission zumindest eine Einschränkung von Microtargeting, ähnlich dem Rechtsausschuss. Dieser benennt die verbreitete Methode von Online-Diensten, generell auf eine personalisierte Verstärkung bestimmter Inhalte – auch zu Werbezwecken – zu setzen als die „am meisten schädigende Praxis in der digitalen Gesellschaft“.
Positionen der Mitgliedstaaten
Obwohl der Gesetzesvorschlag der Kommission erst in einigen Monaten erwartet wird, hat die Frontbildung bereits begonnen. Zehn EU-Staaten der Gruppe D9+ legten im Mai ein Positionspapier vor, das erste rote Linien zieht. Kernbotschaft ist dabei nicht nur der Inhalt, sondern bereits die Zusammensetzung der Gruppe: In ihr verbünden sich kleine Staaten mit großer Digitalbranche wie Estland, Finnland und Schweden mit Ländern wie Polen, Irland und Luxemburg, die ausländische Konzerne mit niedrigen Unternehmenssteuern locken.
Die Gruppe der D9+ drängt in ihrem Positionspapier darauf, die Grundprinzipien der e-Commerce-Richtlinie beizubehalten. Sie pochen auf das Herkunftslandprinzip, nach dem Firmen in erster Linien den Gesetzen ihres Sitzstaates unterworfen sind. Auch drängt die Gruppe, keine Änderung der Haftungsregeln vorzunehmen und keine generelle Überwachungsverpflichtung für Inhalte einzuführen. Mit diesen roten Linien soll eine tiefgreifende (und womöglich Grundrechte einschränkende) Art der Regulierung verhindert werden. Die Ländergruppe kündigt an, weiter an gemeinsamen Positionen zu arbeiten.
Die meisten anderen Staaten haben noch keine klare Ausrichtung. In Deutschland liegt lediglich eine Einschätzung von Expert:innen im Auftrag der Bundesregierung vor, in Form einer Stellungnahme des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen des Bundesjustizministeriums. Eine politische Festlegung darauf, wie genau die Bundesregierung sich das Gesetz für digitale Dienste vorstellt, gibt es noch nicht.
Was wollen die Lobbyisten
Die großen Digitalkonzerne lobbyieren längst auf höchster Ebene zu dem Gesetzespaket. Bereits vor einem Jahr traf etwa die Youtube-Chefin Susan Wojcicki den damaligen irischen Regierungschef Leo Varadkar zu einem geheimen Stelldichein, um im Zusammenhang mit dem Digital Services Act über Inhaltemoderation zu sprechen.
Ein wichtiges Sprachrohr der Tech-Konzerne in Brüssel ist der Branchenverband Edima, dem unter anderem Google, Facebook, Apple, Microsoft, Snapchat, Twitter und TikTok angehören. In einem im Januar veröffentlichten Positionspapier warnt Edima davor, eine direkte Haftung von digitalen Plattformen für Inhalte von Dritten zu schaffen. Eine solche Haftung für Inhalte von anonymen Nutzer:innen hatten Verbände der Rechteinhaber, etwa Verlage und Filmbranche, in Lobby-Stellungnahmen gegenüber der deutschen Bundesregierung gefordert.
Ähnlich wie bei der EU-Urheberrechtsreform möchten die Rechteinhaber strenge Verpflichtungen für die Plattformen, die diese zum Filtern und Kontrollieren von Inhalten zwingen dürften. NGOs warnen aber, solche Auflagen und eine Umkehr der Haftungsregeln könnten fatale Folgen für die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte haben.
Stattdessen spricht sich das Positionspapier von Edima für eine „Verantwortung“ der Technologiekonzerne im Umgang mit illegalen Inhalten aus. Die Plattformen sollen selbst „systemische Schritte, Prozesse und Verfahren“ einführen, um gegen illegale Inhalte oder Aktivitäten vorzugehen. Der Begriff der Verantwortung wird dabei offenkundig als Synonym für einen weitgehend von den Plattformen selbst definierten Prozess gebraucht, der an die Stelle verpflichtender Maßnahmen treten soll.
Jenseits von rein digitalen Inhalten dürfte das Digitale-Dienste-Gesetz neue Regeln für den Online-Handel bringen. Auch dabei gibt es bereits intensives Lobbying. Markenhersteller wie Louis Vuitton und Chanel fordern weitaus strengere Kontrollpflichten für Online-Marktplätze wie Amazon und eBay, um gegen Produktfälschungen vorzugehen.
Positionen der Zivilgesellschaft
Ähnlich wie viele EU-Parlamentarier sehen Vertreter der Zivilgesellschaft eine Chance, das im Internet dominierende Geschäftsmodell endlich einzuhegen: Das Geschäft mit von Nutzer:innen im Netz hinterlassenen Daten, die später zu allem möglichen eingesetzt werden, etwa zum politischen Microtargeting.
Insbesondere derart ausgelieferte politische Werbung berge das Potenzial, die Demokratie auszuhebeln, warnt die polnische Digital-NGO Panoptykon Foundation. Mindestens sollte die EU künftig maßgeschneiderte politische Anzeigen verbieten, die auf menschliche Schwächen abzielen, fordern die Aktivisten. Besser noch: Die EU sollte jegliche Form der Werbung regulieren, die auf Nutzerprofilen aufsetzt.
In Österreich wiederum hat die NGO epicenter.works gemeinsam mit der Arbeiterkammer einen Diskussionsvorschlag ins Netz gestellt. Detailliert greift dieser die wichtigsten Punkte auf und bewertet sie aus einer zivilgesellschaftlichen Sicht. So müsse es bessere und transparentere Prozeduren bei der Inhaltemoderation geben, eine europäische Aufsichtsstruktur sowie ein öffentlich einsehbares Werbearchiv für Online-Anzeigen – allesamt Maßnahmen, die nun tatsächlich zur Debatte stehen.
Viele der Vorschläge sind in ein Positionspapier von European Digital Rights (EDRi) geflossen, die in Brüssel zivilgesellschaftliche Lobbyarbeit betreibt. Als allerersten Schritt fordert die NGO, die auf wenige Anbieter beschränkte und zunehmend zentralisierte Plattformökonomie zu zerschlagen. Diese technologische Sackgasse könne man etwa durch eine Verpflichtung zur Interoperabilität für Online-Dienste verlassen, heißt es in dem Papier – eine Forderung, die kürzlich in einem offenen Brief an die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager erneut bekräftigt wurde.
Als weitere entscheidende Schritte schlägt EDRi unter anderem vor, die bedingte Haftungsfreiheit nicht über Bord zu werfen, sie aber je nach Dienst auszudifferenzieren. Zudem sollte die EU den Plattformanbietern strikte Transparenzanforderungen vorschreiben und unabhängige Stellen schaffen, die über strittige Moderationsentscheidungen entscheiden.
Reise mit ungewissem Ziel
Das Digitale-Dienste-Gesetz ist bislang eine reine Absichtserklärung. Einen tatsächlichen Textentwurf möchte die EU-Kommission erst rund um das Jahresende vorlegen. Wie viel von den Vorschlägen des Parlaments und der Mitgliedstaaten darin landen, und wie viel von den Wünschen von Wirtschaftsvertretern, Lobbyisten und NGOs, das ist fürs Erste ungewiss.
Bis September läuft eine öffentliche Konsultation der Kommission zu dem Gesetzespaket. Sie soll der Wirtschaft, Expert:innen und NGOs erlauben, Vorschläge für das fertige Gesetz zu machen. Diese Eingaben könnten auch eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielen, wie umfassend das fertige Paket tatsächlich wird. Und ob das Versprechen eines umfassenden Regulierungsansatzes für digitale Plattformen auch tatsächlich einhaltbar ist.