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Hussiten

Die Revolution begann mit dem Ersten Prager Fenstersturz am 30. Juli 1419 in der von einer mobilen und aufstrebenden tschechischen Handwerkerschicht geprägten Prager Neustadt unter Führung des ehemaligen Prämonstratensers Johann von Seelau (Jan Želivský). Dessen flammende Predigten ließen die Kelchanhänger zur Tat schreiten, indem sie die zentrale Pfarrkirche der Prager Neustadt besetzten und in einer Prozession zum Rathaus zogen, um inhaftierte Glaubensgenossen frei zu bekommen, was die katholischen tschechischen Ratsherren verweigerten. Letztere wurden daraufhin von der fanatisierten Menge kurzerhand aus dem Fenster geworfen. Andere Übergriffe gegen Klöster und katholische Priester folgten in einer Spirale der Gewalt. In der Kernphase der Revolution (1419–1422) traten insgesamt fünf Führungsgruppen hervor: die radikalen Prager Magister, der böhmische Adel, die gemäßigt-hussitische Prager Altstadt, die radikalere Prager Neustadt sowie die im Frühjahr 1420 neugegründete Stadt Tabor in Südböhmen mit ihrem kurzzeitigen "ur-kommunistischen" Experiment sozialer Gleichheit. Letztere diente als Operationsbasis eines unter der Führung Jan Žižkas agierenden Volksheeres von "Gottesstreitern" (Bauern, Handwerker, Kleinadlige) und etablierte sich rasch als zweites Revolutionszentrum neben Prag, dabei theologisch weitaus radikaler und stärker gesellschaftsrevolutionär als die Landeshauptstadt. Ein ähnlich radikales Zentrum entstand zudem in Ostböhmen ("Orebiten", später "Waisen") nahe Königgrätz/Hradec Králové. Vergeblich versuchte der Nachfolger Wenzels, Sigismund von Luxemburg, gewaltsam mit Unterstützung eines großen Kreuzfahrerheeres und päpstlichem Segen auf den böhmischen Thron zu gelangen. Lediglich in Mähren konnte sich Sigismund 1423 mit Hilfe seines Schwiegersohns Herzog Albrecht von Österreich durchsetzen. Das militärische Unterfangen im Frühsommer 1420 endete mit einem Fiasko, ebenso wie alle nachfolgenden antihussitischen Kreuzzüge.

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Jan Žižka an der Spitze des hussitischen
Heeres. Göttinger Handschrift, nach 1460
[Niedersächsische Staats- und Universi-
tätsbibliothek, 2° Cod. Ms. theol. 182
Cim, fol. 82r].

1420/21 präsentierten die Hussiten ihr zentrales Programm, die sog. "Vier Prager Artikel": Abendmahl in beiderlei Gestalt; Freiheit der Predigt des Gotteswortes; Verzicht der Kirche auf ihre weltliche Macht sowie Säkularisation des kirchlichen Besitzes; Bestrafung öffentlicher schwerer Sünden der Geistlichkeit wie Wucher, Luxus oder Simonie. Auf Initiative Prags trat im Juni 1421 im mittelböhmischen Tschaslau/Čáslav ein Generallandtag zusammen, an dem konfessionsübergreifend alle politischen Kräfte im Lande teilnahmen - mit Ausnahme der mährischen Städte. Sigismund von Luxemburg wurde die Anerkennung als böhmischer König verweigert, an seine Stelle setzte der Landtag ein Direktorium von 20 Verwesern ein, dem Barone, Landedelleute und – zahlenmäßig dominierend – Stadtbürger angehörten und das für den inneren Frieden im Lande sorgen sollte, was freilich ein Wunschtraum blieb. Die Aktivitäten verlagerten sich nachfolgend auf die hussitischen Feldheere unter Führung des politisch ambitionierten Niederadligen und genialen Heerführers Jan Žižka von Trocnov, der nach innertaboritischen Auseinandersetzungen Ende 1421 den radikalen Zweig der Chiliasten (sog. Adamiten) liquidieren ließ. Zwei Jahre später wandte Žižka Tabor den Rücken zu und machte Ostböhmen zum Zentrum seiner Bruderschaft, wobei eine Militärordnung mit ständischer Gliederung als eine Art Grundgesetz das Zusammenleben normierte. Nach Žižkas Tod trat sein Nachfolger Prokop der Kahle ("der Große") an die Spitze der hussitischen Verbände der Taboriten und Waisen. In den Kämpfen gegen die unzureichend ausgerüsteten, zahlenmäßig mitunter jedoch überlegenen Kreuzfahreraufgebote nutzte Prokop erfolgreich die von seinem Vorgänger entwickelte innovative Form der Kriegsführung, die sich u. a. durch den Einsatz von Wagenburgen auszeichnete, den die "Gottesstreiter" geradezu perfektionierten. Der Hochadel neigte mehrheitlich einem gemäßigten Hussitentum zu, das auf den "Vier Artikeln" basierte. Zudem trat er für eine Säkularisation der Kirchengüter und ein von der Aristokratie abhängiges Königtum ein. Eine katholische Minderheit unterstützte weiterhin Sigismund von Luxemburg, allen voran der mächtige Baron Ulrich von Rosenberg. Nach der Niederlage des Kreuzfahrerheeres vor Aussig/Ústí nad Labem 1426 gingen die Hussiten ihrerseits von der Defensive zur militärischen Offensive über, wobei sie zugleich versuchten, mit Hilfe propagandistischer Manifeste, in denen sie die "Vier Prager Artikel" erläuterten und die Christenheit zum gemeinsamen Kampf gegen Kirche, Papsttum und weltliche Macht aufriefen, ihre Weltsicht zu verbreiten und Verbündete zu suchen. Auf den sog. "herrlichen Heerfahrten" (spanilé jízdy) drangen hussitische Heere weit in einige Territorien des Hl. Römischen Reiches (Schlesien, Sachsen, Brandenburg, Franken, Bayern und Österreich) vor, wobei sie nicht selten eine Schneise der Verwüstung hinterließen. Mitunter fanden die Hussiten auch Anhänger in Deutschland, die freilich zumeist in einer Serie von Inquisitionsprozessen auf dem Scheiterhaufen endeten. Mithilfe einer unpopulären "Hussitensteuer" suchten Kurfürsten und Reichsstädte 1427 die finanziellen Mittel für den Abwehrkampf gegen die böhmischen Ketzer aufzustocken.