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"Der Wunsch, beherrscht zu werden" - science.ORF.at

  • ️Fri May 07 2010

Nach Kant ist Aufklärung "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Dass Unmündigkeit aber etwas sehr Lustvolles sein kann, haben Kants Nachfolger von der Frankfurter Schule entdeckt: Den "autoritären Charakter", der diese Lust empfindet, haben sie nicht nur im Faschismus ausfindig gemacht.

Kategorie: Psychologie Erstellt am 07.05.2010.

Historisch waren es aber die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und anderen Faschismen, die Erich Fromm, Theoder W. Adorno, Max Horkheimer und schon zuvor Wilhelm Reich dazu gebracht haben, über das Zustandekommen autoritärer Denkmuster nachzudenken.

Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann zeigt in einem science.ORF.at-Interview die Wurzeln des "autoritären Charakters" auf und geht auch der Frage nach, wo er heute zuhause ist.

science.ORF.at: Was ist der autoritäre Charakter?

Der Begriff stammt aus der frühen Frankfurter Schule und verknüpft die Freudsche Tiefenpsychologie mit der Marxschen Makrosoziologie. Er zeigte, dass das Credo der Emanzipation, wonach sich der Mensch von der Autorität befreien will, so nicht stimmt. Die Menschen sind an Autorität ganz anders gebunden als von der Aufklärung gedacht, nämlich in Form eines psychischen Bedürfnisses. Es gibt zum einen den Wunsch, andere Menschen "nach unten" zu beherrschen, und zum anderen - und das war die große Innovation der Frankfurter Schule - auch den Wunsch, beherrscht zu werden.

Freud hat dazu wichtige Vorarbeiten geleistet, als er beschrieb, wie sich Herrschaft im Ödipalkonflikt verinnerlicht und psychisch sedimentiert. Dieses psychische Grundmoment, das Bedürfnis beherrscht zu werden, übersetzt sich in Weltanschauung und Ideologie: Der autoritäre Charakter glaubt an das Schicksal, die Konvention, das Althergebrachte, will keine Änderungen, glaubt nicht die eigene Mündigkeit etc.

Warum ist das Konzept gerade in den 30er Jahren entstanden?

Natürlich hat das mit dem Faschismus zu tun. Man hat sich gefragt, warum die Menschen plötzlich dem Führer, dem Duce etc. nachlaufen. Die von Adorno entwickelte F-Skala (Faschismus-Skala) hat das in den 50er Jahren empirisch untersucht - zunächst in den USA. Die F-Skala versucht nachzuweisen, wie psychische Dispositionen, autoritäre Denkmuster mit einer Neigung zum Faschismus zusammenhängen. Je repressiver das Umfeld ist, etwa durch besonders starre religiöse oder familiäre Strukturen, desto stärker ist die Neigung zum Autoritären. Bei den empirischen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass diese Neigung sehr verbreitet ist - über Schichten und Länder hinweg.

Die 68er-Generation hat diese Einsicht erstmals auf breiterer Basis ernst genommen und einen Gegenentwurf gemacht: den antiautoritären Charakter, der auf einer ebensolchen Erziehung beruht. War das eine direkte Folge?

Die Frankfurter waren sehr wichtig für diese Generation, keine Frage. Von Adorno bis Marcuse waren sie aber immer sehr skeptisch gegenüber den Jungen, die meinten, die Welt schon so gut zu verstehen, dass sich daraus bereits eine konkrete Praxis ableiten könnte. Es ging ihnen wie der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die die Trennung von Kunst und Leben aufheben wollte. Das Leben, die Realität war aber noch nicht bereit, in Kunst überzugehen, deshalb gab es sehr schnell Rückschläge. Auch bei der 68er-Bewegung musste man sich fragen, ob das nicht eine voreilige Übersetzung der Ideologiekritik in die Realität gewesen ist.

Adorno war ja sehr erschreckt über das autoritäre Gehaben vieler vermeintlicher Antiautoritärer.

Die Studenten sind ihm ja auch regelrecht zuleibe gerückt. Sie meinten, dass der Sozialismus jetzt schon praktiziert werden müsste. Als alter Marxist, der Adorno war, wusste er aber, dass es sich um keine revolutionäre Situation gehandelt hat. In seinem Aufsatz "Resignation" schrieb er an die Bewegung: "Ich bin nicht resigniert, ihr seid nur voreilige Aktionisten."

Konservative klagen seit geraumer Zeit, dass Kinder und Jugendliche heute überhaupt keine Autoritäten mehr respektieren. Haben die 68-er übertrieben?

Ihre Absichten waren die besten, aber ihre Umsetzung vermutlich übereilt. Ich denke allerdings auch, dass der Hang zum Autoritäten nicht verschwunden ist, sondern in andere Strukturen delegiert wurde: in die Massenkultur und Medienwelt. Zum einen ist heute alles ja so schön demokratisch - denken wir nur an das Internet. Zum anderen war das Untertauchen des Individuums in Kollektiven nie so verfestigt wie heutzutage - ob im Fußball oder bei Rockkonzerten. Schon Erich Fromm hat in den 20er Jahren gesagt: Der autoritäre Charakter ist einer, der manchmal sehr toll rebellieren kann, etwa gegen die Eltern, um sich dann anderen Autoritäten umso mehr zu unterwerfen. Die gilt es heute zu untersuchen.

Wobei es auch weiterhin noch sehr klassische Autoritäten gibt ...

Natürlich, wir reden nur von den gutbürgerlich-westlichen Autoritäten, man kann das nicht verallgemeinern. Hier aber hat die Umschichtung stattgefunden, weil sich die Vorstellung der autoritären Familienstruktur zumindest in den gebildeten Schichten verändert hat.

Ist die F-Skala heute noch sinnvoll?

Ich würde sie nicht mehr anwenden. Heute geht es nicht mehr um vordergründigen Faschismus, sondern um die Frage, wie sich autoritäre Anbindungen in der Alltagskultur festmachen, etwa in der Anhängerschaft zu Popsängern oder Fußballklubs. Welche subkutane politische Bedeutung hat es, wenn sich Massen finden, wenn sie ihre kulturindustriell legitimierten Idole bewundern? Und wie wirkt sich das auf ihre Weltanschauung aus?

Wie ist das Verhältnis des von den Frankfurtern beschriebenen autoritären Charakters zu dem heutigen, der sich der Kulturindustrie zuneigt?

Es ist gut kompatibel. Das sieht man in Israel sehr gut. Als Professor am Campus der Tel Aviver Universität beobachte ich das tagtäglich: Einige Studierende laufen herum wie zu Zeiten von Woodstock, sind politisch aber rechts außen orientiert, sie befürworten die starke Hand, die Härte gegenüber den Feinden etc. In Israel ist der Ausnahmezustand permanent ist, deshalb ist es ein großes Testlabor für die Frage: Was geschieht in einer Krise? Und es zeigt sich: Viele Leute rücken politisch nach rechts. Früher haben sich viele Israelis dem Militärdienst verweigert, heute gibt es eine neue Lust am Militärdienst. Das ist in vielen Ländern gleich, auch wenn die konkreten politischen Situationen anders sind.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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