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TISO, Jozef

Band XII (1997)Spalten 183-188 Autor: Lothar Bily

TISO, Jozef, kath. Priester, Politiker und erster Präsident der Slowakei, * 13.10. 1887 in Velka Bytča (Slowakei), � 18.4. 1947 in Bratislava (hingerichtet). - Geboren als zweites von sieben Kindern des Ehepaares Gaspar und Terezia Tiso. Der Vater war Metzger. J.T. wurde streng katholisch erzogen und ließ schon als Kind aussergewöhnliche Begabung erkennen. Daher konnte er an Stelle seines älteren Bruders eine höhere Schule besuchen. Gymnasialausbildung in Zilina und Nitra, nach dem Abitur Theologiestudium in Wien (als Zögling des angesehenen Seminars �Pazmaneum�). Dort beeinflußt von den katholisch-sozialen Ideen des Theologiedozenten und späteren österr. Bundeskanzlers Ignaz Seipel. 1910 Priesterweihe, anschl. Seelsorger in einigen kleineren slowakischen Gemeinden, 1911 Promotion zum Doktor der Theologie. Frontdienst als Feldkurat, sodann zunächst Religionslehrer an einem Gymnasium, schließlich Professor für Moraltheologie am Priesterseminar von Nitra. Seit 1919 betätigt sich J.T. politisch in der �Slowakischen Volkspartei� des Priesters Andrej Hlinka (1864-1938). 1921 Sekretär des neuen Bischofs von Nitra, Dr. Kmetko, der selbst Abgeordneter der Volkspartei war. J.T. gründet die beiden Zeitschriften �Nitra� und �Duchovn� Pastier�, ein Fachblatt für praktische Seelsorge. Ein Verfahren wegen Beleidigung des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Thomas Masaryk bringt ihm vier Monate Gefängnis ein und die Entlassung aus dem bischöflichen Dienst. 1924 Pfarrer in Bánovce nad Bebravou, 1925 Abgeordneter in Prag (in der Opposition), führt seine Partei aber in die Regierungsbeteiligung, daher 1927-29 Gesundheits- und Sportminister. Ab 1929 wieder in der Opposition und Vorkämpfer des sog. �autonomistischen Blocks�, eines Zusammenschlusses der Volkspartei mit der �Slowakischen Nationalpartei�. 1930 wurde J.T. stellvertretender Vorsitzender seiner Partei, 1938 Nachfolger des verstorbenen Parteiführers Hlinka. Als am 6. Oktober 1938 im Abkommen von Žilina der Slowakei innere Autonomie zugestanden wird (im Gefolge des �Münchner Abkommens�), wird J.T. erster Ministerpräsident der autonomen Slowakei. Seine Absetzung durch die Prager Zentralregierung am 9. März 1939 wird zum Anlaß für das nationalsozialistische Deutschland, die sog. �Rest-Tschechei� zu besetzen und in ein �Reichsprotektorat� umzuwandeln. Die Slowakei wird zum unabhängigen Staat unter deutschem Schutz (�Schutzstaat�) erklärt (14. März 1939), J.T. erneut Ministerpräsident (nach kurzem Rückzug in seine Pfarrei, am 10. März 1939), schließlich im Oktober 1939 erster Präsident des neuen Staates. Nach der Verfassung hätte J.T. die stärkste Position im Staate innegehabt, tatsächlich stand er in einem dauernden Konflikt mit radikalen und deutschfreundlichen Kreisen um den Ministerpräsidenten Vojtech Tuka (1880-1946, hingerichtet). So scheiterte 1941 ein von den faschistischen �Hlinka-Garden� gegen ihn betriebener Putsch. Ende August 1944 besetzte die deutsche Wehrmacht das Land, um einen sowjetisch-tschechoslowakischen Aufstand niederzuschlagen und degradierte die Regierung der Slowakei zu einem Marionetten-Regime. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im April 1945 floh J.T. über Kremsmünster (Österreich) nach Altötting (Bayern). Dort wurde er festgenommen und nacheinander in Freising und Garmisch-Partenkirchen inhaftiert. Trotz eines Antrages auf Asyl wurde er auf ein Ersuchen der neuen tschechoslowakischen Regierung hin an diese ausgeliefert. Am 2. Dezember 1946 wurde der Prozeß gegen J.T. und einige andere Minister der slowakischen Regierung eröffnet. Im einzelnen warf man J.T. vor: 1. Die Arbeit für die slowakische Selbständigkeit vor dem 14.3. 1939; 2. Verbrechen gegen das slowakische Volk im Bündnis mit Hitler; 3. Verbrechen gegen den nationalen (kommunistisch gelenkten) Aufstand gegen Hitler (Herbst 1944); 4. Unmenschliche Taten, bes. die Beihilfe zur Vernichtung der slowakischen Juden. Am 15. April 1947 wurde das Todesurteil verkündet, am 18. April im Gefängnis von Bratislava durch den Strang vollzogen. - J.T. fühlte sich nach eigenen Aussagen immer zuerst zum Priester berufen. Schon als Student beeinflußt von Ideen der katholischen Soziallehre, verstand er Seelsorge aber als Verbindung der Sorge um das ewige Heil mit der Sorge um soziale Gerechtigkeit. Diese soziale Sorge war in seiner konkreten Situation zunächst die Sorge um das slowakische Volk in seiner inferioren Position, die sich auch im neuen tschecho-slowakischen Staat nicht grundsätzlich änderte. So fühlte sich J.T. gedrängt, durch konkretes parteipolitisches Engagement für die Interessen seines Volkes zu arbeiten. Die Grundlagen für seine politische Tätigkeit fand J.T. in der christlichen Lehre mit ihren Grundsätzen aus dem Naturrecht. Aus der katholischen Soziallehre leitete J.T. eine Hierarchie der drei naturhaften Lebensordnungen Individuum - Familie - Volk ab. Jede dieser Ordnungen bekam von Gott Individualität und Freiheit gegeben, um sich selbst nach den je eigenen Kräften zu entwickeln. Die �öffentliche Macht�, also der Staat, hat dabei die Grundsätze, Rechte und Pflichten für die drei Lebensordnungen festzulegen und sie bei ihrer Entwicklung zu fördern. J.T. sah den Staat identisch mit dem Volk, der Nation. Das Volk (oder die Nation) ist eine lebende organische Einheit und natürlicher Träger aller Rechte. Es ist das einzig souveräne Wesen und steht insofern noch über dem Staat, der ihm zu dienen hat. Der Staatsorganismus ist so einzurichten, daß er als ein Werkzeug in den Händen der Nation zu deren Wohle dienen kann. Der erste selbständige slowakische Staat wurde als �Ständestaat� organisiert, kontrolliert von der �Slowakischen Volkspartei� mit ihren mehr als 350 000 Mitgliedern. In der gegebenen Situation sah J.T. das Einparteiensystem (�Alle Slowaken in einer Partei!�) und das �Führerprinzip� als vorteilhafter an. Auch galt für J.T. immer die Priorität der eigenen Nation (�Als erstes kommt die Liebe für das eigene Volk, dann die Ausweitung auf andere.�). Mit diesen korporativen Vorstellungen, die das Individuum sehr deutlich den gemeinschaftlichen Größen �Familie� und �Volk� unterordnen, und dem organischen Staatsverständnis stand J.T. durchaus im Rahmen der damals geltenden traditionellen katholischen Soziallehre. Das entschieden christlich-katholische Selbstverständnis ließ im übrigen keinen Zweifel an J.T.'s grundsätzlicher Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und zu Hitler. Kirchliche Kreise sahen in J.T. immer einen Garanten gegen eine Machtübernahme der Nationalsozialisten, den Machthabern im Deutschen Reich erschien er als unzuverlässig, klerikal und reaktionär. Ein im September 1941 gegen ihn geplantes Attentat war vom deutschen Sicherheitsdienst initiiert worden. Daß J.T. am Ende doch mit den Deutschen kooperierte, hat er immer mit dem Hinweis verteidigt, es sei darum gegangen, für die Slowaken das Schlimmste zu verhüten und eine Besetzung des Landes durch die Deutschen abzuwehren. In diesem Zusammenhang bleibt bis heute der große Streitpunkt Tisos Beteiligung an der Deportation und Vernichtung der slowakischen Juden. Insgesamt wurden in zwei Schüben 1942 über 56 000 Juden in die polnischen Vernichtungslager deportiert, von denen nur wenige Hunderte überlebten. Ohne Zweifel war J.T. vom traditionellen Antisemitismus des Sozialkatholizismus in der Doppelmonarchie geprägt worden. Er empfand die Juden als Ausbeuter des slowakischen Volkes und war als Politiker bestrebt, den jüdischen Einfluß in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zurückzudrängen. So kam es am 9.9. 1941 zur Verabschiedung des berüchtigten �Judenkodexes�, der die Juden praktisch aller staatsbürgerlichen Rechte in der Slowakei beraubte. J.T. hat diesen �Kodex� nicht unterschrieben, aber er dachte wohl an eine mögliche Aussiedlung der Juden. In einer Rede am 15.8. 1942 hat er die Deportation verteidigt (�Die Slowaken haben sich ihrer Schädlinge entledigt!�). Einer physischen Vernichtung des Judentums hat er nach Aussage glaubwürdiger Zeugen nie zugestimmt (Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht: �Tiso wollte als Priester damit nichts zu tun haben.�), vielmehr persönlich zahlreiche Juden mit Sondergenehmigungen vor der Deportation bewahrt, als die Wahrheit über die Sammellager in Polen durchzusickern begann (Frühjahr 1943). Insgesamt muß man aber feststellen, daß J.T. sich nicht gegen die antisemitische Vernichtungspolitik des pronazistischen Ministerpräsidenten Tuka und des deutschen Gesandten Killinger (beide hatten Anfang 1942 den Plan zur Aussiedlung beschlossen) durchsetzen konnte oder wollte, sicher auch aus der Besorgnis, den Deutschen keinen weiteren Vorwand für eine mögliche militärische Intervention zu liefern. Auf die letzte große Deportationswelle nach der Besetzung durch deutsche Truppen (ab September 1943) hatten die Slowaken keinen Einfluß mehr. - Solange die tatsächlichen Vorgänge nicht in allen Einzelheiten geklärt sind, wird eine völlig objektive Beurteilung der Person Tisos nur schwer möglich sein. Im Urteil der Nachwelt schwankte die Einschätzung zwischen kritikloser Verehrung (�Größter Sohn des slowakischen Volkes�) und entschiedener Ablehnung (�Fanatischer Antisemit, Handlanger der Nazis�). Seit der Wende von 1989 und der Errichtung eines neuen slowakischen Staates zum 1.1. 1993 hat eine öffentliche Diskussion um die Rolle Tisos begonnen. Nationalistische und katholische Kreise bewerten seine Gestalt mehr denn je positiv bis hin zu vereinzelten Forderungen nach einer Seligsprechung durch den Papst. Heute kann man wohl folgendes Fazit ziehen: 1. Tisos Politik fügt sich in den Rahmen einer traditionellen hierarchisch-ständischen Gesellschaftslehre. 2. J.T. war sicher kein Freund oder Anhänger Hitlers bzw. des Nationalsozialismus. 3. Sein Antisemitismus ist aber nicht zu leugnen: Er wurzelte in einem nationalistisch-völkischen Denken, für das alleine das slowakische Volk Bezugspunkt war. Innerhalb dieses Bezugsrahmens konnte auch der Priester J.T. bestimmte antijüdische Maßnahmen akzeptieren. Tisos �Beiträge� zur Lösung der Judenfrage sind verglichen mit der Politik Tukas �milde�, in sich aber immer noch zu verurteilen und abzulehnen. So erscheint J.T. am Ende als tragische Gestalt, der es in den eigenen Widersprüchen verfangen nicht gelang, sich rechtzeitig aus den Verstrickungen in die nationalsozialistischen Verbrechen zu lösen. Tiso versuchte am Ende die Juden menschlich zu retten, politisch hatte er sie aber schon lange geopfert.

Werke: Ideológia slovenskej l'udovej strany, 1930; Die Wahrheit über die Slowakei, Verteidigungsrede am 17./18. März 1947 vor dem Nationalgericht in Bratislava, hrsg. v. Jon Sekera (=Pseudonym f. Jozef Paučo), Passau 1948.

Lit.: Tido Gaspar, Der Präsident der slowakischen Republik, Preßburg 1939; - Poverinictvo Informacii (Hrsg.), Pred sudom naroda. Proces s Dr. J.Tisom, Dr. F.Durčanskym, A.Machom v Bratislave v dnoch 2.dec.1946 - 15.apr.1947, 5 Bde., Bratislava 1947; - K. Čulen, Po svätoplukovi druhß na�a hlava. Zivot Dr. Jozefa Tisu, Middletown 1947; - Frantisek Bokes, Die Geschichte der Slowakei, Prag 1954; - J. Lettrich, History of Modern Slovakia, London 1955; - T. Zubek, Monsignor Jozef Tiso. Controversial Personality, in: Homiletic and Pastoral Review 56 (NY 1956), 121-126; - Oscar J. Neumann, Im Schatten des Todes, Tel Aviv 1956; - L. v. Gogolak, Beiträge zur Geschichte des slowakischen Volkes, München 1963; - Milan Ďurica, La Slovacchia e le sue relazioni politiche con la Germania 1938-1945, Padua 1964; - Collegium Carolinum Bd. 15, Die Slowakei als mitteleuropäisches Problem in Geschichte und Gegenwart, München 1965; - J. K. Hoensch, Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik, Köln-Graz 1965; - Frantièek Vnuk, Dr. Jozef Tiso. President of the slovak republic, Sydney 1967; - Milan Ďurica, Die slowakische Politik 1938/39 im Lichte der Staatslehre Tisos, Regensburg 1967 (Gastvorlesung); - Johann Kaiser, Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der Slowakei 1939-45, 1969; - Jozef Paučo, Dr. Jozef Tiso a židovska otaska, in: Jednota, Katolicky Tyždennik, Middletown (USA), Jg.70, Nr.3625-3631 (Jan./Feb.1970); - Milan Ďurica, La republica eslovaca y la tragedia de los judios europeos, Buenos Aires 1975; - Yeshayahu Jelinek, The Parish Republic: Hlinka's Slovak People Party 1939-1945, New York 1976; - Lisa G. Nardini, Tiso: Una terza proposta, Padua 1977; - Dorothea El Mallakh, The Slovak autonomy movement 1935-39; 1979; - Wolfgang Venohr, Aufstand in der Tatra. Der Kampf um die Slowakei 1939-44, 1979; - Ernst Zeisel, War der Priester und Präsident Tiso Hitlers Handlanger und ein Judenverfolger?, Benediktbeuern 1979 (Diplomarbeit); - Ladislav Lipscher, Die Juden im slowakischen Staat 1939-45; 1980; - Karin Schmid, Die slowakische Republik 1939-45. Eine staats- und völkerrechtliche Betrachtung, 2 Bde., 1982; - Yeshayahu Jelinek, The Lust for power: Nationalism, Slovakia and the Communists 1918-48, 1983; - Tilman Berger, Art. �Slowakei�, in: P.Rehder (Hrsg.), Das neue Osteuropa von A-Z, München 19932, 633-635; - Tilman Berger, Art. �Tiso, Jozef�, in: P.Rehder (Hrsg.), Das neue Osteuropa von A-Z, München 19932, 699; - Toni Herget, Die freie Slowakei, in: Olmützer Blätter, 41.Jg., Heft 6/1993, 66-68; - LThK X, 209 (M.Lacko).

Lothar Bily

Literaturergänzung:

Ivan Kamenec, Tragédia politika, kňaza, človeka. Bratislava 1998; - Walter Brandmüller, Holocaust ind der Slowakei und katholische Kirche, Neustadt an de Aisch 2004; - Milan S. Ďurica, Jozef Tiso 1887-1947. Životopisn� profil, Bratislava 2006.

Letzte Änderung: 13.09.2006