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  • ️Sun Sep 16 2007
Wie der Vater, so die Tochter

Die Nationaltorhüterin der deutschen Eishockey-Damen kommt aus Kolbermoor. Das Talent hat Viona Harrer von ihrem Vater Siegfried geerbt

Bad Tölz, 7.9.2007: Die Eishockeymannschaft der Tölzer Löwen feiert einen 6:4-Sieg gegen den Schweizer Drittligisten EHC Winterthur. Doch gleichzeitig ist Torhüterin Viona Harrer vor Enttäuschung am Boden zerstört. Der Trainerstab will sie trösten, aber vergeblich. Dies war ihre große Chance, sich im Profiteam der Löwen zu profilieren, ihr erster Einsatz über volle 60 Minuten. Und nach zwei starken Dritteln kassiert sie im letzten Abschnitt mehrere vermeidbare Gegentore, die den guten Eindruck womöglich verwischen ...

Auf den ersten Blick ist die 20-jährige Viona Harrer aus Kolbermoor eine etwas andere Sondererscheinung im Männersport Eishockey. „Du hast die Haare schön!“, skandierten entzückte Zuschauer beim Spiel gegen Winterthur, als Harrer einmal ihre Maske abnahm und ein hübscher schwarzer Zopf zum Vorschein kam. Bei soviel Zuspruch scheint es beinahe unverständlich, dass sie nachher so absolut unzufrieden war. Niemand käme je auf den Gedanken, die Debütantin nun an den Pranger zu stellen. Urteilt die Öffentlichkeit also zu milde, oder ist Harrer zu selbstkritisch, zu ehrgeizig? Ist sie womöglich zu zart besaitet, mangelt es ihr an Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen? Nein, nein, so einfach ist es nicht. Es genügt nicht, ein paar Klischees aus der Geschlechterkiste hervorzukramen. Vielmehr ist es nötig, zu verstehen, wie lange und wie hart die junge Torfrau auf diesen einen Auftritt hinarbeiten musste. Es ist die unglaubliche Lebensgeschichte eines Stehauffräuleins.

Fangen wir ganz von vorne an. Die kleine Viona ist noch keine fünf Jahre alt, als sie beim SB Rosenheim erste Bekanntschaft mit dem Eishockeysport schließt. Es ist der Beginn einer innigen Freundschaft. Getreu dem Vorbild ihres Vaters Siegfried entscheidet Viona sich bald für den Platz zwischen den Pfosten. Siegfried Harrer war selbst ein recht erfolgreicher Tormann, musste seine Schlittschuhe jedoch verletzungsbedingt schon früh an den Nagel hängen. Später schlug er eine Laufbahn als Torwarttrainer ein. Er half mit, den Starbulls Rosenheim ihren Ruf als hervorragende Talentschmiede zu erhalten. Viona Harrer hatte das Glück, in ihrem Vater einen engagierten und kompetenten Förderer gefunden zu haben. Zu der Zeit, als sie ihre ersten Schritte auf dem Eis unternahm, war „Fraueneishockey“ in Deutschland noch kaum mehr als eine Wortschöpfung. „Die Förderung des Fraueneishockeys ist immer noch relativ schlecht“, bedauert Viona Harrer. Daher kommt es, dass Viona sich von klein auf im Wettbewerb mit Angehörigen des „stärkeren“ Geschlechts wiederfand. Rein weibliche Nachwuchsmannschaften und -ligen – ein frommer Wunsch, mehr aber nicht. Allein unter Männern, lautet im Jugendbereich bis heute weitestgehend die Devise. Viona Harrer machte das nur stärker. Sie setzte sich auf ihrer Position gegen so manchen Jungen durch. Jedoch – so ganz reibungslos lief es aber auch wieder nicht ab. 2001 stand sie altersmäßig vor dem Eintritt in die Deutsche Nachwuchs-Liga (kurz DNL), einer nationalen Eliteliga für 15- bis 17-Jährige. Da wollte man sie in Rosenheim nicht mehr haben. Der damalige Trainer sperrte sich beharrlich dagegen, ein Mädchen in sein Team aufzunehmen. Notgedrungen wechselte Harrer zum TEV Miesbach, der zwar in der DNL nicht vertreten war, ihr dafür aber eine Chance gab. So profitierte sie weiterhin vom guten Ausbildungsniveau bei den Jungen, während sie gleichzeitig die Damen-Bundesliga für sich entdeckte. Mit gutem Erfolg hütete sie das Tor des ESC Planegg-Würmtal. In einem Alter von 14, 15 Jahren wohlgemerkt. Sie machte in dieser Zeit einige Fortschritte und wurde entdeckt: Bis zu ihrem 16. Geburtstag war sie bereits fest ins deutsche Damen-Nationalteam integriert. „Meine erste WM hätte ich 2003 mitgemacht“, erzählt sie. Damals war man bereits nach Peking angereist, als das Turnier wegen des Ausbruchs der Epidemie SARS kurzfristig abgeblasen wurde.
Nach zwei Jahren war Harrer bereit für neue Herausforderungen. Auf eine Annonce des EC Bad Tölz hin bewarb sie sich vor der Saison 2003/04 in einem dreitägigen Auswahlcamp um einen Platz im DNL-Kader der Tölzer Jung-
löwen. Sie wurde angenommen. Weil das ständige Pendeln zwischen dem Tölzer Eisstadion und dem Heimatort Kolbermoor zu zeitaufwändig gewesen wäre, verließ sie ihr Elternhaus, um zu ihren Großeltern zu ziehen. Ab da wohnte sie in Reichersbeuern, wenige Kilometer von der Kurstadt entfernt, in der sie auch ihr Abi machte. Seit 2006 lebt sie in einer kleinen Mietwohnung im Nachbardorf Greiling.

In Bad Tölz fand Viona Harrer auch ihren zweiten großen Mentor, den DNL-Coach Rick Boehm. Das brachte Erfolg: 2004 kam sie endlich zu ihren ersten WM-Einsätzen in Halifax/Kanada. Bis dahin hatte sie ja schon den einen oder anderen Widerstand überwinden müssen. Doch was Ende 2004 seinen Anfang nahm und sich über fast zwei Jahre hinweg dahin zog, das ist in negativer Hinsicht kaum zu überbieten. Am 5. Dezember 2004 begann es, als Harrer sich während eines Spiels einen Kreuzbandriss am linken Knie zuzog. Es folgten unter anderem das Pfeiffersche Drüsenfieber, ein zweiter Kreuzbandriss (gespenstischerweise am 5. Dezember 2005), und eine Unterarmphlegmone, d.h. eine schlimme Keiminfektion nach einem eigentlich harmlosen Radunfall. Jedes Mal, wenn eine Verletzung auskuriert war, bahnte sich schon das nächste Unglück an. Es war eine schwere, tränenreiche Zeit. Verletzungsbedingt verpasste Harrer die WM 2005 in Schweden sowie Olympia 2006 in Turin. An der Fortführung ihrer Karriere hat sie aber nie gezweifelt, sagt sie. „Ich wollte einfach schnellstmöglich wieder fit sein, um weitermachen zu können.“ Aber sie sagt auch: „Man wird schon vorsichtiger. Und ich habe gelernt, dass es auch noch Anderes, Wichtigeres im Leben als Sport geben sollte.“

Seit nunmehr einem Jahr spielt Viona Harrer wieder regelmäßig Eishockey. In der Junioren-Bundesliga der 18- bis 20-Jährigen, einer Art Übergangszone für diejenigen, die „noch nicht weit genug“ für den Seniorenbereich sind, machte sie vergangene Saison eine gute Figur. Als Rick Boehm sie im DNL-Team nötig brauchte, kehrte sie noch ein letztes Mal zu den Jugendlichen zurück – sozusagen als Feuerwehrfrau.

Im April 2007 dann feierte Harrer bei der WM in Winnipeg/Kanada ihren persönlichen großen Auftritt: Gegen die übermächtigen, unbezwingbaren Gastgeber hielt sie fast bis zum Ende durch, bot eine beeindruckende Leistung und kassierte „nur“ sieben Tore (das Spiel endete 8:0). Tausende von Fans jubelten ihr anschließend mit Standing Ovations zu – für deutsche Verhältnisse unvorstellbar. Die kanadischen Zeitungen titelten „Berlin Wall“ und wollten ein Interview mit Harrer, die besten Spielerinnen der Welt zollten der Torfrau Anerkennung. „Es gab wenig Vergleichbares in meiner Karriere. Man kann kaum sagen, dass es ein Höhepunkt war, da wir dieses Spiel ja hoch verloren haben.“ Aber Viona Harrer ist unvermindert erfolgshungrig. „Mein Ziel ist es, einmal in der Oberliga einen Vertrag zu bekommen, sodass ich wenigstens ein paar Spiele machen kann.“

Kaufbeuren, 8.9.2007: Nur 24 Stunden nach dem Rückschlag gegen Winterthur steht Viona Harrer wieder im Tor. Diesmal geht es mit der Damen-Nationalmannschaft gegen die Schweiz. Harrer hält souverän, muss lediglich einen einzigen Gegentreffer einstecken. Deutschland gewinnt mit 3:1. Wieder einmal hat Viona Harrer bewiesen, dass sie sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Nach dem Schlusspfiff strahlt sie und ballt die Faust. Sie ist eben ein echtes Stehauffräulein. (kil)

Foto: Ehrgeiz pur - Viona spielt bei den Männern mit


[ ID: 101693   -   Date: 2007-09-16 14:56:23 ]
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