Die Zukunft der Haie: Der Mann, der Hai werden will - SPIEGEL reporter 3/2001
- ️SPIEGEL ONLINE, Hamburg, Germany
Sie sind Killer, Bestien, die blutrünstigen Könige der Meere - glauben wir. Der Meeresbiologe Erich Ritter aber schwimmt mit ihnen, streichelt sie, will ihre Sprache lernen. Er ist verliebt in Haie.
Es wäre eigentlich keine große Sache: Die Boje ist nicht weit von der Küste entfernt, 90 Meter vielleicht, und ab acht Uhr abends ist das Meer auf dieser Seite der Insel ruhig wie Badewannenwasser - sogar ein mittelmäßiger Schwimmer wäre in zwei Minuten wieder am Ufer. Trotzdem hat sich noch kein Mensch getraut, die Boje zu umrunden, denn irgendwo da draußen sind sie, und um diese Zeit haben sie den größten Hunger.
Nur ein paar hundert Meter entfernt sitzen zwölf Leute in einem klimatisierten Raum des einzigen Hotels auf Walker's Cay, der nördlichsten Insel der Bahamas, und hören einem Mann mit Rundbart und kurzen Hosen zu, der ihnen seit einer Stunde eine Geschichte erzählt.
Es ist eine alte Geschichte: Sie hat zu tun mit der Boje da draußen und mit einem Tier, das seit 400 Millionen Jahren existiert und von dem wir nur wenig wissen. Die Geschichte handelt von einem Superstar, einem Mythos, einem Revolverhelden, der überall, wo er auftaucht, für Panik und Unruhe sorgt.
Der Mann redet von Haien.
Erich Ritter hat sich gut vorbereitet: Er zeigt seinem Publikum Fotos, Dias und Videofilme von all den Haien, mit denen er je zu tun hatte: von Makos und Tigerhaien, von Hammerhaien und Bullenhaien, auch von einem großen Weißen, vier Meter lang, eine Tonne schwer. Und mittendrin schwimmt Ritter, Hai-Biologe aus der Schweiz - ohne Kettenhemd, ohne Käfig, nur im Taucheranzug, so nah, dass er sie berühren kann.
Das Publikum ist fasziniert. Da vorn redet ein Verliebter. "Der Hai", sagt Ritter, "ist ein komplett missverstandenes Tier, keine dumme Fressmaschine, auch nicht grundlos aggressiv, sondern das schönste Tier der Welt - und vielleicht das klügste."
Seine Zuhörer haben 1200 Dollar für Unterkunft und Ausrüstung bezahlt, um Ritter kennen zu lernen und teilzunehmen an einem einwöchigen Hai-Workshop, den er hier zusammen mit seinem Freund Gary Adkinson, einem Unterwasserfilmer, anbietet. Die Männer und Frauen wollen herausfinden, ob wahr ist, was Ritter behauptet und was ihm unter Kollegen den Ruf eines Irren eingebracht hat: dass Haie ungefährlich sind - wenn man sie kennt.
Morgen früh werden sie zum ersten Mal mit Ritter und seinen Freunden tauchen. Etwa hundert Haie werden erwartet, "zum Lunch" wie Ritter lächelnd sagt. Karibische Riffhaie, Schwarzspitzenhaie, Zitronenhaie Ammenhaie, vielleicht sogar ein Tigerhai.
Es ist eine lustige Mischung von Teilnehmern: Juris Krastins, 35, Energiebaumanager aus Riga, hat sich in Südafrika mal ein paar Stunden in einem Käfig abseilen lassen, um Weiße Haie zu beobachten; seitdem lässt er sich von seiner Firma bei Auslandsreisen bevorzugt in Küstenregionen schicken. Peter Martin, ein Meeresbiologe aus Rostock, erlebte den größten Moment seines Lebens, als er im Roten Meer einen Schwarm Hammerhaie beobachtete. Auch ein paar Frauen suchen den Thrill: Claire, eine Sozialarbeiterin aus London; Brooke, eine Chemikerin und Biologin aus Connecticut, mit einem Blauhai-Tattoo auf dem Rücken; und Elodie, 24, aus Montreal, ebenfalls tätowiert, ein Weißer Hai, direkt auf der Bikinilinie, sehr hübsch. Armin, Psychologiestudent in Zürich, interessiert vor allem die Angst, die der Hai beim Menschen auslöst. Und die Brüder Dave, Steve und Michael Perlman, alle um die 50, sind hergekommen, um die Angst zu besiegen, die der Film "Der weiße Hai" in ihnen hervorgerufen hat. Von Ritter wollen sie wissen, ob es wahr ist, dass sich Haie bei einem Angriff immer auf das schwächste Opfer stürzen.
Eins aber haben die Gäste auf Walker's Cay gemeinsam, egal wie viel sie über die Tiere wissen mögen aus den Dokumentationen der Cousteaus, den Büchern von Hans Hass oder den Horrorgeschichten des "Der weiße Hai"-Autors Peter Benchley: Keiner von ihnen war jemals mit derart vielen Großhaien zusammen im Wasser, mittendrin, während die Sinne der Tiere auf Hochtouren arbeiten, weil Fischreste, Blut und Menschen im Wasser sind.
Denn genau so wird es morgen sein.
Darum sind die Hai-Freunde ein wenig unsicher, egal wie souverän Ritter auch wirkt, der seit 15 Jahren mit Haien forscht und Lehraufträge an den MeeresbiologieFakultäten der Universitäten von Miami und Zürich hatte und derzeit in New York unterrichtet. Sie sind unsicher, weil die Mythen vom Hai, dem unberechenbaren Mörder, tief drin in ihnen sind.
Es sind ja auch nicht alles nur Mythen: Hai-Angriffe passieren immer wieder, meist an den Küsten von Florida, Australien und Südafrika, über 50 pro Jahr, 6 bis 7 von ihnen enden tödlich. Etwa die Hälfte der Opfer sind Surfer, weil der Hai, glauben viele Forscher, meist der Weiße, das Brett mit einer an der Oberfläche schwimmenden Robbe verwechselt, seiner Hauptnahrungsquelle. "Mistaken Identity" heißt diese populäre These. Für Angriffe auf Schwimmer und Speerfischer werden meist Tigerhaie und Bullenhaie verantwortlich gemacht: der Tigerhai, weil er den Ruf eines Müllschluckers hat, der alles frisst, was ihm in den Weg kommt; und der Bullenhai, weil er bevorzugt in flachem Gewässer jagt.
Die Zahl der Angriffe ist natürlich nichts im Vergleich dazu, wie viel Millionen Menschen jedes Jahr im Meer baden. Trotzdem geschieht manchmal das statistisch Unmögliche, wie im September vergangenen Jahres in Australien, als innerhalb von 24 Stunden zwei Surfer von Weißen Haien angegriffen und aufgefressen wurden. Und vor kurzem geriet vor St. Petersburg in Florida ein 70-jähriger Schwimmer in einen Fischschwarm, in dem gerade ein 200 Kilogramm schwerer Bullenhai jagte. Er biss nur einmal zu, der Mann verblutete.
Immer wenn es zu solchen Zwischenfällen kommt, ist ein paar Wochen lang wieder alles so wie in Benchleys Buch: Panik an den Stränden, Unsicherheit bei den Touristik-Behörden, Killerschlagzeilen in den Tageszeitungen - der Hai ist das Lieblingsmonster des Menschen. Und deswegen glaubt Ritter, dass die Menschen versuchen, sich vor diesem Raubtier zu schützen, indem sie es als dumm und unsensibel darstellen. Tatsächlich, sagt er, seien die Hypothesen zu den Hai-Überfällen kaum haltbar. Versuche mit Robbenattrappen, die hinter einem Boot hergezogen wurden, seien erfolglos geblieben - kein Weißer Hai fiel auf den Trick herein. Zwar näherte er sich, riskierte sogar mal einen Biss, doch das, glauben Forscher, könne auch eine Art Spiel sein. Man muss, sagt Ritter, endlich akzeptieren, dass der Weiße Hai, der 100 unterschiedliche Angriffsstrategien kennt, das klügste Raubtier der Welt ist.
Geahnt, erzählt Ritter, habe er die Intelligenz des Hais schon immer, auch damals, als er in Zürich noch Fischkunde studierte. Das Meer war weit entfernt und Ritters Interesse zuerst nichts als Neugier, Trotz und Abenteuerlust. Weil niemand etwas über Haie zu wissen schien. Weil das Tier so verrufen ist. Und weil es romantisch klang, in den Ozeanen dieser Welt sein Leben einem verfolgten Monster zu widmen.
Ein Angsthase war Ritter nie. In seiner Jugend gehörte er zur Schweizer Nationalmannschaft der Karatekämpfer, bis er am Knie verletzt wurde; aber frei von dem Kollektivwahn, den Spielbergs Film ausgelöst hatte, war auch er nicht: Als er vor mehr als zehn Jahren in Thailand eher zufällig seinem ersten Hai, einem kleinen Riffhai, begegnete, geriet er in Panik. Doch das Tier zeigte keinerlei Aggressionen. "Als ob ich plötzlich ein ganz anderes Tier vor Augen hatte", sagt er. "Die Bilder unserer Furcht schaffen wir uns selbst."
Den Hass auf den Hai an sich bekommt Ritter immer wieder zu spüren, wenn er für das Global Shark Attack File unterwegs ist, ein Institut, das sämtliche Hai-Angriffe - oder "Hai-Unfälle", wie Ritter lieber sagt - protokolliert und auswertet. Ein Höllenjob für jemanden, der Haie liebt, denn er muss das Opfer nach den genauen Daten des Angriffs, nach Zeit, Ort und Situation befragen. Und manchmal, wenn vom Opfer nichts mehr übrig ist, befragt Ritter Zeugen oder Hinterbliebene - wie ein Kriminalkommissar, der einen Mord aufklärt.
Als Ritter die Witwe des Rentners aus Florida besuchte, redete sie in ihrer Trauer davon, dass ein Fluch des Teufels auf ihr liege - und dass die Haie, "diese verfluchten Bestien", dessen Todesengel seien. Bei solchen Gelegenheiten verzichtet Ritter auf sein Plädoyer für das missverstandene Tier. Zu archaisch und grausam ist der Tod durch den Hai: ein riesiges Geschöpf, das aus der Tiefe kommt, schnell und kräftig mit bis zu sieben Zahnreihen zubeißt, die Gliedmaßen des Opfers zerreißt, den Körper zerfetzt. Der Hai ist der perfekte Jäger, so gut an seine Umgebung angepasst wie kaum ein anderes Tier dieser Welt. "Aber hasst man Autos, bloß weil man einen Unfall hatte?"
Diese Tragödien, sagt Ritter, müssten nicht passieren, wenn der Mensch endlich versuchen würde, den Hai zu verstehen. "Hin zum Hai statt weg vom Hai!", sagt er zu Juris, Peter, Armin, Brooke und den zweifelnden Perlman-Brüdern: "Ihr werdet lernen, mit den Haien zu kommunizieren!"
Es ist sonnig und klar, als am nächsten Morgen um neun das Boot ablegt. An Bord ist neben Ritter, Adkinson, den Hai-Schülern und ein paar bahamischen Tauchern auch ein australisches Fernsehteam.
"Einen Weißen werden wir heute aber nicht sehen, oder?", fragt Dave, der kleinste der Perlman-Brüder.
"Nur wenn wir extrem viel Glück haben", antwortet Ritter.
Es dauert nur zehn Minuten, bis das Riff erreicht ist, an dem die Fütterung stattfinden soll. Ritter nennt sie "Shark-Rodeo", weil das ein wenig gefährlich klingt und weil die Touristen, die nach Walker's kommen, es gern haben, wenn die Dinge gefährlich klingen. Im Gegensatz zu den Hai-Fütterungen aber, die auch auf den anderen Inseln der Bahamas und vor Thailand, im Roten Meer und vor Hawaii seit einigen Jahren mit großem Erfolg stattfinden, funktioniert das "Shark-Rodeo" etwas anders: Das Futter, zerhackte Teile von Barschen und Tunfischen, wird den Haien nicht von einem "Heldentaucher", wie Ritter ihn nennt, mit der Hand gereicht, sondern als gefrorener Batzen serviert, der ein paar Meter unter der Wasseroberfläche an einer Boje hängt. Durch diesen "Chumsicle" wird vermieden, dass Haie die Hand eines Menschen mit Futter assoziieren, was woanders schon zu Unfällen geführt hat.
Das Boot dreht ein paar Extrarunden, um den Haien noch mehr Zeit zu geben, die elektrischen Schwingungen zu lokalisieren. Das wäre nicht nötig gewesen.
Denn sie sind schon längst da.
Als blaugraue Schatten kreisen die Haie um das Boot herum, manchmal guckt sogar eine Flosse heraus.
"Mein Gott", stöhnt Dave Perlman. "Das ist die Hölle."
Ein paar kurze Anweisungen, wo die Taucher sich am Grund versammeln sollen, dann springen Ritter, Adkinson, die Kameraleute ins Wasser, gefolgt von den Schülern. Und nun sind sie da, im Reich der Haie.
Ritter hat nicht übertrieben: Etwa 70 oder 80 sind gekommen, Karibische Riffhaie, lang, schlank, mit runder Schnauze, Schwarzspitzenhaie, eher konisch geformt. Ihre Köpfe pendeln von rechts nach links wie eine Radaranlage. Sie haben Peilung aufgenommen nach den Reizen, die die Taucher ausstrahlen: Gerüche, Geräusche, Farben, Formen. Ein Hai sieht zehnmal besser als ein Mensch, und er hat ein Sinnesorgan mehr. Mit den Lorenzinischen Ampullen rings um die Schnauze kann er elektrische Felder wahrnehmen. Aus all diesen Reizen berechnet der Hai sein Interesse: Sind die Taucher potenzielle Nahrung oder potenzielle Gefahr? Soll er näher ranschwimmen oder abwarten?
Je größer der Reiz durch Bewegung, Herzschlag, Wärmeimpulse, desto stärker auch die Reaktion des Hais. Deswegen hat Ritter den Tauchern eingeschärft, ihre Körperreaktionen so gut es geht zu kontrollieren. Ein schneller, panikartiger Pulsschlag ähnelt nämlich dem Fluchtimpuls eines Fisches und könnte beim Hai einen Fressimpuls auslösen. Ritters Freund Adkinson erlebte das vor ein paar Wochen, als ihm ein Weißer Hai in die Schwimmflosse biss. "War das auch ein Spielimpuls?", schrie Gary, als er glücklich wieder an Bord war.
"Hätte er dich fressen wollen, hätte er es getan", antwortete Ritter beleidigt.
Jede Annäherung eines Hais, hat Ritter herausgefunden, geschieht nach dem gleichen Muster: Nach der Lokalisierung umschwimmt er das Objekt in dreidimensionalen Kreisen - zuerst mit Abstand, um sich selbst nicht zu gefährden; hat er genug Mut gesammelt, nähert sich der Hai einem Taucher bis auf einen Meter - und manchmal berührt er ihn. "Den Kuss des Hais" nennt Ritter das.
So ist es auch jetzt am Meeresboden, in zehn Meter Tiefe: Die Haie schwimmen um die Taucher herum, die ruhig am Boden knien - aber nur kurz, denn nun fällt das gefrorene Fleisch ins Wasser, der Chumsicle. Die Haie stürzen sich darauf, wie man es aus den Horrorfilmen kennt: Sie verbeißen sich und reißen so lange daran herum, bis sie ein Stück im Maul haben, um sich dann rasch wieder zu entfernen.
Je länger sich die Haie mit dem Chumsicle beschäftigen, umso klarer wird, dass ihr Verhalten nicht viel mit dem Killerinstinkt zu tun hat, der ihnen unterstellt wird. Ein paar von ihnen umkreisen das Fleisch nur und sind eher genervt von den Pilotfischen, die die ganze Zeit um sie herumschwimmen. Für Ritter und Adkinson interessieren sie sich auch nicht besonders - wenn die beiden mal einen Stoß abbekommen, sind das eher ihre Taucher, weil sie mit der Kamera wohl am liebsten im Schlund der Haie Bilder machen würden. Wirklich passiert ist nur einmal etwas, als ein Frauenmagazin eine Modestrecke unter Wasser fotografieren wollte: Adkinson wurde in den Arm gebissen, weil eins der Models dachte, es sei lässig, einen Hai mit einem Plastikzepter zu pieken. Irgendwie ist es immer Adkinson, der was abkriegt.
Auch nachdem die Haie das Fleisch aufgefressen haben, sind sie keineswegs so erregt, dass sie sich nun auf die Menschen stürzen - sie kehren zurück zu ihrem alten Sicherheitsabstand. Peter schwimmt direkt auf einen drei Meter langen Riffhai zu, der verschreckt abdreht. Armin und Claire versuchen, Rückenflossen zu greifen, als seien die Haie Delfine. Elodie und Brooke nähern sich von unten, um den Haien die Bauchseite zu streicheln, was sogar gelingt. Doch als Dave Perlman von fünf Schwarzspitzenhaien umkreist wird, reißt er sich plötzlich die Tauchermaske vom Gesicht. Die Haie flüchten, und fast sieht es so aus, als hätten sie mehr Angst vor Perlmans Unberechenbarkeit als er vor ihnen.
Zurück an Bord sind alle Taucher fassungslos. Ihre Begeisterung ist eine Mischung aus Erleichterung, Staunen und Stolz: Erleichterung darüber, wieder lebend und ganz auf dem Boot zu sein; Staunen über die Schönheit und Eleganz der Tiere und Stolz darauf, den vermeintlichen Mördern so nahe gekommen zu sein. Sogar Dave Perlman hat sich wieder beruhigt und sucht wie ein reuiger Sünder alle Schuld bei sich selbst. Es gab schon Frauen, erzählt Ritter, die sofort zurück ins Wasser wollten, diesmal aber nackt, weil die Tiere so erotisch seien. Mag sein, antwortet Ritter dann immer, "aber im Bett sind sie nicht so gut".
Man könnte jetzt entspannt etwas essen und in die Hafenbar ein Bier trinken gehen, aber Ritter hat noch nicht genug; er will seinen Schülern noch mehr beweisen.
Es ist später Nachmittag, als Ritter uns zu dem Strand führt, an dem sich die Boje befindet, der Strand, an dem jeden Abend die Bullenhaie jagen. Er schüttet Blut und Fischreste ins flache Wasser, wartet ein paar Minuten, bis fünf Bullenhaie kommen, dann klettert er die Felsen hinunter und stellt sich ins knietiefe Wasser - mit nackten Beinen, seine Füße auf zwei frisch abgeschnittenen Barrakuda-Köpfen.
"Es ist die gefährlichste Situation, die vorstellbar ist", ruft Ritter wie ein Magier, der dem Publikum seinen neuesten Trick vorführt. "Das Wasser ist flach, es herrscht schlechte Sicht, Blut ist im Wasser, ich stehe ungeschützt auf dem Futter, und um mich herum fünf Bullenhaie, die angeblich aggressivste Art, allesamt mit einem Riesenhunger!" Die Haie umkreisen Ritter, ihre Schnauzen am Boden. Als sie bei seinen Füßen ankommen, ziehen sie die Fischköpfe einfach unter seinen Sohlen hervor, ohne ihn zu berühren.
Ritter strahlt: Sie lieben ihn auch.
Und nicht nur ihn, sondern auch Juris, Elodie, Brooke, Armin und die anderen, die sich mit ihren Schnorchelausrüstungen neben Ritter ins Wasser legen und beobachten, mit welch chirurgischer Präzision sich die Haie ans Fressen machen und sich gegenseitig Deckung geben wie Polizisten beim Einsatz. Dass Ritter diesen Versuch eben zum allerersten Mal gemacht hat, erzählt er den Kursteilnehmern erst später.
Ist der Hai also gar kein Monster, kein wildes, unzähmbares Raubtier, sondern einfach nur ein Kuschelfisch, mit dem wir schwimmen gehen können?
Ritters Studien und Versuche beweisen, dass Haie vorsichtig und intelligent vorgehen, wenn sie sich etwas Fremdem nähern; sie beweisen, dass es für die Jagden, die in der ganzen Welt auf Haie veranstaltet werden und die dafür sorgen, dass etwa 70 Arten bedroht sind, keinen Grund gibt. Zwar plädieren mittlerweile immer mehr Länder für den Schutz der Haie und verbieten das Abschneiden der Flossen bei lebendigem Leib, das besonders häufig vor den Küsten Japans und der Arabischen Emirate vorkommt und die schlimmstmögliche Quälerei der Tiere ist. Trotzdem aber werden pro Jahr 100 Millionen Haie gefangen. Und die australische Regierung dachte nach dem "Doppelmord" im September sogar darüber nach, das Fangverbot für den hoch gefährdeten Weißen Hai aufzuheben und den legendären Hai-Fischer Vic Hislop damit zu beauftragen, "dieses eine Tier aus dem Wasser zu holen". Was kaum möglich ist, da man dem Hai erst in den Bauch gucken müsste, um zu wissen, was oder wen er gefressen hat. Die Hetzjagd auf den Weißen Hai hätte wieder begonnen.
Vor allem aber beweisen die Forschungen Ritters, dass der Hai nur solch ein Mythos ist, weil immer noch so wenig über ihn bekannt ist. Wo die Karibischen Riffhaie ihre Jungen zur Welt bringen, ob es Familienstrukturen gibt, wie alt sie werden und ob die Haie so etwas wie eine Sprache haben - das alles weiß Ritter nicht.
Da der Mensch aber in der Regel nur Tiere schützt, die ein Sozialverhalten haben, will er in diesem Jahr den Beweis dafür erbringen, dass auch Haie lernfähige Geschöpfe sind. Als Forschungsobjekt hat er sich den Weißen Hai, den Superstar seiner Art, ausgesucht. Alles andere sei eigentlich nur Training gewesen.
Dafür aber muss er dem Weißen Hai so nahe kommen wie den Bullenhaien. Er muss sein Vertrauen gewinnen, sich auf ihn verlassen können. Er muss ein Hai werden. Bald schon will er sich mit einer offenen Beinwunde ins Wasser stellen. Eines Tages, daran besteht kein Zweifel, wird er gebissen werden, sei es auch nur deshalb, weil ein Hai sich bedroht fühlt - aber Ritter braucht diese Erfahrung, um die Grenze zu erkunden zwischen Mensch und Hai.
Denn natürlich wird der Hai immer ein Raubfisch bleiben.
Der Kurs, den Ritter anbietet, ist perfekt geeignet, um den Menschen die Angst vor dem Hai zu nehmen; um ihnen zu zeigen, dass er eben kein Feind ist, sondern ein wunderschönes Tier, das man schützen muss. Der Kurs bringt Tauchern bei, sich richtig zu verhalten, wenn sie einem Hai begegnen; nicht durchzudrehen und sich die Maske vom Kopf zu reißen wie Dave Perlman.
Gegen einen Hai aber, den man vorher nicht sieht, wird es nach wie vor keinen Schutz geben. Denn ein Schwimmer, der an der Küste Mauis oder vor Südafrika auf einmal eine Flosse sieht oder einen riesigen Schatten hinter sich, wird nicht wie Ritter in der Lage sein, seinen Puls auf unter 50 Schläge pro Minute zu halten.
Der Hai wird also nie ein Kuschelfisch werden.
Genau dafür aber lieben wir den Hai. Deswegen stehen die Menschen Schlange, wenn der Künstler Damien Hirst seinen in Formaldehyd eingelegten Tigerhai präsentiert wie ein Fabelwesen. Der Hai ist der letzte Beweis dafür, dass sich nicht alle Natur untertan machen lässt und dass sie manchmal eben wild und gefährlich bleibt - er ist eine lebendige Erinnerung an eine alte Welt.
Vielleicht wird es so etwas wie eine Koexistenz geben zwischen Hai und Mensch. Vielleicht wird man lernen, Unfälle als einen Schicksalsschlag hinzunehmen. Als etwas, das eben passiert, wenn man aus der Welt keinen Hochsicherheitstrakt machen will.
Nach einer Woche von unzähligen Hai-Begegnungen, die allesamt problemlos verliefen, stehen Juris, Claire, Armin und Peter am letzten Abend an dem Strand mit der Boje. Juris blickt auf das schwarze Meer hinaus, dann zieht er einen 100-Dollar-Schein aus der Tasche und hält ihn hoch.
"Und?", fragt er. "Traut sich jemand?"
Armin, Peter und Claire sehen sich an. Und schweigen.
*
Autor Marc Fischer, 30, hat sich einen Lebenstraum erfüllt. Das erste Mal begegnete er einem Hai als Kind mit den Eltern im Atlantik-Urlaub: Da sah er die Flosse eines Makohais, der mit 70 Stundenkilometern durchs Wasser schoss. Seitdem faszinieren ihn die Raubtiere. Inzwischen ist Fischer stolzer Besitzer eines Hai-Taucher-Ausweises, der ihn dazu berechtigt, als Erster in haiverseuchtes Gewässer hineinzuspringen. Noch in diesem Jahr will er eine zweite Begegnung mit den Haien wagen - diesmal in Südafrika.
"Das Lächeln der Haie" heißt das Buch von Erich Ritter, das im Verlag Dr. Werner Steinert erschienen ist (30 Mark) und in dem er von seinen Erlebnissen erzählt. Nähere Informationen zu Ritters Lehrgängen finden sich auf der Website der Schweizer Organisation Shark Foundation (www.hai.ch).