Soul
- ️Wed Dec 09 2020
Fünf Jahre nachdem uns Regisseur Pete Docter in „Alles steht Kopf“ in die Welt der Gefühle mitnahm, veranschaulicht er in seinem neuen Pixar-Meisterwerk SOUL die menschliche Seele und geht der Frage nach, was uns formt und zu Menschen macht. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Was macht uns Menschen aus? Wie werden wir …. „Wir“? Nun, diese Fragen stellt sich die leicht chaotische und eigensinnige Seele namens 22 (Originalstimme: Tina Fey) nicht. Sie mag weder die Persönlichkeiten noch die Interessen, die Menschen erhalten, bevor sie auf der Erde ankommen. Und generell will sie mit dem ganzen Erdenkram relativ wenig zu tun haben. Bis sie eines Tages auf Joe Gardner (Jamie Foxx) trifft. Durch ein dummes Missgeschick landet der aufstrebende Jazzmusiker nur wenige Stunden vor seinem großen Auftritt an einem fantastischen, mystischen Ort, an dem sich alle Seelen aufhalten, bevor sie auf die Erde kommen. Dort muss er sich fortan mit der neunmalklugen 22 an seiner Seite auseinandersetzen, die noch nie verstanden hat, was an diesem menschlichen Leben eigentlich so toll sein soll. Während Joe verzweifelt versucht, 22 zu zeigen, wie großartig es ist, ein Mensch zu sein, stolpern die beiden von einem Schlamassel zum nächsten.
Kritik
Das Animationskino eignet sich wie kein zweites, um Dinge zu zeigen, die sich mit herkömmlichen Methoden kaum bis gar nicht veranschaulichen ließen. Bis heute gelten die Studios Disney und Pixar als Vorreiter für das Erschließen neuer Erzählwelten. Der Mäusekonzern sowie der 2006 von ebenjenem geschluckte Animationsfilmriese erweckten zunächst Tiere („Bambi“, „Der König der Löwen“), anschließend Alltagsgegenstände („Cars“, „Toy Story“) und schließlich sogar Emotionen („Alles steht Kopf“) zum Leben. Den unzähligen kreativen Filmschaffenden der Hollywood’schen Trickfilmindustrie sei Dank. Pete Docters „Alles steht Kopf“ ist mittlerweile fünf Jahre alt und zog zwar den gelungenen Kurzfilm „Rileys erstes Date“ nach sich, aber trotz seines Kassenerfolgs (858 Millionen bei einem Produktionsbudget von 175 Millionen US-Dollar) blieb eine Fortsetzung bislang aus. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die Konzeption von „Alles steht Kopf“ über sechs Jahre in Anspruch nahm. Da will ein Sequel wohlüberlegt sein. In seinem neuen Film „Soul“ erzählt Pete Docter nun nicht länger aus der Welt der Emotionen, sondern erschließt seinem Publikum die nicht weniger komplexe Welt der menschlichen Seele. Damit bleibt er sich insofern treu, als dass er die Zuschauer:innen auch diesmal in bislang unerforschtes Erzählterrain entführt, das im weitesten Sinne mit dem menschlichen Körper zu tun hat. Doch auch wenn man Docters Handschrift nicht nur im großen Ganzen, sondern auch in kleinen Randerscheinungen immer wiederentdeckt, stehen beide Filme am Ende doch klar für sich.
Das Aufgreifen vereinzelter, bereits in „Alles steht Kopf“ angewandter Ideen zur Darstellung des nicht Darstellbaren findet sich bereits im Figurendesign von „Soul“ wieder. Protagonist Joe Gardner und die Welt, in der er lebt, entsprechen zwar noch einer weitestgehend wirklichkeitsgetreuen Nachbildung des Menschen und seiner Lebensrealität. Doch wenn es den im Original von Jamie Foxx („Just Mercy“) gesprochenen Jazzmusiker ins sogenannte „Davorseits“ verschlägt – also in jene Welt, in der bislang unbefleckte Seelen auf ihr Erdenleben vorbereitet werden – sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Und das ist auch bitter nötig, denn wie soll man eine solch abstrakte (und vor allem: sonst noch nie plastisch dargestellte) Welt sonst zum Leben zu erwecken? Dabei kommt in vielen Momenten besonders jener Erfinderpart in Pete Docter zum Vorschein, der sich im Vorfeld von „Alles steht Kopf“ darüber den Kopf zerbrochen hat, wie man so etwas wie „Abstraktes Denken“ veranschaulichen soll. Auch in „Soul“ gibt es nun Figuren (oder besser „Dinge“), die eine figürliche Darstellungsform erfahren, die einzig und allein dazu dient, um für den menschlichen Verstand greifbar zu sein. So etwas wie „Inspiration“ wird hier zu einer aus wenigen weißen Linien bestehenden (und somit nicht einmal zweidimensionalen) Figur, ohne dabei das allgemeine Animationskonzept von „Soul“ aus dem Gleichgewicht zu bringen. Trotzdem macht allein eine solche Entscheidung deutlich: Pixars 23. abendfüllender Spielfilm ist nur bedingt für ganz junge Zuschauer geeignet, die diesmal nicht einfach bloß einzelne Gags und Subtexte (noch) nicht verstehen dürften, sondern der Handlung erst dann folgen können, wenn sie ein Gespür für die hier an den Tag gelegte Abstraktion menschlicher Charakterzüge besitzen.
„Pixars 23. abendfüllender Spielfilm ist nur bedingt für ganz junge Zuschauer geeignet, die diesmal nicht einfach bloß einzelne Gags und Subtexte (noch) nicht verstehen dürften, sondern der Handlung erst dann folgen können, wenn sie ein Gespür für die hier an den Tag gelegte Abstraktion menschlicher Charakterzüge besitzen.“
Im Gegensatz zu „Alles steht Kopf“ ist die in „Soul“ dargebotene Welt in der menschlichen Realität nicht präsent. Während sich das Publikum über die permanente An- und Abwesenheit jederzeit unterbewusst im Klaren ist, wird sich vor dem Genuss von „Soul“ wohl kaum einer darüber Gedanken gemacht haben, wie unsere Seele eigentlich zu der geworden ist, die heute in einem schlummert. Gleichwohl ist es einmal mehr einem fantastischen Autorenteam aus Pete Docter, Mike Jones („EvanHand“) und Kemp Powers („One Night in Miami“) zu verdanken, dass die der Geschichte zugrundeliegende Fragestellung eben doch greifbar ist: Wie werden wir zu dem, was wir sind? Was prägt uns, unsere Vorlieben und Abneigungen? Und was genau macht das Leben eigentlich lebenswert? „Soul“ widmet sich im Grunde nicht weniger als der Frage nach dem Sinn des Lebens, die die eigensinnige Seele 22 stellt, wenn sie fragt, was an der irdischen Existenz so besonders sein soll, dass sie dafür ihr entspanntes Leben im Davorseits aufgeben soll. Doch aus dem naheliegenden Streifzug durch die Höhepunkte eines menschlichen Lebens wird alsbald die intensive Betrachtung sämtlicher irdischer Bürden, Probleme, aber eben auch Freuden und Leidenschaften. Ging es in „Alles steht Kopf“ schon nicht darum, die ständige Anwesenheit von Freude als den erstrebenswerten emotionalen Zustand zu proklamieren, ist die Kernaussage von „Soul“ keine simple „Wenn du erst einmal einen Grund findest, für den es sich zu leben lohnt, wirst du dein Leben fortan genießen!“-Message, sondern ein aufrichtiger Appell daran, sämtliche Momente – egal ob positiv oder negativ – um sich herum wahrzunehmen, da diese es sind, die uns und unseren Charakter formen.
Damit steht „Soul“ mehr in der Tradition des arg unterschätzten „Die Monster AG“-Prequels „Die Monster Uni“ als von „Alles steht Kopf“; Pete Docter kehrt die in Familienfilmen mittlerweile Usus gewordene „Glaub an dich und deinen Traum, damit er wahr wird!“-Botschaft um – und gleicht sie an eine weitaus weniger offensive, dafür nicht minder optimistische „Auch ohne einen großen Traum kannst du ein glückliches Leben führen!“-Message an. Ganz so, wie auch Mike in „Die Monster Uni“ lernt, dass man ohne das Erreichen sich selbst auferlegter Ziele am Ende Zufriedenheit erlangen kann. Damit diese allerdings auf fruchtbaren Boden fällt und nicht als Appell an die Lethargie fehlinterpretiert wird, wiederholen wir an dieser Stelle noch einmal unsere Auffassung dessen, dass „Soul“ sich seinem Publikum erst dann vollends erschließt, wenn es bereits ein klein wenig Lebenserfahrung mitbringt. Darüber hinaus halten sich die Zugeständnisse an ein junges Publikum ohnehin in Grenzen. Zwar legt der Mittelteil, in dem es Joe und 22 in vertauschten Körpern – er stromert fortan als Katze durch die Welt, 22 findet sich in Joes Körper wieder – ein enormes Tempo vor und geizt nicht mit einigen gelungenen Slapstickeinlagen. Doch auch hier sind es die kleinen Details, die die Quintessenz von „Soul“ ausmachen. Wie es den Machern etwa gelungen ist, 22s Faszination für ganz alltägliche Dinge wie etwa Pizzageschmack oder zwischenmenschliche Kommunikation aus dem Blickwinkel eines Menschen einzufangen, der die Welt gerade zum aller ersten Mal mit eigenen Augen sieht, ist schier überwältigend.
„Pete Docter kehrt die in Familienfilmen mittlerweile Usus gewordene „Glaub an dich und deinen Traum, damit er wahr wird!“-Botschaft um – und gleicht sie an eine weitaus weniger offensive, dafür nicht minder optimistische „Auch ohne einen großen Traum kannst du ein glückliches Leben führen!“-Message an.“
Die handwerklichen Stärken von „Soul“ liegen diesmal weniger darin, die 3D-animierten Welten noch realistischer aussehen zu lassen. Stattdessen geht es darum, Bilder für etwas zu finden, was sich eigentlich kaum bebildern lässt. Dieser Versuch hätte leicht nach hinten losgehen können. So ganz ohne Vergleichswerte begibt sich Pete Docter auf bislang – im wahrsten Sinne des Wortes – unerforschtes Terrain und ist darauf angewiesen, dass die Zuschauer:innen die von ihm kreierte Welt annehmen. Ob das geschieht, wird die Zeit zeigen. Die Grundlage dafür haben die Macher von „Soul“ mit viel Leidenschaft gelegt.
Fazit: Das neue Pixar-Meisterwerk „Soul“ veranschaulicht mit cleveren Mitteln zuvor nie dargelegte Abläufe in der menschlichen Seele. Wie schon „Alles steht Kopf“ ist auch „Soul“ dabei keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein grenzenlos kreatives „Was wäre wenn…?“-Experiment, das darüber hinaus einmal mehr mit herzerwärmenden Figuren, einem tollen Design und einer klugen Botschaft aufwartet, die sich vom „Glaub an deine Träume!“-Einheitsbrei gängiger Familienunterhaltung abhebt.
„Soul“ ist ab dem 25. Dezember bei Disney+ streambar.