Friedrich Nietzsche als Basler Philosoph
- ️https://uni-freiburg.academia.edu/ProfDrAndreasUrsSommer
Zur Pathographie Friedrich Nietzsches
Gesnerus
eins, das er aus eigener Anschauung kennt, beschränken würde. Er ist gerade rechtzeitig geboren, um wachen Sinnes, aber ohne Vorbelastung den Schock erlebt zu haben, den die Öffnung einer abgetakelten deutschen Wissenschaft gegenüber den USA nach 1945 bedeutet haben muss. Diese Umwälzung uns nahezubringen wäre deshalb so lehrreich, weil eine ganz ähnliche sich gegenwärtig vor unseren Augen abspielt bei der Konfrontation der «östlichen» mit der «westlichen» Wissenschaft. Wie langwierig solche Aufholjagden sein können, dafür liefert das vorliegende Buch, ungewollt, einen Beleg.
„…eine so gespannte Seele wie Nietzsche“. Zu Hugo von Hofmannsthals Nietzsche-Rezeption. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2006, S. 69–93., 2006
Nemo aliquid potest cogitare, quam quod diligit. (Lucius Columenlla) Hillebrand, Bruno (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1. Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873-1963. Tübingen: Niemeyer, 1978, S. 22 70 László V. Szabó Titanismus zu nennen. Er fand beinahe alles bei Nietzsche zu überspannt, zu übertrieben, allzu individualistisch. Insbesondere traf Also sprach Zarathustra, der doch viele Nietzsche-Anhänger enthusiasmierte, am wenigsten seinen Geschmack. Trotz der Hochschätzung von Nietzsches Stil, 2 blieb ihm das Buch, das viele Zeitgenossen faszinierte, eher fremd. Bezeichnend hierfür ist sein Bekenntnis in einem Brief an Rudolf Pannwitz vom 8. August 1917: Meine geringe Zugänglichkeit in manchem wird Sie überraschen. Was werden Sie sagen, wenn Sie hören, daß ich Nietzsches Zarathustra nie lesen konnte, ihn nach flüchtigem Aufblättern weglegte, weil etwas, ich kann kaum sagen was, und doch ich könnte es sagen: das was mir Pastorlich-affectiert schien, das Arrangierte, das Anreden und Abkanzeln des Lesers, das Coquettieren mit der Schwerverständlichkeit, mir so ganz und klar gegen den Geschmack war -sonderbar genug daß ich, sonst leicht bereit, mich zu corrigieren, gegen dieses Buch immer verhärtet geblieben bin. 3 Wenn Hofmannsthal Nietzsches Buch noch 1917 "nach flüchtigem Aufblättern" weggelegt hat, 4 so ist kein Wunder, dass daraus kein Buch wie Pannwitz' Zarathustras andere Versuchung (1929) entstehen konnte. Das "Affektierte und Arrangierte" in Nietzsches Schreiben haben ihn offenbar von der besonderen Bilderwelt des Also sprach Zarathustra ferngehalten; die früheren Zarathustra-2 Den Stilisten Nietzsche rühmt Hofmannsthal etwa, als er sich 1916 beim Lesen der Schriften Rudolf Borchardts "an Nietzsche, nicht den Aphoristiker, sondern an den großen Stilisten der philologischen Schriften" erinnert (Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schöller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: Fischer, 1979 [im Weiteren zitiert mit dem Sigle HGW], Bd. 9, S. 115), oder wenn er 1922 den sechs Jahre früher verstorbenen Karl Neumann (Orientalist, Übersetzer von buddhistischen heiligen Schriften) zum "Typus des eruditus, nicht dem des freien Denkers und glänzenden, subjektiven Stilisten wie Nietzsche" (ebd., 188) zählt. 3 Schuster, Gerhard (Hg.): Hugo von Hofmannsthal -Rudolf Pannwitz: Briefwechsel. Frankfurt a.M.: Fischer, 1993 [im Weiteren zitiert mit dem Sigle HP], S. 22. Der Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Pannwitz erschien erst 1993, weshalb er von manchen Interpreten (z.B. Steffen, Hans: Schopenhauer, Nietzsche und die
1984
Michael Rössner NIETZSCHE UND PIRANDELLO Parallelen und Differenzen zweier Denk-Charaktere Gleich zu Beginn sei vor diesem Thema gewarnt: Der Parallelisierung Pirandellos mit einem Philosophen-mit welchem auch immer-ist die allergrößte Vorsicht entgegenzubringen. Der ewige Versuch der Einordnung unseres Autors in den Karteikasten neuzeitlicher Philosophie ist, neben dem überragenden Theatererfolg der "Sechs Personen", wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür, daß man von Pirandello heute, sechsundvierzig Jahre nach seinem Tod, im deutschen Sprachraum noch immer einen nur sehr summarischen Begriff hat. Die Schockwirkung der formalen Neuerungen Pirandellos (etwa der leeren Probebühne in den "Sechs Personen") ist angesichts der viel weitergehenden Experimente des modernen Theaters verbraucht, und die angeblich von ihm für die Bühne in eine Readers' Digest-Version übertragene Philosophie ist nicht mehr modern, so daß man sie, wenn überhaupt, doch lieber gleich beim Philosophen selbst nachliest. Pirandellos unglückseliger Satz in dem Vorwort zu "Sechs Personen suchen einen Autor": "Io ho la disgrazia di appartenere a ... gli scrittori di natura più propriamente filosofica" 1 hat das Pirandello-Bild als "Übersetzer philosophischer Gedanken in die leichtfaßlichere Version des Dramas" geprägt. 2 Mir scheinen hierbei zwei Grundfehler zu walten: Man vergißt zum ersten den Zusammenhang der Pirandello-Äußerung-sie dient ihm in diesem Vorwort eben zur Rechtfertigung seiner fiktiven "Ablehnung" der "Sechs Personen", die bei ihm vorstellig werden, um ihre Geschichte aufschreiben zu lassen. Der Autor Pirandello jedoch findet zu wenig universalen Gehalt darin, er will nicht nur um des Erzählens willen erzählen und schickt sie fort, so daß sie schließlich bei dem armen Capocomico ihr Glück versuchen müssen, der durch sie einen ganzen Probentag verliert. Es ist jedoch klar, daß dieser Ich-sagende Autor des Vorworts (A2) in hohem Maße Bestandteil der Fiktion des Kunstwerks istund es erscheint daher sehr fraglich, ob man es auch als Selbstdefinition Pirandellos (Al) lesen darf. Der zweite Grund hängt bereits mit dem Effekt des Philosophen-Verdikts Die Nictzschc-Tcxte werden nach folgender Ausgabe zitiert: ed. Giorgio Colli-Mazzino Montinari: Friedrich Nietzsche,
Nietzsche und die Krise der Philosophischen Praxis
nthüllen uns vieles unserer Voreingenommenheit und nichts von der Welt. Nietzsche ist der Denker des Bankrotts der Europäischen Kultur, das heißt, der Kultur des weltfremden Denkens der Athener Philosophen und der lebensfremden Christlichen Moral. In dieser Vorlesung werde ich Nietzsches Art des Denkens schildern. Und ich werde mir vorstellen, welche Konsequenzen das für das, was wir ‘philosophische Praxis’ nennen, hat. Selbstverständlich kann ich das nur schildern im Lichte eines Beispiels der philosophischen Praxis: philosophische Begegnungen mit einer Frau, die Gast ist in meiner Praxis.
Vortrag gehalten in Naumburg an der Konferenz "Ohnmacht des Subjekts -Macht der Persönlichkeit" am 12. 10. 2012.
Darstellung des Einflusses von L. Feuerbachs "Das Wesen des Christentums" auf den jungen Nietzsche
Nietzsche Leib- und Sprachphilosophie
Nietzsche-Studien, 2001
Das argumentativ dichte Buch Christof Kalbs vereinigt eine Reihe von subtilen Studien, deren Hauptanliegen darin besteht, aus unterschiedlichen Blickwinkeln 1 Nietzsches Überlegungen zum Leib und zur Sprache zu verknüpfen, um auf diese Weise über bestehende Aporien in der Nietzscheforschung hinauszuweisen. Erklärtes methodisches Ziel ist, diese Rekonstruktion "systematisch auf Prozesse der Selbstbildung" (S. 9) zuzuschneiden. Der Begriff der ,Selbstbildung' soll dabei als Korrektiv gegenüber in der Tradition der Aufklärung stehenden Rekonstruktionen der Selbstkonstitution fungieren, welche in Kalbs Augen einseitig subjektive Entwicklungsprozesse an die Selbstreflexion des Ichs binden und damit auf ,Selbstbewußtseinsbildung' verkürzen. Vor dem Hintergrund dieses holzschnittartig ausgefallenen Porträts neuzeitlicher Philosophie (S. 15 ff.) wird der Nietzscheforschung attestiert, entlang etablierter Traditionslinien sprachtheoretische und leibphilosophische Untersuchungen bisher überwiegend unabhängig voneinander durchgeführt zu haben: Die an der Sprache orientierten Rekonstruktionen der Philosophie Nietzsches seien primär an deren kognitiven und kommunikativen Funktion ausgerichtet, und in den leibphilosophischen Studien würde der Leib als sprachunabhängige Größe betrachtet (Anm. 3, S. 9 f.). 2 Auf der einen Seite würden so die Bezüge der Sprache zur Leiblichkeit, insbesondere deren Anteil bei der Selbstbildung ausgeblendet, auf der anderen Seite werde übersehen, daß die leibliche Selbstkonstitution sich nur mittels symbolischer Formen realisieren kann.
Vladimir Nabokov, der Nietzsche-Anhänger
Friedrich Nietzsche – Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment, 2006
kannte das Werk von Friedrich Nietzsche ausgesprochen gut. Darüber hinaus war, wie ich zeigen möchte, Nietzsches Philosophie für den Schriftsteller Nabokov von besonderer Relevanz. Inwiefern muss Nabokovs Werk untersucht werden, um Nietzsches Einfluss zu erkennen? Vor allem ist dies deshalb notwendig, weil Nabokovs Werk, trotz vieler stilistischer Schwächen, einzigartig ist. Nabokov ist ein Schriftsteller voller Differenzierungen, besser gesagt, er ist ein Schriftsteller für die Schriftsteller. So ist jedes Wort, jeder Name, jede Ziffer seiner Romane höchstbedeutend fiir einen Schriftsteller wie ihn, dem alle Einzelheiten wichtig sind. Alle Romane Nabokovs, beginnend mit dem erstem, in russischer Sprache verfassten Roman Maschenka bis zu den letzten, in französischer oder englischer Sprache geschriebenen, sind geprägt von einer nietzscheanischen Weltanschauimg: Begriffe wie ,Übermensch', der ,gute Europäer', ,der Geist der Schwere' sowie der ,theoretische Mensch' lassen sich hier finden. Das heißt auch, dass Nabokov mit Nietzsches Einstellung zur zeitgenössischen Welt, also zur Gleichheit, zum Sozialismus, zum Darwinismus und zur Demokratie usw. vertraut gewesen war. Die Hoffhungen, die Nietzsche in den europäischen Menschen gesetzt hatte, sind in Nabokovs Werk ebenfalls wiederzufinden: der Wunsch nach der Auferstehung einer geistigen Aristokratie, der mediterranisation Europas und selbstverständlich nach der Rückkehr des Geistes der Tragödie, der von einem ,bösen' Geist aus Griechenland ausgewiesen wurde. Mein letztes in St. Petersburg veröffentlichtes Buch, Nabokov, der Nietzsche-Anhänger^, beschäftigt sich mit diesem Thema; hier möchte ich einige seiner relevanten Züge vorstellen. Bevor ich dieses Thema näher betrachte und einige Beispiele neime, muss folgende Frage gestellt und beantwortet werden: Wann war es Nabokov möglich, Nietzsches Werk & sich zu entdecken? Seinem Biografen Bryan Boyd zufolge hat Nabokovs Vater seine Inhaftierung genutzt, um das Werk Nietzsches zu studieren: "Nabokovs Vater hat die Zeit der Inhaftierung ausgenutzt um Dostojevski, Nietzsche, Hamsun, Anatole France, usw. zu lesen [ Vielleicht koimte der Vater dem Sohn dieses Interesse vermitteln.