Die verlorene Ehre des Sebastian Edathy
- ️Fri Feb 20 2015
Meinung
Der deutsche Sozialdemokrat bestellte Bilder von nackten Jungen und musste als Abgeordneter zurücktreten. Der Fall zeigt, wie gnadenlos eine wütende Öffentlichkeit werden kann. Am Montag beginnt der Prozess.
Publiziert: 20.02.2015, 23:32
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Er sei ein Mensch, der ein Talent besitze, sich keine Freunde zu machen, schrieb das Wochenmagazin «Stern» über Sebastian Edathy. Foto: Axel Schmidt (DDP Images)
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Diese Geschichte handelt von einem angesehenen Politiker, der sich Bilder von nackten Jungen beschaffte und deswegen zurücktreten musste. Die sogenannte Kinderporno-Affäre schockierte die deutsche Öffentlichkeit. Sebastian Edathys bürgerliche Existenz war vernichtet, aufgebrachte Bürger drohten ihm mit Mord. Gleichzeitig wurde sein Fall zur Staatsaffäre, weil sich zeigte, dass höchste Kreise von Politik, Justiz und Polizei monatelang über die Ermittlungen gegen Edathy im Bilde gewesen waren. Jemand warnte den Abgeordneten, sodass dieser Spuren verwischen und Beweismittel vernichten konnte. Angela Merkels eben gewählte Grosse Koalition geriet in die Krise und opferte einen Minister, um sich reinzuwaschen. Wer welche Geheimnisse wem verriet, untersucht bis heute ein Ausschuss des Bundestags. Als bekannt wurde, dass die von Edathy im Internet bestellten Bilder vermutlich legal waren, hob eine heftige Debatte über Pädophilie, Recht und Moral an. Edathy inszenierte sich als Opfer einer hysterischen Öffentlichkeit – die Grenzen von Gut und Böse verschwammen. Schliesslich trat die Staatsanwaltschaft auf den Plan mit dem Vorwurf, dass dieser nachweislich auch illegale Kinderpornografie besessen habe. Wegen dieser Vorwürfe steht Edathy nun, ein Jahr später, vor Gericht.
Das Prinzip Kettenbrief
Edathys Fall beginnt im Herbst 2013. Am 15. Oktober um 15.45 Uhr wird der höchste Polizist des Landes, der Sozialdemokrat Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamts (BKA), vom Landeskriminalamt Niedersachsen informiert, dass ein bekannter Bundestagsabgeordneter auf einer Liste von Personen figuriere, die bei einem kanadischen Kinderpornoanbieter namens Azov Bilder und Videos bestellt haben. Ungeachtet aller Schutzwände, die in einem Rechtsstaat üblicherweise Justiz und Politik trennen, regiert in dieser Affäre von nun an das Prinzip Kettenbrief. Bereits am folgenden Tag gibt Ziercke die brisante Information an den damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU weiter. Friedrich alarmiert einen Tag später umgehend die Spitze der SPD, mit der sich die Union gerade anschickt, über die neue Koalition zu verhandeln: Parteichef Sigmar Gabriel (heute Vizekanzler), Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier (heute Aussenminister), der Parlamentarische Geschäftsführer Thomas Oppermann (heute Fraktionschef). Das Wissen bleibt freilich nicht auf diesen Kreis beschränkt. Bis der Fall vier Monate später öffentlich wird, erfahren in Niedersachsen, wo der Abgeordnete herkommt und gegen ihn ermittelt wird, und in Berlin, wo er arbeitet, nicht weniger als 57 Beamte davon. Die Menschen, die Edathy selbst einweiht, und die Politiker, die sonst davon erfahren, nicht mitgezählt.
«Bereit für eine schlechte Nachricht?»
Edathy selber, der zu diesem Zeitpunkt noch hofft, dem Kabinett der neuen Regierung anzugehören, schreckt einen Monat später auf. In den deutschen Medien ist von der Anklage gegen Azov die Rede und davon, dass der Anbieter 800 Kunden in Deutschland gehabt habe, gegen die nun ermittelt werde. Tatsächlich haben die Behörden die Listen mit den deutschen Kunden bereits 2011 erhalten und bis zu diesem Zeitpunkt die «schweren Fälle» bereits abgearbeitet. Was dann geschieht, ist unklar, die Versionen unterscheiden sich. Sicher ist, dass Edathy am Abend des 15. November, am Rande eines SPD-Parteitags, mit dem befreundeten Innenpolitiker Michael Hartmann spricht. «Bereit für eine schlechte Nachricht?» – mit diesem einleitenden Satz, so Edathys Erzählung, warnt Hartmann ihn vor den Ermittlungen im Fall Azov. In den folgenden Monaten unterrichtet Hartmann ihn laufend über den aktuellen Stand. Auf Edathys Frage, woher diese Informationen stammten, gibt Hartmann an, sie kämen nicht aus politischen Kreisen, sondern direkt von der Polizei, von BKA-Chef Ziercke persönlich. Ziercke bestreitet dies später heftig. Hartmann wiederum, dessen ausgezeichnete Beziehungen ins BKA und ins LKA Niedersachsen bekannt sind, behauptet, nicht er, sondern Edathy sei mit den Informationen auf ihn zugekommen und habe wissen wollen, was ihm drohe. Er habe sich in der Folge aus purer Menschlichkeit um ihn gekümmert, keinesfalls, um ihn zu schützen.
Angela Merkels neue Regierung wird am 17. Dezember 2013 vereidigt – ohne Edathy, dafür mit Friedrich und den sozialdemokratischen Schwergewichten Gabriel und Steinmeier. Ende Januar wird Edathy klar, dass die Ermittlungen aus seiner Sicht kein gutes Ende nehmen werden. Die Staatsanwaltschaft in Niedersachsen plant Hausdurchsuchungen. Das bei Azov bestellte Konvolut schätzt sie zwar als «legal» ein, die «kriminalistische Erfahrung» lehre aber, dass Kunden mit legalen Bildern von nackten Kindern zugleich meist auch strafbares Material horten würden. Edathy plant seinen Rückzug, verwischt Spuren, löscht und zerstört Daten. Anfang Februar wird ihm auf einer Reise sein Dienstlaptop «gestohlen». Das Gerät ist einer der Hauptgegenstände dieser Geschichte, wie sich später noch zeigt. Am 8. Februar legt Edathy sein Amt nieder, «aus gesundheitlichen Gründen». Zwei Tage danach werden seine Wohnungen und Büros durchsucht, und die Presse erhält Wind vom Verdacht auf Kinderpornografie.
Flucht ans Ende der Welt
Von da an ist die Hölle los. Das Publikum ist entsetzt. Im Internet wird der Politiker als Perverser und «Kinderficker» verbal gelyncht; anonym wird ihm mit Mord gedroht. «Ich werde gerade hingerichtet», simst Edathy an Hartmann. Er verlässt das Land, fährt nach Dänemark, dann nach Südeuropa, endlich flieht er ans sprichwörtliche Ende der Welt, nach Afrika. Er entzieht sich der entfesselten Wut der Öffentlichkeit, aber nicht seiner Verantwortung. Den Behörden hält er sich jederzeit bereit.
Nach Edathys dramatischem Abgang von der Bühne dominieren zwei Fragen: Hat dieser neben legalem auch strafbares Material besessen? Und: Wer hat wann was gewusst und wen gewarnt? Oder, in Straftatbestandsdeutsch: Wer hat sich der «Strafvereitelung» schuldig gemacht, Dienstgeheimnisse verraten, dank deren ein Verdächtiger belastendes Material verschwinden lassen konnte?
Von der Affäre zur Staatsaffäre
Dass Edathy gewarnt worden sein musste, leuchtet jedem ein, der die Geschehnisse aufmerksam beobachtet. Die SPD, der der Skandal am meisten schadet, lüftet den Schleier ein Stück weit und nutzt die Gelegenheit, gleichzeitig einen politischen Gegner ans Messer zu liefern: Innenminister Friedrich habe die Spitze der Partei informiert, teilt sie mit, von ihrer Seite her habe aber niemand Edathy gewarnt. Die CSU schäumt vor Wut und beteuert, Friedrich habe die Polizei-Interna «in allerbester Absicht» weitergegeben, um der Koalition eine Peinlichkeit zu ersparen, für den Fall, dass Edathy von der SPD für ein Regierungsamt in Betracht gezogen werden sollte. Alle Schwüre sind umsonst, Merkel und die SPD-Granden lassen Friedrich fallen. Am 14. Februar muss er zurücktreten.
Am Tag nach Edathys Rücktritt hatte SPD-Chef Gabriel diesem noch eine mitfühlende SMS geschrieben: «Lieber Sebastian, es tut mir sehr Leid für Dich. Wenn Du Hilfe brauchst, melde Dich. Kopf hoch! Es kommen auch wieder bessere Zeiten. Dein Sigmar.» Acht Tage später tritt er den bereits am Boden liegenden Genossen vollends in den Abgrund: «Unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz», dröhnt Gabriel vor der Presse, seien Präsidium und Vorstand «entsetzt und fassungslos». Edathys Verhalten sei «unvereinbar mit der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag» und passe «nicht zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands». Unverzüglich leitet er ein Verfahren auf Ausschluss aus der Partei ein. Fraktionschef Oppermann, der mit dem Finger auf Friedrich gezeigt hatte, gerät wegen widersprüchlicher Aussagen selber unter Beschuss. Sein Stuhl wackelt, am Ende hält die Regierung ihn im Amt. Wer Edathy gewarnt hat, bleibt im Dunkeln.
«Rauschgift nehmen ist nicht so schlimm»
Der Name Hartmann fällt ein halbes Jahr später. Mitte Dezember, einen Monat nachdem die Staatsanwaltschaft bekannt gegeben hat, dass sie im Kinderporno-Fall Anklage erhebt, nennt Edathy im «Stern» Hartmann als seinen Informanten. Er hat nichts mehr zu verlieren und will offensichtlich nicht alleine büssen. Deswegen beschuldigt er nicht nur Hartmann, einen seiner ganz wenigen Vertrauten in der Politik und den einzigen, der sich zuletzt um ihn gekümmert hat, sondern auch Ziercke, Oppermann und die SPD-Spitze. Hartmann ist ein leichtes Ziel: Wenige Monate zuvor musste der Hardliner, der die Legalisierung weicher Drogen bekämpfte, zugeben, dass er selber die verbotene Aufputschdroge Crystal Meth konsumiert hatte. Er verlor das Amt als innenpolitischer Sprecher der SPD, aber nicht seinen Sitz im Bundestag. «Rauschgift nehmen ist nicht so schlimm wie Kinderpornografie», notierte die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung».
Hartmann betont vor dem Untersuchungsausschuss, seine Sorge habe immer dem Menschen Edathy gegolten, nicht dem Verdächtigen in einer Strafsache, und er habe diesem nie Geheimnisse verraten. Doch er verwickelt sich so lange in Widersprüche, bis er keinen anderen Ausweg mehr sieht, als seine Aussage zu verweigern. Damit schützt er vorerst sich selber, aber auch Ziercke, Oppermann und die Spitze seiner Partei, die im Verdacht steht, ihn auf Edathy «angesetzt» zu haben. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg leitet gegen Hartmann Vorermittlungen wegen des Verdachts auf Strafvereitelung ein.
Die Geheimnisse des Laptops
Um die andere zentrale Frage des Falls, ob sich Edathy mit den Bildern nackter Kinder eigentlich strafbar gemacht habe, kümmert sich in der Zwischenzeit die Staatsanwaltschaft Hannover. Die Durchsuchungen bei Edathy enden aus ihrer Sicht ernüchternd: Sein Laptop ist «gestohlen», Computer und Handy verschwunden, Aufzeichnungen zerschnipselt, eine Festplatte gehäckselt. Der Verdächtige, der vom Verdacht seiner Jäger wusste, hat ganze Arbeit geleistet. Dann hilft den Ermittlern ein Zufall, ein datenschutzrechtlicher Fauxpas. Ohne Wissen der Abgeordneten speichert die IT-Abteilung des Bundestags damals die Internetprotokolle aller Dienstcomputer jeweils drei Monate lang. Unverhofft erhalten die Ermittler so die Logdateien für Edathys Laptop von November 2013 bis Februar 2014. Die Auswertung dieser Daten ergibt laut Anklage klare Hinweise auf strafbares Verhalten in zahlreichen Fällen. Alle Fälle beziehen sich auf die wenigen Tage vor dem 15. November, an dem Edathy gewarnt wurde. Gemäss der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wirft die Anklage Edathy das Herunterladen kinderpornografischer Bilder und Videos aus russischen Quellen vor.
Die Vorwürfe drehen sich nicht mehr um legale Bilder von «natürlich» posierenden nackten Kindern, wie Edathy im Azov-Fall behauptet hatte, sondern um mutmasslich illegale Bilder von sexuellen Handlungen mit Kindern. Zudem stellten die Ermittler fest, dass sich Edathy im Netz auffallend vorsichtig bewegte und dabei auch Anonymisierungsdienste nutzte, um unerkannt zu bleiben. Andere Spuren legen nahe, dass er sich nicht erst im November 2013, sondern schon viel früher strafbares Material besorgte. Wie diese Vorwürfe zu bewerten sind, wird das Landgericht Verden ab Montag bestimmen.
Der Fall Edathy ist nicht nur ein Fall für die Justiz und ein politischer Skandal, sondern auch ein menschliches Drama. Wer ist dieser Mensch? Ein Teil des Dramas besteht darin, dass auch ihm vermeintlich nahestehende Personen diese Frage nicht beantworten können. Er sei ein Mensch, wie der «Stern» schreibt, der ein Talent besitze, sich keine Freunde zu machen. Der wichtigste Begleiter des heute 45-Jährigen ist denn auch kein Mensch, sondern ein Hund: Felix, ein struppiger Mischling, den er vor Jahren aus Südfrankreich mitbrachte.
Biografie eines Aussenseiters
Edathys Biografie ist die Geschichte eines Aussenseiters. Auf dem Pausenplatz war der kluge, aber arrogante Sebastian nach Erinnerung von Mitschülern das Kind, das man verprügelte, wenn man nichts Besseres zu tun hatte. Seine Mutter starb, als er 17 war. Sein Vater, Mathew Edathiparambil, ein beliebter Pastor, verliess danach Deutschland und seinen Sohn, um in seine Heimat Indien zurückzukehren. Der Jugendliche war auf sich alleingestellt. Der brillante, dandyhafte junge Mann studierte Soziologie, schrieb sich in der SPD ein und schaffte es bereits mit 29 Jahren in den Bundestag. Da machte er sich als scharfzüngiger Innenpolitiker einen Namen. Vor allem gegen Rassismus trat er mit Verve auf, einmal half er auch mit, die Gesetze gegen Kinderpornografie zu verschärfen.
Zu einer «moralischen Instanz» wurde er als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses, der ab 2012 das Versagen der Behörden angesichts der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufarbeitete: Es war der grösste Geheimdienstskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte, und Edathy hatte das Mandat, ihn aufzuklären. Er wurde dafür parteiübergreifend gelobt. In Berlin herrschte die Erwartung, dass Edathy Ende 2013 in die Regierung vorrücken würde – als Staatssekretär ins Innenministerium oder wenigstens auf die vordersten Bänke des Bundestags, als Stellvertreter Oppermanns zum Beispiel. Die Affäre vernichtete all seine Hoffnungen.
Mischung aus Bewunderung und Misstrauen
Edathy lässt niemanden an sich heran. Kollegen erinnern sich in einer Mischung aus Bewunderung und Misstrauen an den Einzelgänger. Dieser Mensch hat sich verbarrikadiert. Doch wovor sucht er Schutz? Was ist sein Geheimnis? Dass er schwul ist, wissen nicht viele, obwohl er es nicht verbirgt. Dass er der Sohn eines Inders ist, sieht man ihm hingegen an. Mit den Zumutungen des Rassismus setzt er sich öffentlich auseinander. Zwei Ordner hat er gesammelt mit Beschimpfungen und Hassmails, aus denen er bereitwillig vorliest, um seine Verächter zu entblössen. Einmal wird sein Briefkasten von Neonazis gesprengt. Gegen jeden Angriff wehrt er sich. Niemand ahnt, dass der zornige Aufklärer selbst ein Maskenträger mit Doppelleben ist.
Mit der Affäre wird publik, dass er noch einer anderen Minderheit angehört – einer, die gesellschaftlich verfemt ist: denen, die sich an nackten Kindern erregen. Edathy muss grosse Ängste gelitten haben, dass seine Neigung öffentlich werden und seine Karriere beenden würde. Als es passiert, reagiert er mit Unglauben, Depression und trotziger Kälte. Er verweigert jede Reue und beharrt darauf, dass er nichts Strafbares getan habe. «Ich bin kein Freund von Unterwerfungsgesten, ich bin Bürger eines Rechtsstaats», diktiert er dem «Spiegel». Sozial vernichtet, hält er sich für das Opfer einer hysterischen Öffentlichkeit und einer willfährigen Justiz. Über Moral könne man streiten, sagt er, aber Moral sei Privatsache. Seine Freude an legalen Bildern nackter Kinder verteidigt er mit den Worten: «... man muss daran keinen Gefallen finden, aber man darf.» Der Kinderakt habe nicht umsonst in der Kunstgeschichte eine grosse Tradition. Schliesslich: «Ich bin nicht pädophil.»
Kein Wort des Mitgefühls mit den Kindern, die für die Herstellung auch sogenannt harmloser Bilder ausgenutzt und in aller Regel missbraucht werden. Wolfgang Wieland, ein Kollege der Grünen, der mit Edathy im NSU-Ausschuss sass, sagt zur «Zeit»: «Ich empfände so etwas wie Mitleid (mit Edathy, Red.), wenn er sich zu seiner Veranlagung bekennen würde. Wenn er sagen würde, ich habe solche Bilder bestellt, auch, um zu vermeiden, dass ich tatsächlich einem Jungen zu nahe trete. Er hätte auch anderen helfen können, die ähnlich verzweifelt sind. Stattdessen – nur Verleugnung.»
Die herrschende Doppelmoral
Der Fall Edathy ist nicht nur ein Skandal und ein menschliches Drama, sondern auch ein Lehrstück über den Umgang mit Kinderpornografie und Pädophilie, nicht nur in Deutschland. «Weg, weg, weg mit ihm! Rübe ab! Schwanz ab! Raus aus der Partei!», so beschrieb die «Süddeutsche Zeitung» die erste Reaktion der Öffentlichkeit. Es dauerte Wochen, bis der moralische Aufschrei und die Lust an der Exkommunikation wenigstens zeitweilig selbstkritischer Nachdenklichkeit wichen. Aber der Moment kam.
Was tut eigentlich eine sozialdemokratische Partei, fragte der «Spiegel», die ansonsten fest an die Resozialisierung von Straftätern glaubt, wenn sie Mitglieder einzig aufgrund ihrer perversen Neigungen oder Gesinnungen ausschliesst, noch bevor diese sich strafbar gemacht haben? Was tut sie mit den etwa 3200 Pädophilen, die sich laut statistischer Wahrscheinlichkeit in ihren Reihen befinden müssen?
Sexualtherapeuten, die mit Pädophilen arbeiten, erhielten quer durch die Republik das aufklärende Wort und legten bewegend dar, wie hilflos sich diese ihren angeborenen Neigungen oft ausgeliefert fühlten. Wie viel Mühe es sie täglich kosten würde, zu vermeiden, dass sie sich irgendwann mit Bildern oder Handlungen strafbar machten. In den allermeisten Fällen gelinge das auch, allerdings werde diese Leistung niemals gewürdigt. Umgekehrt seien die meisten verurteilten Kinderschänder keine Pädophilen. Der belgische Kindermörder Marc Dutroux beispielsweise war ein gefühlloses Scheusal, aber er war nicht pädophil.
Harmlose Bilder gibt es nicht
Experten des Kinderhandels wiederum erläuterten, dass es Nacktbilder von Kindern ohne reale Täter und Opfer nicht zu kaufen gebe. Die kindlichen Opfer, meist Waisenkinder aus den ärmsten Gegenden der Welt, würden nach dem «harmlosen» Posieren in aller Regel auch noch für harte Pornografie missbraucht. Unschuldig seien also auch die angeblich harmlosen Bilder nie. Innert Monaten erliess die deutsche Regierung deswegen ein Gesetz, das alle für den Verkauf hergestellten Nacktbilder von Kindern grundsätzlich unter Strafe stellt. Die Bilder, die Edathy bei Azov zwischen 2005 und 2010 bestellt hatte, wären heute in Deutschland nicht mehr legal.
Kritiker geisselten aber auch die herrschende Doppelmoral im Umgang mit sexuell aufgeladenen Bildern von Kindern und Jugendlichen. Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, schrieb in der «Zeit» angewidert: «Der Schutz der Kinder (...) liegt uns am Herzen wie sonst nichts auf der Welt. Mögen sie ihr Dasein fristen auf den Müllhalden unseres Reichtums, so wollen wir doch zumindest ihre Seelen retten und ihre Menschenwürde! Jugendliche, kindliche Körper, halb bekleidet oder nackt, in sexualisierten Posen! Ekelhaft! Zur Beruhigung greifen wir zu ‹Vogue›, zu ‹Elle› und zu ‹Harper's Bazaar›. Da leben unsere magersüchtigen kleinen Prinzessinnen; im Junkie-Look gestylte minderjährige Luder, rund um die Welt gecastet und mit zwanzig vergessen.»
Die brutale Vorverurteilung Edathys, als strafbares Handeln noch gar nicht belegt war, trieb die Rechtsgelehrten auf die Barrikaden. Die Unschuldsvermutung werde zur Vermutung der Schuld, wenn Ermittler legale Bilder von nackten Kindern «nach kriminalistischer Erfahrung» immer auch als Anfangsverdacht dafür werten würden, dass der Beschuldigte «sicher» auch noch härteres Material besitze. Heftig kritisiert wurde auch die zuständige Staatsanwaltschaft, die erst langsam bis gar nicht ermittelte, danach aber mit den Erkenntnissen derart sorglos umging, dass diese über die Medien regelmässig öffentlich wurden und die Vorverurteilung so noch verstärkten. Bundesrichter Fischer mahnte eindringlich: «Man wagt es kaum zu sagen: Vielleicht sollte sich der Rechtsstaat – jedenfalls vorläufig, bis zum Beweis des Gegenteils – bei dem Beschuldigten Sebastian Edathy einfach entschuldigen. (...) Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden. (...) Vielleicht sollten aufgeklärte Bürger ernsthaft darüber nachdenken, wo sie die Grenze ziehen möchten zwischen Gut und Böse, zwischen dem Innen und Aussen von Gedanken und Fantasien, zwischen legalem und illegalem Verhalten.»
Womöglich nur Geldstrafe
Der Fall Edathy hat Bedeutung weit über diesen Abgeordneten hinaus, weil er zeigt, wie gnadenlos und rachsüchtig eine wütende Öffentlichkeit werden kann, wenn sie einen aus ihren Reihen verstossen will. Wie ein in vielem vorbildlicher Rechtsstaat beschädigt wird, wenn die Trennung von Justiz und Politik der Partei- oder Koalitionsräson geopfert wird. Wie wenig die Unschuldsvermutung, wie wenig das Prinzip der Verhältnismässigkeit noch gelten, wenn es um die Randzonen gesellschaftlichen Verhaltens geht. Aber auch, wie unentschuldbar die Selbstgerechtigkeit eines Gefallenen wirkt, der nicht glaubt, sein Vergehen verständlich machen zu können, und deswegen ganz darauf verzichtet.
Edathy weiss, dass er, schuldig oder nicht, sein öffentliches Leben in Deutschland verwirkt hat. «Mir fehlt gegenwärtig die Fantasie, zu sagen, was ich wann aus meinem Leben noch machen kann», sagte er dem «Spiegel» vor einem Jahr.
Vom Landgericht, das ab Montag über ihn urteilt, droht ihm offenbar nicht viel. Es sehe «kein besonderes Ausmass von Rechtsverletzungen», teilte es vorab schon mit. Falls Edathy verurteilt wird, ist es möglich, dass er mit einer Geldstrafe davonkommt.
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