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Kanadische Malerei: Landschaften aus Energie

  • ️Sun Feb 07 2021
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Stand: 07.02.2021, 16:04 Uhr

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Lawren S. Harris, „Mt. Lefroy“, 1930.

Lawren S. Harris, „Mt. Lefroy“, 1930. © Family of Lawren S. Harris

Die Frankfurter Schirn zeigt den „Magnetic North“, Malerei von großer Anziehungskraft der kanadischen Group of Seven und ihres Umfelds aus den Jahren 1910 bis 1940.

Jetzt, da die Sehnsucht so groß ist und man so vieles vermisst, setzt diese Ausstellung noch einen drauf, denn Sehnsucht ist ihr Thema. Sie handelt vom Wunsch nach Wildnis und Weite. Vom Verlangen nach Überwältigung und nach Kunst. Die Bilder, die derzeit in der Schirn präsentiert werden und vorläufig nur digital betrachtet werden können, sind von einer magnetischen Anziehungskraft. „Magnetic North“ lautet denn auch der Titel der Schau, die sich mit dem Mythos der kanadischen Landschaft in der Malerei zwischen 1910 und 1940 auseinandersetzt. Kern der Präsentation sind die Werke der Group of Seven, einer Künstlergruppe aus Toronto, deren Mitglieder auf der Suche nach Authentizität und einer spezifisch kanadischen Ausdrucksweise aus den Städten in die Wälder Ontarios gezogen sind. Was sie dort fanden, waren wohl vor allem Inspirationen: dicht verzweigtes Astwerk, grell glühendes Herbstlaub, mystisch anmutende Baumsilhouetten, schäumendes Wasser. So entstanden oftmals umwerfend schöne, bisweilen auch bizarre Gemälde, die jenes Bild, das wir noch heute von der kanadischen Landschaft haben, massiv geprägt haben. Doch das, was die Bilder in ihrer Gesamtheit zeigen, diese meist menschenleere, geheimnisvolle Wildnis hatte mit der Realität nur partielle Gemeinsamkeiten.

Lawren Harris, J. E. H. MacDonald, Arthur Lismer, F. H. Varley, Frank Carmichael, A. Y. Jackson und Frank Johnstons malten hoheitsvolle Gipfel, reißende Flüsse, spiegelglatte Seen und unwegsame Waldlandschaften, um ihre Heimat zu feiern und einen Beitrag dafür zu leisten, dass Kanada nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Identität entwickelte. „Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte sich die Gruppe bereits einige Jahre früher gebildet“, erinnerte sich A. Y. Jackson, „und Thomson wäre dabei gewesen.“

Die Rede ist von Tom Thomson, einem Kollegen, der von Frühjahr bis Herbst als Guide und Fire Ranger im Algonquin Park in Ontario arbeitete, einer legendären Landschaft voller Laub- und Nadelwälder, Sümpfe, Felswände und unzähliger Seen. Das flirrende Dickicht, die magisch sprühenden Nordlichter oder die glühenden Sonnenuntergänge, die Thomson um 1915 oft pastos mit breiten Pinselstrichen direkt vor Ort malte, strotzen nur so vor Energie und sind in ihrem Abstraktionsgrad verwirrend modern. Thomson, der nie zur Gruppe gehörte, weil er bereits 1917 in einem See ertrank, war für seine Maler-Freunde ein entscheidender Einfluss. Sein Motiv des Baumes, der standhaft den Widrigkeiten des Wetters trotzt, wurde gewissermaßen zur Signatur der Group-Mitglieder, symbolisierte er doch den kernigen, standhaften kanadischen Siedler.

Einflüsse kamen auch von den Schriften der US-amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Letzterer hatte im Sommer 1845 beschlossen, als Einsiedler zu leben und verbrachte zwei Jahre in einer selbst gebauten Blockhütte im Wald. Die Künstler folgten seinem Beispiel – und sei es nur für ein paar Tage. Sie zelteten, fischten, malten – und fühlten sich, als eroberten sie unberührtes Terrain.

Was so entstand, war keine einheitliche Bildsprache, jeder Künstler fand seinen eigenen Stil, um der prächtigen Landschaft zu huldigen. A. Y. Jackson und Lawren Harris fuhren bevorzugt ans Nordufer des Lake Superior an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Sie hielten verwunschene Baumgruppen, unterschiedliche Vegetationsstrukturen und ein unwegsames Gelände fest, das bisweilen geradezu surreal anmutet, was auch an der übersteigerten Farbpalette liegt.

Zumindest Harris machte durch eine mit den Jahren stetig zunehmende Abstraktion deutlich, dass es ihm eher um eine spirituelle Symbolik ging, als darum, topografische Realitäten ins Bild zu setzen. Arthur Lismer, J. E. H. MacDonald und F. H. Varley zeigten häufig sich selbst als winzige Gestalten vor Felsen oder rauschendem Wasser oder sie präsentierten ihre Kanus an einsamen Ufern, um zu demonstrieren, was für kühne, zähe Burschen sie waren.

An der Legende von der unberührten Wildnis rührte jahrzehntelang kaum jemand. Dass Kanada auf einer langen Kolonialgeschichte gründet, dass hier Indigene Völker lebten, lange bevor die ersten Siedler aus Europa kamen, blendeten die Maler der Group of Seven in ihren Bildern genauso aus wie die Tatsache, dass diese Landschaft längst touristisch und industriell erschlossen war.

Einzig in den Werken von Emily Carr, die zum Umfeld der Gruppe gehörte, tauchen neben prächtigen Waldszenen auch Indigene Dörfer und Schnitzskulpturen auf, wenngleich auch Emily Carrs Bilder heute als symptomatisch für koloniales Denken gelten. „Sie trugen“, so Georgiana Uhlyarik von der Art Gallery of Ontario im Katalog, „zum Anpassungsdruck auf Gemeinschaften bei, deren Lebensweise und Zusammenhalt durch restriktive kanadische Gesetze wie den Indian Act zerstört werden sollten.“ Der Indian Act regelt die rechtliche Stellung der First Nations in Kanada und verbot damals unter anderem kulturelle Praktiken wie das Tragen traditioneller Kleidung oder das Potlatch-Ritual, das den Vorfahren huldigt.

Längst werden die Gemälde der Group nicht nur als Nationalheiligtümer gefeiert, sondern durchaus kritisch gesehen.

Kuratorin Martina Weinhart hat den Fokus auf die kanadische Kunst geschickt erweitert, indem sie die Ausstellung mit dokumentarischem Material und Filmen ergänzt, die eine andere Seite Kanadas zeigen. Darunter der 2013 erschienene Dokumentarfilm „How A People Live“ der von den Anishinaabe abstammenden Filmemacherin Lisa Jackson. Der berührende Film handelt von der Zwangsumsiedlung Indigener Völker, die 1964 ihr Territorium an den Smith und Seymour Inlets sowie den benachbarten Inseln an der Küste British Columbias verlassen und in Reservate übersiedeln mussten.

Bei dem rasant montierten Kurzfilm „Mobilize“ von Caroline Monnet, einer in Montreal lebende Künstlerin mit einer Algonquin-Mutter, handelt es sich um Archivmaterial, in dem das spezielle Fachwissen ihrer Vorfahren wie das Herstellen von Schneeschuhen, das Bauen von Kanus oder sogar Wolkenkratzern gewürdigt wird.

Man kann – das lehrt diese wunderbare Ausstellung – die Werke der Group of Seven und ihres Umfelds heute nicht unbedarft als historische Realität betrachten. Ihre Energie, Virtuosität und Farbenpracht, die Einzigartigkeit ihrer Bildsprache darf man dennoch bewundern.

Schirn Kunsthalle Frankfurt . Das Onlineprogramm zur Ausstellung finden Sie unter www.schirn.de

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