Ein wahres Schandmaul
- ️Sat Jan 19 2019
Stand: 19.01.2019, 00:32 Uhr
Christian Reuter erfand Schelmuffsky und kam der Welt vor 300 Jahren abhanden. Was der studierte Bauernsohn in Leipzig veranstaltet, macht ihn unsterblich und zum literarischen Klassiker.
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Es ist nicht gut, wenn ein Bauernsohn von der Scholle zur Universität wechselt, wenn er sich zum Dichter berufen fühlt und die Heimaterde hinter sich lässt. Unterm Kuheuter und beim Streu soll er bleiben, der standesvergessene Hundsfott! Da lassen die Götter nicht mit sich spaßen und den Frevler ohne viel Federlesens vom Erdboden verschwinden. – So geschehen nahe der Saale und unweit des Petersberges, vor 300 Jahren.
Kütten heißt das Dorf, Reuter die durchaus wohlhabende Bauernfamilie. Christian, der achte Sohn des Landmannes Stephan, wird am 9. Oktober 1665 getauft und in eine Welt entlassen, die noch den Brandgeruch des Dreißigjährigen Krieges in der Nase und aufgeklärte Zeiten vor sich hat. Statt Ställe auszumisten, darf Christian zur Schule gehen. Im Merseburger Domgymnasium schreibt er verheißungsvolle Aufsätze. Landwirt Reuter lässt den Jüngling also nach Leipzig ziehen, wo er im Wintersemester 1688 das Studium der Theologie in Angriff nimmt. Was Christian Reuter in Leipzig veranstaltet, macht ihn unsterblich und adelt ihn als literarischen Klassiker. Zugleich ist es für den Bauernsohn der Schritt ins Verhängnis.
Vier Lustspiele in fünf Jahren
Im Zeitraum von fünf Jahren entstehen vier Lustspiele und ein Roman. Alle anonym oder unter falschen Autorennamen. Bereits das erste Stück „Die ehrliche Frau zu Plißine“, 1695 in einer Auflage von 600 Exemplaren erschienen, tritt eine Lawine von Schmähungen, Klageschriften und Anhörungen los, die vier Jahre später zur Ausweisung Reuters und lebenslangem Ehrverlust führen.
Wie in den folgenden Werken nimmt der 30-Jährige eine ihm verhasste, ortsbekannte Familie ins Visier. Müller heißen die Unglücklichen, bewirtschaften den „Rothen Löwen“ und haben, fatalerweise, den Langzeitstudenten Christian Reuter und Johannes Grel Logis gegeben. Während sich das Bürgertum an Wirtschaftswachstum und spätbarocker Frankophilie ergötzt, brüten die Studenten in Auerbachs Keller, schwadronieren über vergangene Landsknechtherrlichkeiten. Eine Welt, die nach Knasterrauch und reichlich Klebebier riecht.
Als die Studenten aus dem „Löwen“ gewiesen werden, jault das Dichterherz auf. Wirtin Rosine Müller und deren Kinder werden umgehend zu Komödienfiguren. Auf Klage der Wirtsleute ist der Autor schnell ermittelt, er muss sich vor der Universitätsbehörde rechtfertigen, gibt sich reumütig. Doch Reuter legt nach. Müller prozessiert. Reuter geht in den Studentenkarzer – und legt nach. Müller prozessiert. Reuter wandert für acht Wochen in den berüchtigten Bauernkarzer, wo er „fast crepiret“. Wochen, in denen Studentenunruhen toben, sich der Hass auf den Landesherrn August der Starke Bahn bricht. Danach ist Reuter jede Hoffnung auf eine bürgerliche Laufbahn genommen – mit 35 Jahren verlässt er Leipzig und begibt sich nach Dresden. 1703 taucht er in Berlin auf.
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Überlebt hat der „Schelmuffsky“, diese „curiose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Land“. Natürlich antwortet der Autor in diesem Meisterwerk auf die damals beliebten Reiseschilderungen und die Dünkelhaftigkeiten der Epoche, natürlich ist es ein Sittengemälde und gesellschaftskritisch. Revolutionär ist jedoch die Handhabung der Sprache, ein ungeheuerlicher Tonfall, ein Schlag ins Gesicht jedes literarischen Zierbengels.
In der Romantik wiederentdeckt
Kein Wunder, dass die Romantiker, die den „Schelmuffsky“ wieder ausgruben, zum „Laut lesen!“ aufforderten. Einerlei, ob der „allezeit reisefertigster“ Held von Holland oder Indien berichtet – wichtig sind immer und überall die Reize des Weibes und der geistigen Getränke. „Ich bin, der Tebel hol mer, ein rechter Bärenhäuter“, heißt es schon in der Einleitung. Jene Vermutung, dass der Reisende nur bis zur nächsten Dorfkneipe gekommen ist, hat viel für sich. Die Welt entsteht im Kopf, und ein guter Trunk ist dabei nicht das schlechteste Treibmittel.
Lichtenberg war im Besitz einer der wenigen überlieferten „Schelmuffsky“-Ausgaben, Gottfried August Bürger nutzte die große Aufschneiderei als Vorlage für seine „Münchhausen“-Geschichten. Vollends dem „Bärenhäuter“-Fieber verfielen jedoch die Romantiker des Brentano-Kreises. Auf Anregung der Brüder Grimm wurde 1817 der erste vollständige Neudruck des Werkes in die Tat umgesetzt. „Wer dies Buch liest, ohne auf irgendeine Art hingerissen zu werden, ist ein Philister und kömmt sicher selbst darin vor“, schrieb Brentano.
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1884 kann der Leipziger Germanist Friedrich Zarncke den Autor Christian Reuter dingfest machen, kann Geburtsjahr und -ort ermitteln, rekonstruiert Teile der Biographie. Ihm folgt Ferdinand Josef Schneider, der im Oktober 1937 den Reuter-Gedenkstein in Kütten enthüllt. Verborgen bleibt trotz aller Bemühungen aber das Lebensende des Schelmuffsky-Schöpfers. Nach 1703 tritt er in Berlin als Hof- und Bettelpoet in Erscheinung, schlägt sich im Umkreis des Preußenkönigs mehr schlecht als recht mit Lobhudeleien durch. Kein Vergleich zu jenem Christian, der wie ein Berserker durch Leipzig tobte und mit einem wahren Schandmaul gesegnet war. Am 11. August 1712 lässt Christian Reuter in der Berliner Schlossgemeinde ein Söhnlein taufen. Diesem Lebenszeugnis folgt keines mehr. Der Schelmuffsky-Dichter verschwindet. In Kütten wird das Andenken vom Heimatverein gepflegt. Nahe der Taufkirche steht der Reuter-Stein auf dem „Christian-Reuter-Platz“. Eine Schelmuffsky-Straße gibt es ebenso wie den Kräuterschnaps „Schelmuffskys Reise-Elixier“.
Die Mehrzahl der heutigen Leser stammt aus dem Studentenmilieu, seine respektlosen Schriften sind germanistische Pflichtlektüre. Vielleicht war es doch keine allzu schlechte Idee, dass der Küttener Christian damals Hof und Stall hinter sich gelassen hat. In der Stadt hat er Sätze hingekrakelt, die wir uns noch heute hinter die Ohren schreiben können.
Christian Reuter: Schelmuffskys wahrhaftige, kuriöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande. Reclam, Leipzig, 5,80 Euro.