Die Abenteuer des Cowboys Jim White | NZZ
- ️Andreas Kilcher
- ️Thu Dec 29 2011
Max Frisch hat James Larkin White, als den sich Stiller in dem gleichnamigen Roman ausgibt, nicht frei erfunden. Die Figur geht auf einen texanischen Cowboy zurück, der 1901 in New Mexico eine Höhle entdeckt hatte. Frisch hatte die Höhle 1951 besucht und war mit der Geschichte ihres Entdeckers vertraut, die er in seinen Roman mit einflocht.
James Larkin White (1882 – 1946). (Bild: PD)
«My name is White», «<Mein Name ist White!> sage ich», so die trotzige Behauptung des Protagonisten in Max Frischs Roman «Stiller» (1954), der mit dem berühmten Ausruf «Ich bin nicht Stiller!» anhebt. Obwohl er einen amerikanischen Reisepass auf den Namen James Larkin White vorlegt, wird er verhaftet, weil ein Mitreisender behauptet, ihn nach «einem Bild in seiner Illustrierten» als den seit 1946 verschollenen Schweizer Bildhauer Anatol Ludwig Stiller erkannt zu haben. Liegt hier eine fatale Verwechslung vor? Ist der Amerikaner White gar das Opfer einer Verleumdung?
Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Oder aber ist der Schweizer Stiller ein massiver Fall von Selbstverleugnung, einer, der verzweifelt nicht sich selbst sein will, wie es Kierkegaard ausdrücken würde? Frischs Roman zielt auf Letzteres: darauf, dass einer in eine andere Haut schlüpfen will, und so gilt das Hauptaugenmerk dem Schweizer Künstler. Der Whisky trinkende Amerikaner dagegen bleibt als eine wenig glaubwürdige Erfindung Stillers eher blass, sosehr ihn Stiller mit geradezu theatralischem Trotz als seine wahre Identität gegen die Zuschreibung als Schweizer Bildhauer behauptet. Dementsprechend wurde «White» bisher meist symbolisch als tabula rasa eines Neuanfangs verstanden, als weisser Papiergrund für Erfindungen und Verwandlungen.
Wer war James Larkin White?
Diese Interpretation von Frischs Mr. White übersieht jedoch Spuren innerhalb wie ausserhalb des Romans, die auf Handfesteres, nämlich eine populäre amerikanische Vorlage, hindeuten: Im Roman selber wird sie als «eine Publikation, die heutzutage den Touristen verkauft wird», vorgestellt. Daraus wird folgende Charakterisierung zitiert: «James Larkin (Jim) White, a young cowboy who made his first entry trip in 1901.» Das klingt wie eine Legende zu einer Fotografie, was wiederum bedeutete, dass White keineswegs Stillers «wahre» Identität, vielmehr nur eine neue Zuschreibung, ein weiteres Bild darstellt. Indem dieses tatsächlich von ausserhalb des Romans übernommen wurde, verweist es nicht auf den wahren, vielmehr auf den wirklichen James Larkin White (1882–1946): einen Cowboy aus Texas, der im Jahr 1901 die Höhlen von Carlsbad in New Mexico entdeckt hatte und in den folgenden Jahrzehnten eine Bekanntheit der touristischen Populärkultur wurde.
Tatsächlich wurden seit etwa 1930 zahlreiche Postkarten und Touristenbroschüren zum historischen White und zu den Carlsbader Höhlen vertrieben. Mehr noch: Er selbst trat als Autor einer autobiografischen Schrift mit dem Titel «Jim White's Own Story» auf, die, ausgestattet mit allen Ingredienzien einer Abenteuergeschichte wie Cowboy-Einsamkeit und Schatzsuche, die Entdeckung ebenjener Höhlen enthält – und massenhaft an Touristen verkauft wurde. Frisch selbst zählte im Oktober 1951 während seiner Zeit als Rockefeller-Stipendiat in den USA zu diesen Touristen. Im Frisch-Archiv an der ETH Zürich findet sich in einem Notizheft ein mehrseitiger Eintrag zum Besuch in der Carlsbad Caverne.
Ein Ghostwriter
Der historische White nun verkaufte die Autobiografie, versehen mit seiner Originalunterschrift, von 1937 an auch eigenhändig in der inzwischen für den Massentourismus erschlossenen Höhle. Was höchste Authentizität versprach, war jedoch in Tat und Wahrheit nicht von ihm selbst geschrieben, also nicht wirklich seine «own story». Vielmehr war sie das Produkt eines Ghostwriters: des Journalisten Frank Ernest Nicholson, der 1929 im Auftrag der «New York Times» seinerseits eine «Expedition» nach Carlsbad unternommen und dabei die Geschichte des wohl erzähl-, kaum aber schreibgewandten Cowboys in narrative Form gebracht hatte. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Nicholson in seinem Expeditionsbericht 1940 wiederum schrieb: «Personally, I think Jim White's story, true or untrue, is one of the most intriguing bits of romantic adventure I ever heard.»
Diese verlorene Authentizität und Originalität des Erzählens im Moment ihrer Behauptung ist für Frischs Stiller ebenso bedeutsam wie die Abenteuergeschichte selbst, die keineswegs versteckt lesbar wird, folgt man einmal dieser Spur. Tatsächlich finden sich in der Höhlenpassage, einer Schlüsselstelle des Romans, die auch die Verwandlung von Stiller zu White schildert, zahlreiche Übernahmen aus «Jim White's Own Story». Der inhaftierte Stiller erzählt die touristische Cowboy-Geschichte dem gutgläubigen Wächter Knobel als seine eigene («Cowboy waren Sie auch einmal?», so der Wächter, «Tonnerwetter»): wie er bei einem einsamen Ritt durch Fledermausschwärme auf jene Höhle gestossen war, sich unter Gefahren in die erhabene Unterwelt begeben, einen Kampf mit einem Doppelgänger siegreich ausgefochten hatte und verwandelt aus der Höhle aufstieg.
Die meisten Elemente von Stillers Höhlengeschichte entstammen «Jim White's Own Story»: Fledermäuse, Höhlenfund, Schatzphantasie, Beschreibung der Erhabenheit und Unheimlichkeit der Höhle, der zweite Einstieg mit einem «mexican kid», die dramatischen Zwischenfälle und Todesmomente und nicht zuletzt auch das Misstrauen der «cowboys at camp», die ihn als «cow-punchin' Baron Munchausen» verlachten; daher auch sein stetes Bemühen: «I tried my best to make the gang at the ranch and camp believe the story.» Tatsächlich motivierte das Höhlenerlebnis nicht nur Stiller, sondern auch Frisch selbst zum Erzählen, wie er im Notizbuch zu seinem Höhlenbesuch bezeugt: «Märchen: als Mittel die Caverne zu beschreiben – zu beleben, beseelen.» Stiller/White ist damit Produkt und zugleich Produzent des Fabulierens; er ist die erzählerische Ausgeburt eines gewandten Storytellers und Lügenbarons.
Schon dies zeigt, dass für Stiller nicht nur die äussere Abenteuergeschichte, sondern auch die innere Geschichte Whites von Bedeutung ist. Tatsächlich braucht man nicht erst bei Frisch eine jungianische Metaphorisierung des Höhlenerlebnisses als Reise in die Tiefen des Unbewussten anzunehmen, wo die Verwandlung zu einem neuen Menschen erfolgte. Schon «Jim White's Own Story» hat Züge einer Reise ins Innere, und mit ihren Grenzerlebnissen zielt schon diese nicht etwa auf Bestätigung, sondern vielmehr auf Verunsicherung, ja Auflösung von Identität. Beispielhaft sind die Echophänomene des auf sich selbst geworfenen Cowboys im Erdinnern. Was White im Selbstgespräch befindet: «Those echoes alone were enough to drive a man mad», hallt gewissermassen als literarisches Echo im «Stiller» wider: «als wäre es nicht meine eigene Stimme», hört sich auch dort der höhlenforschende Cowboy. Diese unheimliche Verdoppelung betrifft auch den «Allerweltsnamen» Jim, der in der amerikanischen Vorlage im Selbstzuruf «Here, Jim! I said to myself» durch die Höhlen hallt. Bei Frisch trifft der Erzähler auf einen gleichnamigen Doppelgänger: Hier kämpfen Jim und Jim – Stiller blieb zurück, hervor stieg White.
Stillers literarische Alchemie
Dieses Widerhallen der Cowboystory im Roman ist für seine Bauform insgesamt bezeichnend: An die Stelle von Erfindung und Produktion tritt Umschmelzung und «Reproduktion», ein Schlüsselbegriff des Romans. Stiller ist demnach zugleich Erzeugnis und Erzeuger von Wiedererzählung. Er wird gewissermassen zu einer Papiergestalt, deren flüchtige Identität aus Texten gewoben ist und an Texten webt. Die Unzuverlässigkeit und Widersprüchlichkeit, ja Widerständigkeit solcher literarischer Selbstbehauptung bestätigt noch Stillers Antwort auf die Frage des gutgläubigen Knobel im Anschluss an seine Erzählung vom Cowboy White (die auch die Frage des naiven Lesers ist): «Sind Sie denn Jim White?» Die Antwort: «Nein, [. . .], das gerade nicht! Aber was ich selber erlebt habe, sehen Sie, das war genau das gleiche – genau.» Das scheinbar Individuelle der Erfahrung erweist sich als Entlehnung aus vorangehenden Texten, seien es populäre Massentexte wie Illustrierte oder Touristenbroschüren oder aber literarische Texte von Kafka, Thomas Mann, Hemingway, Tolstoi usw. – Namen, die im Roman nicht zufällig auch Stillers Bibliothek zieren, die Schmiedestätte literarischer Umschmelzung par excellence.
Andreas Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Zurzeit weilt er als Gastprofessor an der Princeton University. In diesem Jahr ist bei Suhrkamp seine Frisch-Biografie erschienen.