Ist das noch Landwirtschaft – oder schon Industrie? | NZZ
- ️Angelika Hardegger (Text) und Christoph Ruckstuhl (Bilder)
- ️Sat Sep 15 2018
In der Schweiz wächst das Unbehagen gegenüber der industriellen Produktion von Fleisch und Gemüse. Doch wie industriell ist unsere Landwirtschaft überhaupt? Ein Augenschein in drei Betrieben.
Als ob es Tennisbälle wären, kippt Markus Bernhardsgrütter die Küken in die vorbereitete Masthalle. Ihr gelber Federflaum schützt sie vor Verletzungen beim Aufprall. Bernhardsgrütter leert eine Kiste, zwei Kisten, vierzig Kisten. Sein Vater rollt mit einem Stapel Nachschub heran. Schweiss tropft ihm von der Stirn, es ist heiss in der Halle. Die Küken sind erst einen Tag alt. Sie brauchen es warm.
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Wie ein gelber Teppich breiten sich die Tiere im Stall aus. Draussen lädt der Lieferant noch immer neue Kisten aus dem Laster. 11 200 Küken stallen Bernhardsgrütters an diesem Tag ein. Sie werden 30 Tage bleiben, dann wird ein anderer Lastwagen sie abholen und zum Schlachthof des Fleischverarbeiters Bell bringen.
«Ultrakurzmast» heisst das bei Bell.
«Eine gesetzeskonforme, aber tierunfreundliche Massentierhaltung», sagt Heinz Lienhard vom Schweizer Tierschutz STS.
Markus Bernhardsgrütter sagt: «Die Tiere haben es gut bei uns.»
In der Pouletmasthalle von Markus Bernhardsgrütter werden 11 200 Küken eingestallt.
Die Pouletmast in der Schweiz boomt. Mit Poulets verdienen Bauern deutlich mehr Geld als mit Milch. Aber mit Landwirtschaft, sagen viele Experten, habe diese Mast nichts mehr zu tun. Poulethallen sind für sie der Inbegriff einer industriellen Landwirtschaft, die zunehmend von Agrarkonzernen beherrscht wird. Diese Entwicklung löst auch in der Bevölkerung Unbehagen aus. Das zeigt die anfänglich grosse Sympathie für die beiden Agrarinitiativen, die am 23. September zur Abstimmung kommen. Aber wie industriell ist die Schweizer Landwirtschaft überhaupt? Wir haben auf drei Betrieben nach Antworten gesucht.
Angefangen bei Markus Bernhardsgrütter. Der Pouletproduzent und Gemüsebauer bewirtschaftet einen traditionellen Familienbetrieb in Gossau im Kanton St. Gallen. Bernhardsgrütter ist ein bodenständiger, bäuerlicher Typ, mit gebräunter Haut und markanter Nase. Er hat einen Riecher für gute Ideen. Zusammen mit einem Studienkollegen von der Hochschule für Agrarwirtschaft hat er «Saisonbox, die Gemüsekiste direkt vom Buur» lanciert. Jede Woche beliefert Bernhardsgrütter seine Kunden in der Ostschweiz mit frischem, saisonalem Gemüse und Früchten – alles direkt ab Hof. Über ein Franchising-System verkaufen er und sein Partner das Konzept an andere Bauern in der Schweiz.
Dem 30-Jährigen wäre es lieber gewesen, er hätte den Gemüsebau zeigen können. Aber er sagt auch: «Wir haben in der Pouletmast nichts zu verstecken. Wir halten uns strikt an das Gesetz.»
Bernhardsgrütter produziert nach dem BTS-Standard des Bundes. Das Kürzel steht für «besonders tierfreundliche Stallhaltung», aber nicht nur Tierschützer stellen infrage, ob die Bezeichnung heute noch zutreffend ist. Etwa 17 Hühner leben nach BTS auf einem Quadratmeter, ab dem 21. Tag haben die Tiere Auslauf in einen überdachten, geschützten Aussenbereich. Auf einer Wiese picken sie ihr kurzes Leben lang nie. «Aus Hygienegründen», wie Bernhardsgrütter sagt.
Er schlurft durch die Masthalle, die Füsse darf er nicht heben, er könnte Küken zertreten. Bei einer Tränke bleibt er stehen, kontrolliert, ob sie genügend Wasser spendet. Innert Sekunden scharen sich Hunderte Küken um seine Füsse. «Sie suchen instinktiv die Mutter», sagt Bernhardsgrütter. Vorsichtig bahnt er sich einen Weg zum Ausgang. Die Tiere brauchen jetzt Ruhe.
Später sitzen wir auf der Terrasse. Bernhardsgrütter serviert frische Himbeeren aus eigenem Anbau, sein Vater erzählt vom Bau des Pouletstalls im Jahr 1987. Damals war die Halle noch halb so gross wie heute. Dann wollten die Leute immer mehr Poulet essen. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich die inländische Produktion verdoppelt. Heute isst jeder Schweizer im Jahr durchschnittlich zwölf Kilogramm vom fettarmen, proteinreichen Fleisch. Die Migros baut Chickeria um Chickeria. Die Bauern immer grössere Ställe. Zwei Drittel des Rohfutters für die Mast stammen dem Ausland.
Ist das noch Landwirtschaft? Oder ist das Industrie? Markus Bernhardsgrütter sagt, in den Niederlanden oder Brasilien würden die Produzenten über seinen Betrieb lachen. Dort sind Betriebe mit mehreren 100 000 Poulets keine Seltenheit. «Was für unsere Tierschützer ‹Tierfabriken› sind, wäre im Ausland Bio. Aber natürlich: Die Pouletmast ist eine intensive Mast. Dazu stehen wir.»
Konsumenten und Restaurants hätten es in der Hand: «Wenn sie nur noch Bio kaufen, stellen wir auf Bio um. Wenn nicht, dann nicht.» Natürlich sehe es in der Masthalle anders aus als in der Werbung. Aber Werbung sei eben Werbung. Bei der Anti-Falten-Creme glaube ja auch keine Frau, dass sie nach der Anwendung tatsächlich 10 Jahre jünger aussehe.
Beim Gemüseproduzenten Beat Bösiger fahren die Erntewagen vollautomatisch vom Treibhaus in die Abfertigungshalle.
In der Rüsthalle von Beat Bösiger hängt ein Plakat von Suisse Garantie an der Wand: «Nimm mich, wie ich bin! Deine Tomate», steht darauf. Man fragt sich, ob Bösiger es der Ironie halber aufgehängt hat.
Unten, in der Halle, misst eine Maschine jede einzelne seiner Tomaten aus. Nach 16 verschiedenen Grössen werden die Früchte sortiert, nur die gleich grossen kommen in dieselbe Packung. Bei den Gurken schätzen Erntehelfer von Auge, ob sie zwischen 420 und 480 Gramm schwer sind. «Alles andere ist im Grossdetailhandel nicht marktfähig», sagt Beat Bösiger. Alles andere wird als Gemüse zweiter Klasse verkauft oder in der Biogasanlage entsorgt.
Beat Bösiger, 48, ist einer der ganz Grossen im Schweizer Gemüsebau. Seine Gewächshäuser bedecken elf Hektaren, im Freiland baut er auf einer Fläche von 150 Fussballfeldern Gemüse an, das meiste davon für Migros, Coop und Volg. 180 Mitarbeiter beschäftigt Bösiger im Sommer. In der Schweiz gibt es höchstens zehn Betriebe, die in dieser Masse produzieren.
Mechanisieren, rationalisieren, digitalisieren. «Das ist die Zukunft der Landwirtschaft», sagt Bösiger. Er steht in der Abfertigungshalle, hinter ihm rollt ein Erntewagen mit leeren Gemüsekisten an. Er ist mit Sensoren ausgestattet und fährt autonom ins Treibhaus, wo bei 25 Grad Bösigers Tomaten wachsen. Wie viel Schatten, Luftfeuchtigkeit oder Wasser sie erhalten, steuert Bösiger mittels Computer und App.
Im Treibhaus hängen die grünen Tomatenpflanzen am Tropf wie Patienten im Spital. Sie leben nicht auf Erde, sondern wachsen scheinbar aus einem Plastiksack heraus. Über dünne Schläuche werden die Pflanzen mit Wasser und Dünger ernährt. Hors-sol nennt sich diese Methode. Bei Nicht-Bio-Tomaten und -Gurken ist sie heute Standard.
Hors-sol-Produktion ist bei konventionellen Tomaten und Gurken heute Standard.
Hors-sol hat viele Vorteile. Die Methode ist sehr ressourcenschonend, zum Beispiel brauchen die Kulturen weniger Pflanzenschutzmittel und Wasser als in der Bodenkultur. Trotzdem ist hors-sol im Biolandbau verboten.
«Hors-sol ist industrielle Landwirtschaft in Reinkultur», sagt Lukas Inderfurth von Bio Suisse.
Beat Bösiger sagt: «Wir produzieren, was der Markt verlangt und wir verkaufen können.»
Die Bevölkerung sehe in der Landwirtschaft noch immer eine heile Welt, mit Geranien, Blumenwiesen und glücklichen Hühnern. «Aber das ist definitiv vorbei. Das ist nicht die Realität.»
Bösiger hat das bäuerliche Idyll selbst erlebt. Seine Eltern bewirtschafteten einen Hof im Dorfzentrum von Niederbipp, «ganz klassisch, mit Milchvieh, Hühnern, Miststock und drei Generationen am Küchentisch». In den 1990er Jahren siedelte die Familie aus. An der Grenze zum Industriegebiet bauten Bösigers Gewächshäuser, sie säten und ernteten, kauften Land, wo es welches zu kaufen gab. Die Produktion erweiterte sich von Jahr zu Jahr.
Vor zwei Jahren hat Bösiger im alten Kuhstall einen modernen Hofladen eingerichtet. Am Anfang betrieb er ihn «aus purer Freude». Mittlerweile hat sich der Laden zu einem guten Geschäft entwickelt. Die Leute wollen wieder regional einkaufen, sie konsumieren auch immer mehr Bio-Produkte. Beim Gemüse liegt der Marktanteil inzwischen bei 23 Prozent, deshalb hat auch Beat Bösiger vor drei Jahren einen separaten Bio-Betrieb gegründet.
Kehrt der industrialisierte Gemüsebau damit zurück zur Mutter Natur? Beat Bösiger lacht. «Auch am Bio-Salat akzeptiert der Kunde keine Erde und keine Blattläuse. Auch Bio-Gemüse muss gespritzt und gedüngt werden.» Wer zurück zur Natur wolle, müsse erst einmal damit umgehen, dass Gemüse nicht immer überall verfügbar sei.
Im Sommer, erzählt Bösiger, sei der Eisbergsalat in der Schweiz knapp geworden, wegen der Trockenheit. «Da haben einige Verarbeiter tatsächlich Eisbergsalat aus Kalifornien importiert. Aus Kalifornien! Wir hätten Lattich und Kopfsalat gehabt. Aber nein. Man musste Eisbergsalat haben.»
Eine Kuh steht im Melkroboter, hier im Stadtzürcher Gutsbetrieb Juchhof.
Wenn Bauer Martin Koster morgens um fünf in den Stall kommt, setzt er sich als Erstes an den Computer. «Time for Cows» heisst das Programm, das er dann öffnet. Es zeigt mit vielen farbigen Kurven, wie es den Kühen geht, die Koster vom Büro aus im Stall umhertrotten sieht. Nummer 112, Ossa, schaut ihn durch das Fenster an. Sie trägt ein Band um den Hals, das jede ihrer Aktivitäten registriert und an das Programm schickt. Acht Stunden hat Ossa am Vortag wiedergekäut, weiss «Time for Cows». Um 2 Uhr 27 hat sie den Melkroboter aufgesucht. 11,3 Liter Milch hat sie abgeliefert. «Eine gute Leistung», sagt Martin Koster. Er sagt es so, als würde er Ossa in Gedanken anerkennend auf den Rücken klopfen.
Im Stall fliegen Spatzen auf. Im Schwarm fliegen sie ins Freie. Wir sind in Niederaach im Kanton Thurgau, auf einem der grössten Milchbetriebe der Region. 190 Milchkühe stehen im Stall von Martin Koster, dessen Vater und dem Geschäftspartner Daniel Keller. Das sind siebenmal so viele wie auf einem durchschnittlichen Schweizer Hof.
Kosters und Kellers machen vor, was der Bund mit seiner Agrarpolitik fördern möchte: Aus zwei Bauernbetrieben haben sie einen gemacht, seit 2005 wirtschaften sie in einer Gemeinschaft. Weil sie immer weniger Geld für ihre Milch erhielten, ergriffen die Landwirte die Flucht nach vorne. Die Betriebsgemeinschaft ermöglichte ihnen Investitionen im grossen Stil. Dreimal haben sie den Viehstall in den vergangenen Jahrzehnten ausgebaut. Sie schafften einen automatischen Mistschieber an, einen Roboter, der Futter verteilt, und drei Roboter, die die Kühe melken.
Martin Koster kennt jede Kuh mit Namen und Nummer. Alba, Nummer 21, will jetzt gemolken werden. Sie steht im Roboter, der Automat fährt Bürsten aus, reinigt ihr die Zitzen, dann docken vier lasergesteuerte Melkbecher an. Die Kuh bleibt ruhig. Sie kaut an der Portion Kraftfutter, die die Maschine ihr ausgegeben hat. Martin Koster sagt: «Wir haben Roboter, ja. Aber Hand anlegen müssen wir trotzdem noch. Wir verbringen unglaublich viel Zeit mit den Tieren.» Er zeigt in den Stall, Daniel Keller streut dort die Boxen neu ein. «Mit Maschinen kannst du nicht alles machen.» Der Computer gebe vielleicht einen Einblick in die Herde. «Aber die Kühe pflegen, das kann nur der Mensch.»
Alba ist eine Holsteinkuh. Die schwarz-weiss gefleckte Rasse ist ein Synonym für die auf Hochleistung getrimmte Milchwirtschaft. Vor zwei Jahrzehnten gab eine Holsteinkuh noch 6400 Liter Milch nach einer Trächtigkeit. 2010 waren es schon 8400 Liter. Möglich ist das nur mit viel Kraftfutter. Der Verbrauch in der Schweiz nimmt seit Jahren zu.
Agrarexperte Andreas Bosshard sieht diese Entwicklung kritisch. Er anerkennt die Vorteile von Betriebsgemeinschaften. Aber er gibt zu bedenken: «Je mehr betriebsfremde Futtermittel und Technik ein Betrieb braucht, desto mehr macht er sich abhängig von der Industrie und vom Ausland.» Kuhherden von über 50 Tieren könnten unter Schweizer Verhältnissen oft nicht mehr auf Basis der effizienten und besonders kostengünstigen Weidewirtschaft gehalten werden. «Solche Grossbetriebe produzieren dann teurer und nähern sich einer industriellen Produktion an.»
Martin Koster sieht das anders. Er öffnet den Zaun zur Weide, nach und nach trotten die Kühe ins Freie. Er sagt: «Ich kenne die Charaktere meiner Tiere, ich kenne ihre Macken. Das kann doch keine Industrie sein.» Natürlich müsse er die beste Leistung aus jeder Kuh herausholen. «Der Milchpreis kennt keine Gnade. Ohne Hochleistung müssten wir einfach noch mehr Kühe in den Stall stellen. Das ergibt ökologisch doch auch keinen Sinn.»
Viele hätten das Gefühl, dass es Tieren in kleinen Betrieben grundsätzlich besser gehe. «Das stimmt einfach nicht. Unsere Kühe gehen jeden Tag auf die Weide. Auch im Stall können sie sich frei bewegen, sie können herumliegen, fressen, trinken und Milch abgeben, wann sie wollen. Das ist doch viel schöner als früher, als die Tiere die meiste Zeit angebunden waren.»
Der 24-Jährige führt zu den Kälbern. Sie liegen im Stroh, sehen friedlich aus. Mit zwei Ausnahmen sind alle weiblich – Kosters und Kellers haben sie so bestellt. Möglich ist das mit sogenannt «gesextem Sperma»: Setzen Bauern es bei der künstlichen Befruchtung ein, entwickeln Kühe mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 Prozent ein weibliches Kalb. Auch das gehört zur industriellen Landwirtschaft: Sie erzeugt Tiere, die scheinbar weniger Wert haben. Oder sie erzeugt sie eben nicht mehr.