Die Chinesische Mauer im Bodensee
- ️Thu Apr 16 2015
Stand: 16.04.2015, 00:29 Uhr
Ab Juli werden am Bodensee Männer geköpft: Die Bregenzer Festspiele locken auf der weltgrößten Freiluftbühne mit „Turandot“. Zugleich markiert die Neuinszenierung dieser Puccini-Oper den Beginn einer neuen Ära – auf dem Chefstuhl sitzt nun eine Intendantin.
Bregenzer Festspiele
Ab Juli werden am Bodensee Männer geköpft: Die Bregenzer Festspiele locken auf der weltgrößten Freiluftbühne mit „Turandot“. Zugleich markiert die Neuinszenierung dieser Puccini-Oper den Beginn einer neuen Ära – auf dem Chefstuhl sitzt nun eine Intendantin.
von markus Thiel
Bregenz – Auf der Ladefläche eines Lkw kamen sie über die Grenze, aus Rumänien, wo es billig ist. Kein Zöllner hat aufgemuckt, keine Rasterfahndung hat zugeschlagen. Arbeit winkt im gelobten Westen, für fünf Monate, doch Lohn gibt es für die Soldaten in Vorarlberg vorerst nicht. Stören dürfte das weder sie noch die Behörden, schließlich sind die Männer aus Beton. Zwei Meter groß, 600 Kilo schwer jeder einzelne, und nachgebildet sind alle der sagenhaften Terrakotta-Armee, jener Kriegerschaft, die Chinas ersten Kaiser im Totenreich verteidigen soll.
Der Auftrag anno 2015 lautet: Bewachung der Seebühne, zusammen mit Brüdern aus Plastik, die von innen leuchten werden. Die 185 bemützten Herren sind der Clou der Bregenzer Festspielinszenierung von Giacomo Puccinis „Turandot“, die am 22. Juli auf der weltgrößten Freiluftbühne herauskommen wird. Von jener Oper also, in der eine schwer traumatisierte Prinzessin ihre Freier köpfen lässt, wenn sie nicht drei Rätsel lösen können. Einer schafft es schließlich, Kalaf, der nach vollbrachter Aufgabe Turandot kriegt und dafür gleich noch den größten Tenorhit der Operngeschichte schmettern darf, „Nessun dorma“. Viele denken dabei an Luciano Pavarotti, mancher auch an dessen vokale Bonsai-Version, an Paul Potts.
Es ist gerade Aufbruchstimmung in Bregenz. Nicht nur, weil an diesem Tag die Laster an der Seebühne mit ihren 7000 Plätzen parken und die Krieger vom Kran übers Nass gehievt werden. Kaum eine Welle kräuselt sich, das Wasser strahlt noch Winterkälte ab, auf dem Pfänder über der Stadt sieht man ein paar Schneereste, doch es ist Frühling auch hier, endlich. Arbeiter und Techniker, die zwei Monate vor Probenbeginn letzte Elektroleitungen verlegen oder die Mauersteine der Riesenkulisse einbauen, genießen das.
Noch wärmer ist es ein paar Etagen höher. Dort, im Büro mit der Glaswand Richtung See und dem Millionen-Dollar-Blick, bittet Elisabeth Sobotka zum Espresso. Sie ist neu hier, trägt deshalb auch zur Atmosphäre des „Jetzt geht’s los“ bei, und gehört einer sehr seltenen Spezies an. Die gebürtige Wienerin ist die Intendantin. „Der See verbreitet eine unglaublich offene, ja weltoffene Stimmung“, sagt Sobotka und schaut hinunter. „Ich bin vernarrt in ihn.“
Die 49-Jährige war in gleicher Funktion an der Oper Graz und hat sich zuvor unter anderem in Leipzig und Berlin ins Musiktheatergeschäft hineingewühlt. Anders als in der freien Wirtschaft hinkt die Kulturszene noch deutlich hinterher, was Frauen in Führungspositionen betrifft. In Österreich gibt es zwei Opernchefinnen, in Deutschland sind es gerade mal drei. Dass die Bregenzer Festspiele nun „weiblicher“ werden, wird in diesen Monaten gern geschrieben, wobei keiner eigentlich genau weiß, was das heißen soll, auch Elisabeth Sobotka nicht. „Gut, ich bin sicher ein emotionaler Mensch, aber ob das weiblich oder männlich ist?“ Auf jeden Fall ist sie für die Quote: „Wenn man Tatsachen schafft, ändert sich die Situation schneller.“
Aber das ist eine andere Geschichte. Am Bodensee geht es jetzt vor allem um Elisabeth Sobotkas ersten Sommer, den sie gleich mit zwei Schlagern bestreitet. Neben „Turandot“ auf dem See gibt es drinnen im Festspielhaus „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach. Der Kartenabsatz läuft blendend, gerade wurde eine zweite Zusatzvorstellung der Puccini-Oper angesetzt. Zwei Jahre lang sind die Open-Air-Produktionen traditionell zu sehen, 2016 dürften also, wenn alles gut geht, fast 400 000 Tickets verkauft sein. Das ist nicht nur einmalig in der Opernszene, davon könnte sich auch manches Sport-Spektakel eine Scheibe abschneiden.
Imponierend ist diese Zahl, und auch notwendig. Mit der Freiluftbühne finanzieren die Bregenzer alle ihre übrigen Anstrengungen, von der Festspielhaus-Oper über Orchesterkonzerte bis zur Produktion der Nachwuchskräfte vom Opernstudio. Wenn das alles freilich so einfach wäre. Seit 17 Jahren nämlich hat die öffentliche Hand ihre Subventionen nicht erhöht. Das bedeutet unterm Strich eine Kürzung. 80 Prozent ihres Etats spielen die Bregenzer zwar selbst ein, doch mit ihren lukrativen See-Inszenierungen müssen sie mittlerweile auch die Betriebskosten mitfinanzieren.
„Brandgefährlich ist das“, sagt Elisabeth Sobotka, „es geht an die Substanz.“ Gerade laufen Gespräche mit der österreichischen Regierung. Die Verantwortlichen sind freundlich gesinnt, jedoch der – für die Bregenzer Konten – verhängnisvollen Meinung: Keine Panik, in Vorarlberg laufe doch alles super. Die Chefin riskiert daher einen frivolen, wenn auch plausiblen Vergleich: In Salzburg zum Beispiel, da gäbe es doch wahrlich mehr Lockstoffe als nur die Festspiele. „In Bregenz allerdings sind wir ein zentraler Wirtschaftsfaktor für die ganze Region.“
Um die Tribüne draußen voll zu bekommen, könnte man nun auf Populismus verfallen. Doch genau das verbittet sich Bregenz. Am Bodensee ist alljährlich der Musterfall zu bestaunen, wie man das – neudeutsch genannte – „Event“ mit Intelligenz verbindet. Alle diese Open-Air-Opern sind das Gegenteil des billigen Spektakels. „Ich möchte Populäres auf allerhöchstem Niveau machen“, formuliert es die Intendantin. So ähnlich wie bei ihrem Vorgänger klingt das, beim Briten David Pountney, der auch durch sein extravagantes Auftreten, etwa seine asiatischen Gewänder mit Ringelsocken, die Festspiele stark mit seiner Person verknüpfte.
Verantwortlich für die oberklassige Unterhaltung ist in Bregenz zu einem großen Teil das jeweilige Bühnenbild. Ob es sich um das Skelett vor einem aufgeschlagenen Buch bei Verdis „Maskenball“, um drei neonfarbene, feuerspeiende Drachenhunde bei Mozarts „Zauberflöte“ oder um das meterhohe Auge bei Puccinis „Tosca“ handelt (das auch Schauplatz war für den Bond-Film „Ein Quantum Trost“): Stets haben sich diese Szenerien mit ihrer skulpturenhaften Qualität ins Operngedächtnis eingebrannt.
Heuer, bei Puccinis „Turandot“, ist es eine Mauer, die chinesische natürlich. In einem kühnen 70-Meter-Schwung streckt sie ihre beiden Enden dem Publikum entgegen, zwei Türme sind integriert, es gibt einen Wehrgang, auf den Statisten und Solisten geschickt werden, und eben die Terrakotta-Armee. Ein paar der roten Steine sind noch leicht transparent, man sieht das erst, wenn man unmittelbar hinter ihnen steht und einen solchen Experten wie Florian Kradolfer an seiner Seite hat.
Der Ausstattungsleiter der Festspiele hat an der aktuellen Kulisse besonderen Gefallen gefunden. In die Mauer-Einsparungen kommen nämlich noch die vielen Lautsprecher hinein. Sie sind dafür verantwortlich, dass der mikrofonierte und verstärkte Klang mit dem Sänger auf der Bühne „wandern“ kann, auch das ist international einmalig. Nicht alle Szenerien der vergangenen Jahre waren so problemlos zu bestücken. Und einen weiteren Vorteil hat die bis zu 27 Meter hohe Mauer auch noch: Sie konzentriert den Klang und reflektiert ihn Richtung Zuschauertribüne.
Mit den in Opernhäusern üblichen Bauten hat das alles nichts zu tun. Sechs bis sieben Millionen Euro kostet eine Bregenzer Bühne. Einfach, weil bis auf einen zentralen Bereich, wo sich in quaderförmigen Aufbauten enge Garderoben und Kabinen für die Technik verbergen, alles neu gebaut werden muss. Hinter den Mauersteinen für „Turandot“ sorgt nun ein trutziges Metallgestell für Stabilität. Stürmen gilt es schließlich am See zu trotzen – und dem Wasser. Florian Kradolfer deutet nach unten, wo es unter dem Gitter schmatzt und gluckert: „Der Wasserstand ändert sich in einer Spielsaison um bis zu einem Meter.“ Nach der Premiere dürfen die Bregenzer jedoch regelmäßig aufatmen: Jahreszeitlich bedingt ist der Höchststand dann überschritten – es sei denn, Petrus gießt noch einiges nach.
Im vergangenen Sommer, bei der „Zauberflöte“, ist das passiert. Vorstellungsausfall, so etwas bleibt aber die absolute Ausnahme. Es wird weiter gespielt und gesungen, auch wenn’s windet, nieselt oder vorübergehend regnet, davon lassen sich gerade die Solisten in ihrer Festspielstimmung eben schwer abbringen. Dieses Thema hat Elisabeth Sobotka – gottlob, wie sie findet – noch nicht ganz erreicht. Das spätestens ab 22. Juli, wenn die Intendantin tagfüllend nach der Prognose gefragt und fünfmal pro Woche eine Siebentausenderschaft von Opernfans besorgt nach oben blicken wird – und vielleicht neidisch nach vorn: Den Gastarbeitern aus Rumänien dürfte das alles ziemlich „conteazǎ“ sein. Also egal.