Cyanobakterien als Seefahrer
- ️Anna Manz
- ️Fri May 19 2023
„Das war sehr seltsam“, kommentiert Capovilla, die diesen Zufallsfund daraufhin näher erforschte. Sie und ihr Team fanden heraus, dass das Gen in den kleinen Blaualgen tatsächlich aktiv ist. Jene Stämme, die es in sich trugen, konnten im Laborsetting Chitinpartikel als ertragreiche Nahrungsquelle abbauen. Das galt ebenso für Synechococcus-Mikroben. Doch nicht nur das: Die Picocyanobakterien hatten außerdem die Fähigkeit, sich an den Chitin-Kügelchen festzuhalten.
Mit Chitin-Flößen aufs offene Meer
Dies lieferte den entscheidenden Hinweis: „Die Leute fragen mich immer: Wie haben diese Mikroben den frühen Ozean kolonisiert? Und als Gio diese Experimente durchführte, gab es diesen Aha-Moment“, berichtet Capovillas Kollege Rogier Braakman. Um die Küste zu verlassen, könnten sich die frühen Vorfahren von Prochlorococcus und Synechococcus an kleinen „Flößen“ aus Chitin festgehalten und diese gleichzeitig als Reiseproviant genutzt haben, so die Idee der Wissenschaftler.
Die auf dem Meer schwimmenden Chitin-Schiffchen hätten es den Mikroben erlaubt, ihre oberflächengebundene Lebensweise beizubehalten und sich parallel dazu im Laufe von Millionen von Jahren an die harscheren Lebensbedingungen des offenen Ozeans anzupassen. Und zwar so sehr, dass sie irgendwann auch ohne Floß darin überleben konnten. Capovilla und ihre Kollegen haben dieses Szenario passenderweise „Chitin-Floß-Hypothese“ getauft.
Zusätzlicher Rückhalt für die Hypothese kommt aus der stammesgeschichtlichen Rückverfolgung der Picocyanobakterien-Gene. Diese zeigt, dass die Mikroben ihre Fähigkeiten als Chitin-Abbauer genau dann erlangten, als sich chitinproduzierende Arthropoden gerade massenhaft im Ozean verbreiteten, nämlich vor 520 bis 535 Millionen Jahren. Die frühen Cyanobakterien hatten also jede Menge Chitin zur Verfügung und entwickelten parallel dazu ihre Floßbau-Fähigkeiten. Der Gedanke, dass sie diese auch einsetzten, liegt dementsprechend nah.
Frühe Flößerei veränderte den Planeten
Dass die winzigen Cyanobakterien einst die hohe See eroberten, hatte außerdem weitreichendere Auswirkungen, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Ihre gewaltige Photosynthese-Leistung in den Weltmeeren reicherte die frühe Atmosphäre mit Sauerstoff an und ermöglichte so schließlich das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen. „Hätten Prochlorococcus und andere photosynthetische Organismen den Ozean nicht besiedelt, sähen wir heute einen ganz anderen Planeten“, so Braakman. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2213271120)
Quelle: Massachusetts Institute of Technology
17. Mai 2023 - Anna Manz