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Venedig-Tagebuch: Grober Sex und geschliffene Dialoge

  • ️@derspiegel
  • ️Thu Aug 30 2007

Das Kino sei ein Zauberkasten für Spaß und Sex und Glamour, kreischt es anlässlich von Filmfestivals dauernd aus Fernsehreporterhälsen und Zeitungsspalten. In Wahrheit aber ist das Kino vor allem ein gefährlicher Ort. Dass sich zum Beispiel der Zuschauerraum bestens eignet für Attentate auf sonst unnahbare mächtige Menschen, erfährt man in Ang Lees neuem Film "Lust, Caution", und auch sonst gibt viele beunruhigende Zeichen und Wunder in diesen Starttagen der Filmfestspiele in Venedig.

Der unumstrittene Star des Eröffnungsabends war Keira Knightley, deren Haut im echten Leben auf dem roten Teppich vor dem Festivalplast noch ein bisschen liebreizender schimmerte als im Kino, aber wie traurig die Schauspielerin fast die ganze Zeit aus ihren verschatteten Augenhöhlen schaute!

Betrüblich dünn und abgrundtief betrübt wirkte sie, vielleicht weil sie ahnte, dass zwar alle hier in Venedig Keira Knightley lieben, aber nicht ganz so viele ihren neuen Film, der im Wettbewerb läuft und das Festival eröffnete: "Abbitte", die Verwurstung eines Ian-McEwan-Romans von Joe Wright, schwelgt in den Kostümen und Dekors der britischen Upper Class der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, bis der Krieg dann hereinbricht und Regisseur Wright in einer aberwitzig langen, kunsthandwerklich spektakulären Einstellung die zerfetzten Leiber und Mord- und Totschlagsgräuel der Schlacht um Dünkirchen zeigt. Die Story des Films, die um Standesdünkel und eine schlimme Lüge kreist, versinkt in diesem glorreichen Apokalypse-Kitsch auf Nimmerwiedersehen.

Der Krieg sei das Überthema dieses Festivals, das vor 75 Jahren erstmals stattfand und also in diesem Jahr Jubiläum feiert, behauptet Marco Müller, der Programmchef. Insofern gibt's wirklich viel Grund zum Fürchten. So hat der Verpackungskünstler Dante Franzetti mitten in die weißlackierte Verkleidung des Festivalpalasts eine riesige Kanonenkugel einschlagen lassen und ein paar Mauerreste drumrum drapiert, damit es nach Actionkino aussieht. Welcher Besucher muss da nicht schreckhaft werden, wenn’s auch noch dauernd böllert und kracht? Am späten Mittwochabend ließen sie ein üppiges Feuerwerk am Strand des wunderschön pseudoorientalischen Excelsior-Hotels explodieren, wo das Festessen der Gala-Gäste stattfand; am Donnerstagmittag krachte dann ein Gewitter über den seit Tagen in schwülheißer Gewitterstimmung brütenden Lidobewohnern und ihren Gästen los.

Die Mörder lauern im Kino

Kriegslärm und Hitze, allerdings im zwischen Japanern und Chinesen umkämpften China der frühen vierziger Jahre, davon erzählt Ang Lees Film "Lust, Caution", der ein bisschen an Jean-Paul Sartres Theaterschlager "Die schmutzigen Hände" erinnert. Ein Haufen junger Idealisten (von denen nie gesagt wird, ob sie Kommunisten sind) will erst in Hongkong, dann in Shanghai einen mächtigen Kollaborateur, den obersten Folterknecht der japanischen Besatzer, abmurksen - und setzt dazu ein junges Mädchen als Lockvogel ein. Es sieht toll aus, wie der chinesische Großstar Tony Leung hier in delikaten Bildern den Schurken spielen darf; es ist herzzerreißend, wie die Schauspielerin Tang Wei ein Mädchen spielt, dass im Dienst der guten Sache ganz und gar lieblos von einem Mitverschwörer entjungfert wird; und es ist harte Kost, wenn die jungen Leute zum ersten Mal einen ihrer Feinde umbringen und gefühlte zehn Minuten metzeln, bis der Mann endlich tot ist.

Zweieinhalb Stunden braucht Ang Lee, um zu zeigen, wie der böse Mann und das Mädchen aneinander in ziemlich grober Weise sexuelle Handlungen vornehmen (weshalb der Film eher nicht jugendfrei ist), wie sie beim Vögeln zur Ekstase finden, aber auch davon nicht gerührt werden, und wie schließlich jeder der beiden wegen einer Kleinigkeit doch noch die Fassung verliert (er hört sie singen, sie sieht einen Diamanten glitzern). Vielleicht fehlt diesem großartig instrumentierten Melodram die allerletzte Kraft, um den Zuschauer wirklich in Bann zu schlagen, übers Kino aber wird hier in tiefsinniger Knappheit philosophiert: Da gehe er nicht hin, "ich fürchte mich vor dem Dunkeln", sagt der schurkische Held des Films, weil er dort seine Mörder vermutet, und tatsächlich tauschen die Verschwörer dann immer in der Finsternis eines Kinosaals ihre Nachrichten aus.

Dem Affen Zucker geben

In Kenneth Brannaghs Wettbewerbsbeitrag "Sleuth" führen zwei Männer Krieg gegeneinander; Anlass ist natürlich eine Frau. Den alten Mann in diesem Film, der ein Remake ist, spielt Michael Caine, im Original war es Laurence Olivier. Den jungen Mann spielt Jude Law. Der Alte ist ein superreicher Schriftsteller, dessen junge Frau davongelaufen ist. Der Junge ist ein Gelegenheitsschauspieler, bei dem die Frau jetzt lebt. Der flotte Habenichts ist auf den mit Videokameras und superschicken Möbeln vollgestellten Landsitz des Erfolgsschriftstellers gekommen, weil er den Alten dazu überreden will, endlich in die Scheidung einzuwilligen - doch dann geht es schnell um den Raub von Juwelen und ein fintenreiches, raffiniertes, möglicherweise echt mörderisches Spiel.

"Sleuth" ist ein Gefecht der geschliffenen Dialoge, der Blicke, der unverhofften Attacken, ein Schauspielerfest: Genau das ist der Reiz und das Problem des Films. Den Caine und Law geben ihr Äußerstes, um brillant, schneidend, witzig und überraschend zu sein – und das ist entschieden zuviel. In Großaufnahmen sehen wir ihre Augen zucken, ihre Lippen schmal werden, ihre Nasenflügel beben, ihre Münder geifern, und dazwischen blinken dauernd High-Tech-Überwachungsbildschirme oder es blitzen Pistolenknäufe und ein blankes Messer. Die Thriller-Kunst dieses Duells wird derart zelebriert, dass nie wirklich Spannung aufkommt. Immerhin merkt man den beiden Hauptdarstellern die Begeisterung an, mit dem sie hier dem Affen Zucker geben.

Am Donnerstagmittag dann sitzt Jude Law neben Caine und Brannagh im überfüllten Pressekonferenz-Saal des Festivals und redet eine halbe Stunde über genau die Begeisterung und den Spaß, die er bei den Dreharbeiten für "Sleuth" empfunden habe - und plötzlich zeichnet sich dann doch echter Schrecken in seinem Gesicht ab.

Kaum hat der Moderator das Ende der Konferenz verkündet, stürzen rund 150 Männer und Frauen zum Rednerpult, um ein Autogramm von Jude Law zu ergattern. Er sieht sich erst hilfesuchend um und schreibt dann 20 Mal seinen Namen, bevor er aus dem Raum stürzt. Und was hat Jude Law gelernt? Nicht bloß im Kino, sondern auch unter Kinojournalisten kann es echt zum Fürchten sein.