Spionage im Kalten Krieg: "Der BND hat alle größeren Krisen verschlafen"
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- ️Tue Dec 12 2017
Müller, 69, war bis zum Jahr 2014 Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der Professor für Militärgeschichte zählt zur Historikerkommission, die im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes (BND) dessen Geschichte erforscht. Jetzt erscheint seine zweibändige Biografie des BND-Gründers Gehlen.
SPIEGEL: Herr Professor Müller, Reinhard Gehlen hat den BND aufgebaut und bis 1968 geleitet. Sein Ruf war legendär. Heute gilt er hingegen als Hochstapler. Wie fällt Ihr Urteil aus?
Müller: Das hängt davon ab, welchen Lebensabschnitt Gehlens Sie betrachten. Er war einer der begabtesten Generalstäbler der Wehrmacht, mit glänzenden Aussichten, die sich 1945 zerschlugen. Es gelang ihm dann, das Vertrauen der Amerikaner zu gewinnen, für die er die Organisation Gehlen aufbaute, den Vorläufer des BND. Und er setzte durch, dass die Regierung Konrad Adenauer ihn und seine Leute 1956 als BND übernahm.
SPIEGEL: Ein Geheimdienstchef wird üblicherweise daran gemessen, welche Geheimnisse er enthüllt.
Müller: Der Dienst war zu Gehlens Zeit deutlich schwächer, als es im Nachhinein dargestellt wurde. Seine Einblicke in die DDR waren oft armselig, das räumten Gehlens Leute intern auch ein. Die Militäraufklärung funktionierte nur zeitweise, die wirtschaftliche und die politische Spionage jenseits der Mauer konnte man laut CIA gleich ganz vergessen. Vom Balkan und von anderen Teilen Südosteuropas hatte die Organisation am Sitz Pullach ebenfalls keine Ahnung. In Ungarn zählten vielleicht drei Bäuerinnen Panzer. Viel mehr hatte der BND da nicht zu bieten. Es gab weder in der DDR noch in irgendeinem anderen Ostblockland eine Spitzenquelle des BND.
SPIEGEL: Was ist mit den Höhepunkten des Kalten Krieges? Wie waren Gehlen und seine Leute auf den Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 vorbereitet - oder auf den Mauerbau 1961 und die Kubakrise 1962?
Müller: Der BND hat alle größeren Krisen verschlafen. Den Aufstand gegen das SED-Regime am 17. Juni hielt Gehlen sogar für eine Inszenierung Moskaus. Aber das ist auch nicht verwunderlich. 80 Prozent des Meldeaufkommens stammten aus offenen Quellen. Daher galt BND-intern: Wenn man die "Neue Zürcher Zeitung" liest, ist man auf dem Laufenden.
SPIEGEL: Gehlen erweckte in Bonn den Eindruck, er führe viele Spione in der DDR.
Müller: Hier war er gern Trittbrettfahrer bei anderen, etwa dem Ostbüro der SPD, das ebenfalls Informationen aus der DDR sammelte. Gehlen schöpfte dieses heimlich ab.
SPIEGEL: Wieso konnte er sich dann so lange halten?
Müller: Gehlen hat sich nicht um das Nachrichtengeschäft gekümmert, das überließ er seinen Leuten. Ihn interessierte die Politik. Er überschüttete Bonn mit Meldungen und schaffte es, das Vertrauen der Parteivorsitzenden zu gewinnen. Das Vertrauensmännergremium des Bundestags sollte ihn eigentlich kontrollieren, aber bezeichnenderweise traf sich das Gremium jahrelang nicht. Das wurde als unnötig betrachtet.
SPIEGEL: Verfolgte Gehlen politische Ambitionen?
Müller: Er wollte zum wichtigsten Berater des Kanzlers aufsteigen und Adenauer erklären, was in der Welt und in der Bundesrepublik los ist. Das war sein Ideal. Die Geheimdienste für Inland, Ausland und Militär sollten unter einem Dach vereint werden und sogar über Polizeirechte verfügen - mit ihm an der Spitze.
SPIEGEL: Das erinnert an das Reichssicherheitshauptamt im "Dritten Reich".
Müller: Ja, oder auch an die Stasi. Gehlen ist zum Glück an den Alliierten und an der SPD gescheitert. Aber selbst in den Sechzigerjahren hat er sein Konzept noch verfolgt. Die politische Kontrolle des BND durch Kanzleramt und Parlament hat er nie akzeptiert.
SPIEGEL: Hat Adenauer seinen Rat befolgt?
Müller: Er hat offenbar Gehlens Urteil geschätzt und ihm immer wieder Aufträge erteilt. Andererseits warf er 1963 dem damaligen US-Botschafter vor, die Amerikaner hätten ihm einst den "Dummkopf" Gehlen aufgeschwatzt.
SPIEGEL: Das muss nichts bedeuten. Adenauer neigte zu übler Nachrede.
Müller: In diesem Fall steckt mehr dahinter. Adenauer hatte Gehlen vertraut, nicht weil er dessen Persönlichkeit schätzte, sondern weil Gehlen als Mann der Amerikaner galt. Doch dann flog 1961 Heinz Felfe auf. Ausgerechnet der Chef der Gegenspionage Sowjetunion des BND entpuppte sich als KGB-Spion. Da ist für Adenauer eine Welt zusammengebrochen.
SPIEGEL: Und Gehlens Traum vom Chefberater des Kanzlers war ausgeträumt?
Müller: Die Lust, hinter den Kulissen in Bonn zu intrigieren, ließ jedenfalls nach. Der BND hat sich von den Folgen der Felfe-Affäre erst nach dem Ende der Ära Gehlen erholt. Dann musste gründlich aufgeräumt werden.
SPIEGEL: Welche Aufträge hat Adenauer seinem BND-Chef erteilt?
Müller: Es reichte von Gefälligkeiten - etwa für die Beförderung eines Bekannten zu sorgen - bis zu der Frage, über wie viele Raketen die Sowjets verfügen. Gehlen schien Adenauer bedingungslos ergeben und zu allem bereit zu sein. Er unterhielt ein Netz aus einigen Hundert Informanten, mit dem er alle möglichen Leute ins Visier nahm: den Parteivorstand der SPD, die Gewerkschaften, die Polizei, auch die CDU und zeitweise sogar Kanzleramtschef Hans Globke, der ihm üblicherweise Adenauers Aufträge übermittelte. Gehlen konnte dann dem Kanzler über parteiinterne Querelen oder auch die Pläne der SPD für die kommende Bundestagsdebatte vortragen. Insoweit war er im Inland erfolgreicher als im Ausland.
SPIEGEL: Ihrer Darstellung nach war Gehlen mit seinem Spitzelsystem überaus erfolgreich. Sie behaupten, er habe "die Presselandschaft unter Kontrolle" gehabt. Gehen Sie da nicht Gehlens Prahlerei gegenüber dem Kanzleramt auf den Leim?
Müller: Er wünschte sich eine Presse, die nicht kritisch nachfragte, und das ist ihm bis in die Sechzigerjahre hinein auch gelungen.
SPIEGEL: Dem SPIEGEL werfen Sie sogar eine "fragwürdige Kumpanei" mit Gehlen vor ...
Müller: ... das ist überspitzt formuliert.
SPIEGEL: Gehlen hat behauptet, er habe großen Einfluss auf den SPIEGEL.
Müller: Das ist die Sicht des BND. Dieser lancierte Informationen im SPIEGEL wie in anderen Medien auch.
SPIEGEL: Wie wollen Sie das beweisen?
Müller: Das ergibt sich aus BND-Dokumenten.
SPIEGEL: Die würden wir auch gern lesen. Wir verlangen vom BND seit Jahren die Freigabe seiner Dokumente zum SPIEGEL; der Fall liegt jetzt beim Bundesverwaltungsgericht. Uns scheint, dass hier ein Nachrichtendienst die Presse unterwanderte und damit gegen das Grundgesetz verstieß.
Müller: Aus meiner Sicht war es ein Spiel auf mehreren Ebenen. Man tauschte Informationen aus; der Bundesnachrichtendienst verhinderte, dass Falschmeldungen aus der DDR über den SPIEGEL verbreitet wurden. Das schloss nicht aus, dass der BND den SPIEGEL auch ausspionierte. Da verschwimmen die Grenzen.
SPIEGEL: Seit einigen Jahren ist bekannt, dass Gehlen 1956 der CIA vorschlug, gemeinsam vorzugehen, falls die SPD in Bonn an die Macht käme und einen neutralistischen Kurs einschlüge.
Müller: Er fürchtete dann eine kommunistische Machtübernahme und wollte die Gegenkräfte mithilfe der CIA unterstützen, auch gegen eine SPD-geführte Regierung in Bonn.
SPIEGEL: Das klingt nach Hochverrat.
Müller: Ja. Und Gehlen hat mindestens ein weiteres Mal mit den Amerikanern gegen die Bundesregierung agiert. Da war er bereits Pensionär, und Willy Brandt regierte. Es ging um BND-Akten, vermutlich Dossiers über deutsche Politiker. Gehlen hatte die Papiere beiseitegeschafft und war in Sorge, dass es der Bundesregierung gelingen könnte, sie zu finden. Die CIA hat ihm dann offenbar geholfen. Der weitere Ablauf ist unklar. Die Dokumente sind jedenfalls verschwunden. Ich gehe davon aus, dass eine Kopie in den USA liegt.
SPIEGEL: War Gehlen ein Agent der Amerikaner?
Müller: Nein, aber er war sich seiner Abhängigkeit von den USA stets bewusst.
SPIEGEL: Wie kam es dazu?
Müller: Gehlen hatte seit Mai 1942 die Abteilung Fremde Heere Ost geleitet und war zuständig für die Beurteilung der Feindlage an der Ostfront. Da die Amerikaner 1945 keine Ahnung von der Roten Armee hatten, konnte er sich ihnen als Experte präsentieren. Und er brachte etwas mit: 50 Kisten mit verfilmten Akten. Das war das gesammelte Wissen über die Standorte sowjetischer Truppen, das sowjetische Rüstungswesen und Dossiers über Stalins Heerführer. Er hat damit eine Lücke bei der U.S. Army und dann bei der CIA gefüllt.
SPIEGEL: Er galt als eine Art Meisterspion Hitlers. Woher stammte dieser Ruf?
Müller: Gehlen hat selbst dafür gesorgt, dass sich dieser Ruf verbreitet. Dabei hat er alle größeren Schlachten versemmelt, angefangen mit Stalingrad. Da hat er den Aufmarsch der Roten Armee nicht erkannt und Glück gehabt, dass Hitler fest davon überzeugt war, die Verbündeten, also Italiener, Ungarn und Rumänen, wären allein schuld an der Katastrophe.
SPIEGEL: Aber sein Versagen muss doch aufgefallen sein.
Müller: Während der Krieg lief, war für Ursachenforschung keine Zeit. Und nach 1945 passte Gehlens Erzählung zur Version der Wehrmachtsgeneralität, die ja behauptete, wenn der "Führer" sich nicht ständig eingemischt hätte, hätte sie den Krieg gewonnen. Das Argument, Gehlen habe hervorragende Arbeit geleistet, die Hitler ignoriert habe, wurde gern aufgegriffen.
SPIEGEL: Hat Gehlen mit den Nazis sympathisiert?
Müller: Dafür gibt es keinen Hinweis. Er war Berufssoldat und wollte Karriere machen. Sein Umgang mit den Nazis war pragmatisch.
SPIEGEL: Konnten deshalb so viele NS-Verbrecher beim BND unterschlüpfen?
Müller: Ja, er fürchtete eine kommunistische Unterwanderung. Und dann hat er sich gedacht: Wer kennt sich besser aus als die Gestapo-Leute? Später verwies Gehlen einmal darauf, dass bei ihm weniger Gestapo-Leute seien als in der Bayerischen Landespolizei. Zu Recht. Der BND unterschied sich da nicht von anderen Behörden.
SPIEGEL: Sie schreiben, dass Gehlen "keine Ahnung" davon gehabt habe, wer bei ihm alles gearbeitet habe.
Müller: Die meisten NS-Verbrecher saßen in den Außenstellen, nicht in Pullach. Sie hatten einen formalen Entnazifizierungsbescheid. Und dann waren sie Gehlen von Kriegskameraden empfohlen worden. Die hatten ja kein Schild auf der Stirn: "Ich habe gemordet." Gehlen hatte keine Möglichkeiten, das zu überprüfen. Aber natürlich hatte er dafür auch keinen Sensor.
SPIEGEL: Ausgerechnet Adenauer, den ja sonst keine Skrupel plagten, Altnazis einzustellen, hat ihm die Gestapo-Leute zum Vorwurf gemacht.
Müller: Der Kanzler fand, das seien Spezialisten, die man für eine bestimmte Zeit brauche. Aber eben begrenzt. Als er 1958 mitbekam, dass die Gestapo-Leute immer noch da waren, hat er das kritisiert. Der Rauswurf ist dann an der SPD gescheitert.
SPIEGEL: Wir fassen zusammen: Gehlen war als Geheimdienstchef ein Versager, gefährdete zudem die junge westdeutsche Demokratie und stellte NS-Verbrecher ein.
Müller: Sie urteilen vorschnell. Gehlen hatte durchaus Anteil an der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Auch die Simulation eines funktionstüchtigen Geheimdienstes kann abschrecken. Der Warschauer Pakt musste immer mit seiner Enttarnung rechnen, sollte er einen Angriffskrieg vorbereiten. Gehlens Leute waren so gesehen die vorderste Verteidigungslinie des Westens. Und innenpolitisch stärkte Gehlen das Sicherheitsgefühl bei Politikern in Bonn und in der Bevölkerung. Er galt als einstiger Topspion Hitlers, der die Russen besser kennt als jeder andere und der mit den Amerikanern Hand in Hand arbeitet. Das genügte.
SPIEGEL: Seine Offiziersvergangenheit war ein Vorteil?
Müller: In der Weimarer Republik hatten sich die Veteranen des Ersten Weltkriegs in rechten Vereinigungen zusammengetan und die Demokratie geschwächt. Das war nach 1945 anders, auch dank Gehlen. Er ließ die Veteranenverbände unterwandern und radikale Vertreter ausschalten. Damit hielt er Adenauer bei den rund acht Millionen ehemaligen Soldaten den Rücken frei und stabilisierte die Republik.
SPIEGEL: Wie kam das?
Müller: Gehlen verstand sich als Sachwalter des Generalstabs der untergegangenen Wehrmacht. Er sammelte rund 60 ehemalige Generalstäbler und Hunderte Offiziere um sich. Pullach war insofern eine Art Parkplatz für die künftige Führungsspitze einer neuen Armee. Und da Gehlen Adenauers Kurs unterstützte, wo er konnte, half er bei Westintegration und Wiederbewaffnung.
SPIEGEL: Wofür wollen Sie Gehlen noch danken?
Müller: Er trug maßgeblich dazu bei, dass der Westen keinen Partisanenkrieg in der DDR anzettelte. In den USA gab es in den Fünfzigerjahren sehr euphorische Pläne für eine Politik der Befreiung des Ostblocks. Da war von Sabotage und Anschlägen die Rede. Gehlen glaubte jedoch, dass ein Partisanenkrieg nur zu enormen Verlusten unter der Zivilbevölkerung führen würde und ohne militärische Bedeutung wäre. Ein Aufstand ergab nach seiner Erfahrung nur Sinn, wenn die Befreiung unmittelbar bevorstand, etwa wie in Frankreich 1944, als die Résistance losschlug. Indem er den BND aus derartigen Unternehmen heraushielt, bremste er Washington und verhinderte Schlimmeres.
SPIEGEL: Wie viele Ostagenten Pullachs flogen in Gehlens Ära auf?
Müller: Einige Hundert. Manche bekamen hohe Gefängnisstrafen und wurden ausgetauscht. Einige Dutzend wurden auch hingerichtet. Elli Barczatis, die Sekretärin von DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl, ist so ein Beispiel. Sie wurde 1955 geköpft. Gehlens Frau hat übrigens darunter sehr gelitten, dass ihr Mann für den Tod dieser Leute mitverantwortlich war.
SPIEGEL: War Gehlen persönlich gefährdet?
Müller: Die Stasi bereitete offenbar 1955 einen Anschlag vor. Jedenfalls hat sie sein privates Umfeld observiert. Das haben die Russen dann wohl gestoppt. Adenauer war gerade in Moskau gewesen und hatte diplomatische Beziehungen aufgenommen, ein Anschlag hätte da nicht gut ausgesehen.
SPIEGEL: Der Geheimdienst hat Ihre Gehlen-Biografie mit knapp 100.000 Euro unterstützt. Sie mussten Ihr Manuskript vor Drucklegung vorlegen. Wie unabhängig sind Sie?
Müller: Völlig unabhängig. Der BND hat in keiner Weise inhaltlich eingegriffen.
SPIEGEL: Wie viele Passagen mussten Sie ändern?
Müller: Eine Handvoll. Da ging es aber ausschließlich um Quellenschutz.
SPIEGEL: Können wir das überprüfen?
Müller: Nein, da müssen Sie mir vertrauen.
SPIEGEL: Herr Professor Müller, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.