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Einsames Jahr

  • ️@derspiegel
  • ️Sun Apr 17 1988

In der Hauptstadt Pjöngjang errichtet Nordkorea Hotels, Stadien und Swimmingpools - Bauten für die Olympischen Sommerspiele 1988.

Entlang der entmilitarisierten Zone an der Grenze gräbt Nordkorea dagegen Tunnels - wofür? »Wenn die anstehenden Fragen nicht gelöst werden«, drohte in Pjöngjang die kommunistische Parteizeitung »Rodong Sinmun«, »werden wir keine andere Wahl haben als den Krieg.«

Nun sind Drohungen des kommunistischen Nordens gegen den kapitalistischen Süden nichts Ungewöhnliches im geteilten Korea. Diese Warnung aber nahm Südkorea nicht auf die leichte Schulter. Die Streitkräfte wurden in Alarmbereitschaft versetzt, die Sicherheitskontrollen in allen Häfen verschärft.

Regierungsbeamte in Seoul geben sich überzeugt, daß ihre Erzfeinde im Norden es auf eine Konfrontation angelegt haben: Die Führung in Pjöngjang sei mehr darauf aus, Spezialagenten und Saboteure für eine Störung der Olympischen Spiele auszubilden als Sportler für den Gewinn von Medaillen. »Terrorismus ist ihr Geschäft«, sagt ein Regierungsvertreter, »das haben sie mit dem Bombenanschlag auf den KAL-Flug 858 bewiesen.«

Obwohl vieles am Absturz dieser Maschine auf dem Flug von Bagdad nach Seoul im letzten November immer noch rätselhaft ist, markierte das Attentat doch einen Wendepunkt in der jüngsten Geschichte Koreas. Seitdem ist Seoul, das im September etwa 13 000 Sportler, Betreuer und Funktionäre sowie 200 000 Olympia-Gäste aus aller Welt erwartet, einer der neuralgischen Punkte auf der Erde geworden.

Dabei schien Gesamt-Korea noch vor wenigen Monaten einen stabilen Entspannungsprozeß anzusteuern. Delegationen der beiden gegnerischen Seiten waren mehrfach zu Gesprächen zusammengetroffen.

Erstmals seit dem Korea-Krieg 1950 bis 1953 hatten die USA, die in Südkorea 41 000 Soldaten stationiert haben und wie die meisten westlichen Länder keine Beziehungen zum Norden unterhalten, ihren Diplomaten die Erlaubnis erteilt, mit Vertretern Nordkoreas in Drittländern zu sprechen und gesellschaftlichen Umgang zu pflegen.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) suchte in Gesprächen mit der Süd-Hauptstadt Seoul und der Nord-Hauptstadt Pjöngjang nach einem Weg, einen Teil der Spiele in Nordkorea auszurichten.

All das änderte sich schlagartig, als am 29. November 1987 eine südkoreanische Verkehrsmaschine mit 115 Passagieren an Bord - die meisten südkoreanische Gastarbeiter, die aus dem Nahen Osten zurückkehrten - zwischen Abu Dhabi und Bangkok spurlos verschwand.

Eine geheimnisvolle Frau namens Kim Hyon Hui, die kurz darauf in Bahrein verhaftet und nach Seoul überstellt wurde, gestand, sie sei eine nordkoreanische Agentin. Sie habe vor Verlassen der Maschine in Abu Dhabi eine Bombe an Bord geschmuggelt - auf Weisung von Kim Jong Il, dem Sohn und Kronprinzen des bizarren nordkoreanischen Diktators Kim Il Sung.

Obwohl dieses Geständnis bisher das einzige Indiz für die Verwicklung Nordkoreas ist, beriefen sich die südkoreanischen Behörden nur zu gern darauf, um der Weltöffentlichkeit das verbrecherische Treiben Pjöngjangs zu beweisen.

Mit Erfolg: Washington hat Nordkorea auf die Liste der Länder gesetzt, die den Terrorismus unterstützen, Tokio brach alle offiziellen Beziehungen zu Pjöngjang ab.

So ist das abgeschiedene, kafkaeske Land, das von Kim Il Sung und Sohn regiert wird, wieder in die Ecke gedrängt, ein Paria der Weltpolitik. Die Aussichten auf ein Ende dieser Isolierung sind gering. »Nachdem sich jetzt alle Aufmerksamkeit auf Seoul und die Olympischen Spiele richtet«, so ein westlicher Diplomat, »dürfte es für Nordkorea ein sehr einsames Jahr werden.«

Dabei hatte Pjöngjang sich von Olympia eine Menge erhofft. Ursprünglich war der Norden gegen die Wahl Seouls

als Austragungsort für die Spiele gewesen - sie müßten von beiden Hauptstädten gemeinsam organisiert werden, forderte Pjöngjang. Dann lautete der Kompromißvorschlag: Seoul könne den größten Teil der 237 Wettbewerbe ausrichten; es ging nur noch darum, ob im Norden fünf oder acht Veranstaltungen stattfinden sollten.

Nun fing in der nordkoreanischen Metropole das große Bauen an. Tausende Studenten, Arbeiter und Soldaten wurden mobilisiert, um ein Fußballstadion, neun Sporthallen, zwei Brücken, einen neuen Flughafen und eine sechs Kilometer lange, 100 Meter breite Straße zu bauen. Fünf Hotels sollten entstehen, darunter das höchste der Welt: 105 Stockwerke, 3000 Zimmer und ein Bankettsaal für 2000 Gäste.

Noch gehen die Arbeiten am »Angol Sport Village« in Pjöngjang weiter, doch die Aussicht, daß in diesen Anlagen je Olympia-Sportler antreten, ist nahe Null. Alle sozialistischen Länder mit Ausnahme Kubas, Nicaraguas, Albaniens und Äthiopiens haben ihre Teilnahme an den Spielen in Seoul zugesagt. Damit verlor Pjöngjang das schärfste Mittel, Druck auszuüben - durch einen angedrohten Boykott der Ostblock-Staaten, die (außer Rumänien) auch schon die Spiele in Los Angeles durch ihr Fernbleiben entwertet hatten.

Auffällig ist: Das Timing der südkoreanischen Behörden mit dem mysteriösen Geständnis in der KAL-858-Affäre spielte bei der Isolierung Nordkoreas eine entscheidende Rolle.

Als die 26jährige Gefangene mit dem japanischen Paß am 15. Januar in Seoul vor die Fernsehkameras trat, um Nordkorea das Verbrechen anzulasten, war es für China und die UdSSR zu spät, für ihren ideologischen Verbündeten Pjöngjang noch Partei zu ergreifen: Moskau hatte vier Tage zuvor seine Teilnahme an den Spielen in Seoul telegraphisch zugesagt, Peking gar nur wenige Stunden zuvor.

Was immer die kommunistischen Länder von den Anschuldigungen gegen Nordkorea halten mochten - alle, von der Volksrepublik China bis zur Sowjet-Union, sind stärker an der Aufnahme von Beziehungen zu Südkorea interessiert als an einem herzlichen Einvernehmen mit dem exzentrischen Diktatoren-Clan im armseligen Norden.

Südkorea gilt angesichts seines ungeheuren wirtschaftlichen Erfolgs als eine Art Japan der Zukunft. Nordkorea dagegen ist mit seiner fast stagnierenden Wirtschaft ein Partner, der nicht bezahlen kann, was er kauft.

Kein Wunder, daß Pjöngjang die Solidarität der kommunistischen Welt verloren hat: Ungarn eröffnete ein Handelsbüro in Seoul, Vietnam lud eine südkoreanische Delegation nach Hanoi ein. China treibt schwunghaften Handel mit Seoul; das Volumen soll zwei Milliarden Dollar in diesem Jahr betragen.

Was mit Flug KAL 858 tatsächlich passierte, ist indes immer noch ein Geheimnis. Das Geständnis von Kim Hyon Hui hat ebenso viele Fragen aufgeworfen wie beantwortet: Wäre die junge Frau nicht erwischt worden und geständig gewesen, hätte das Unglück mühelos auf einen Triebwerkschaden zurückgeführt werden können. Oder waren Verhaftung und Geständnis Teil eines Plans?

Warum ging die Frau, nachdem sie in Abu Dhabi die Maschine verlassen hatte und nach Bahrein geflogen war, zwei Tage lang in ein Hotel, statt unterzutauchen? Warum schrieb sie einen Treueschwur an Kim Jong Il nieder?

Auch viele technische Fragen sind nicht vollständig beantwortet. Militärexperten wiesen darauf hin, daß die 350 Gramm C4 - flüssiger Sprengstoff, den die Frau im Gepäckabteil der Maschine über den Sitzen deponiert haben will - nicht ausreichen, das Flugzeug sofort in die Luft zu sprengen; dem Piloten wäre Zeit geblieben, einen Notruf abzusetzen. Es gab aber keinen Notruf. »Diese Menge«, so Kazuisa Ogawa, ein japanischer Sprengstoffexperte, »hätte höchstens ein Loch in den Rumpf der Maschine reißen können.«

Aber grundlegende Fakten in der von der Frau gegebenen Darstellung bleiben plausibel. Der Plan, ein südkoreanisches Flugzeug in die Luft zu sprengen, könnte durchaus in Nordkorea ausgeheckt worden sein - wie schon ein Terroranschlag auf den südkoreanischen Präsidentenpalast 1968 oder das Attentat auf eine südkoreanische Regierungsdelegation, die 1983 Rangun besuchte.

Solcher Aberwitz würde wohl auch Machthabern ins Kalkül passen, die selbst offenkundig unter schwersten inreren Spannungen stehen: In Militär und Partei regt sich Widerstand gegen die geplante Amtsübernahme durch den Erben Kim Jong Il.

Vor diesem Hintergrund eines brutalen Machtkampfs sind auch eine Reihe seltsamer Ereignisse in Nordkorea aus jüngerer Zeit zu sehen: die Falschmeldung von Kim Il Sungs Tod vor anderthalb Jahren zum Beispiel oder die immer noch ungeklärte Explosion eines Zugs mit sowjetischer Munition auf dem Weg nach Pjöngjang im Dezember. Die KAL-Affäre scheint sich in dieses Bild zu fügen - sie könnte ebenso von Kim Jong Il angezettelt worden sein wie von seinen Gegnern, die ihn in die Enge treiben und diskreditieren wollten.

Jedenfalls hat - fünf Monate nach dem Verschwinden der Maschine - Südkorea einen gewaltigen politischen und propagandistischen Gewinn aus der Affäre gezogen.

Es scheint schwer vorstellbar, daß Pjöngjang dem wachsenden Triumph des feindlichen Bruders, der im September seinen Höhepunkt erreichen dürfte, tatenlos zusehen wird. Nordkorea hätte genug Möglichkeiten, die Halbinsel zu destabilisieren und damit die Olympischen Spiele zu gefährden.

Mit seiner militärischen Überlegenheit kann Nordkorea den Süden jederzeit unter Druck setzen, auch wenn die Sorge, daß die Kommunisten einen direkten

militärischen Schlag planen, wenig realistisch scheint.

Regierungsbeamte in Seoul rechnen für die kommenden Monate eher mit terroristischen Angriffen. »Sie können ihre Leute aus tieffliegenden Flugzeugen absetzen«, sagt ein südkoreanischer Diplomat. »Ebenso können sie von Klein-U-Booten aus Agenten an Land bringen. Für derartige Aktionen stehen ihnen 8000 einsatzbereite Sabotage-Spezialisten zur Verfügung.«

Jüngste Absurdität im vorolympischen Nervenkrieg der beiden Koreas: Südkorea zieht in fieberhafter Eile einen mächtigen Staudamm am nördlichen Han-Fluß unmittelbar an der Grenze zu Nordkorea hoch. Er soll eine riesige »Wasserbombe« entschärfen, die Nordkorea angeblich auf seinem Territorium, 20 Kilometer flußaufwärts, vorbereitet.

Dort schütten Arbeiterkolonnen den Kumgangsan-Damm auf. Die gestauten Wassermassen des Han-Flusses könnten, mit Absicht oder durch Unfall plötzlich freigesetzt, binnen Stunden Südkoreas Hauptstadt Seoul erreichen und sie samt 15 Millionen Einwohnern hinwegschwemmen.

In einem Pamphlet »Wasserbombe über Seoul« verglich die Regierung die möglichen Folgen einer solchen Katastrophe mit der Explosion einer Wasserstoffbombe und sammelte Geld für den »Friedensdamm«, der die Gefahr bannen soll. Über 80 Millionen Mark kamen zusammen. Bis zum Beginn der Olympischen Spiele soll ein vorläufiger Wall fertig sein, der die bis dahin gestaute Wassermenge im Norden auffangen könnte. »Unsere Priorität ist der Schutz der Spiele, und dies werden wir mit der rechtzeitigen Beendigung der ersten Ausbauphase erreicht haben«, versicherte Chefingenieur Lee Hee Sung.

Danach soll der Damm in Etappen, die dem jeweiligen Baufortschritt im Norden entsprechen, weiter erhöht werden - bis zu einer Endstufe von mehr als 200 Meter Höhe, doppelt so hoch wie der Assuan-Damm am Nil.