Der Hertz-Krampf
- ️@derspiegel
- ️Tue Oct 06 1953
Für den 7. Oktober hat sich im Bonner Wirtschaftsministerium eine Gruppe energiegeladener Herren angemeldet. Unter Vorsitz des Ministerialdirektors Dr. Rust werden sie sich einen Tag lang darum streiten, woher die auf den künftig elektrisch betriebenen Strecken der Bundesbahn fahrenden Lokomotiven ihren Strom beziehen sollen: nur aus der Steckdose der allgemeinen Überlandleitungen oder aus extra zu errichtenden Kraftstationen der Bundesbahn. Von dieser Frage hängt es gleichzeitig ab, ob die im Ruhrgebiet begonnene Elektrifizierung ein Millionen-Verlustgeschäft für den westdeutschen Steuerzahler wird oder nicht.
Die Steinkohlen-Elektrizitäts-AG. Essen war es nun, die den Antrag auf Einberufung des Bonner Energieausschusses stellte, von dessen Fachleuten sich Wirtschaftsminister Erhard beraten läßt. Am 7. Oktober wollen die im großen Verbundsystem der Kraftwerke zusammengeschlossenen Elt-Männer in Bonn noch einmal alles daran setzen, daß die Milliarden-Umsätze für die künftige Strombelieferung der Bundesbahn durch ihre Kassen gehen.
Über die Notwendigkeit, den Großteil des Zugverkehrs auf elektrischen Betrieb umzustellen, wird auch unter den Mitgliedern des Energie-Ausschusses längst nicht mehr diskutiert:
* Eine Million Bahn-Kilometer kosten mit Dampf 2 140 000 Mark, mit Strom nur 1 640 000;
* der elektrische Bahnbetrieb braucht dreißig Prozent weniger Personal;
* statt der rund neun Millionen Tonnen Steinkohle jährlich brauchte die Bundesbahn bei elektrischem Betrieb nur drei Millionen.
Besonders im Ruhrgebiet, wo zwischen Hamm und Düsseldorf täglich zwanzigtausend Zugabfahrten registriert werden, kann der wachsende Verkehr nur durch Lokomotiven mit modernster Beschleunigungskraft bewältigt werden. Die Elektrolokomotive ist dafür wie geschaffen. Sie reißt einen ganzen Zug in dreißig Sekunden auf 75 Kilometer je Stunde. Das feuerspeiende alte Dampfroß bringt es in der gleichen Zeit nur auf 22.
Als die Düsseldorfer Landesregierung vergangenes Jahr für den ersten Elektrifizierungsabschnitt Hamm-Düsseldorf 90 Millionen Mark zur Verfügung stellte, brach jener Kampf um das System der Stromversorgung aus, der Bundesbahn und Elektrizitätswirtschaft in zwei feindliche Bastionen verwandelte.
Die Baufrist für die Elektrifizierung dieser ersten Strecke hat bereits am 1. Mai 1953 begonnen. Bis heute jedoch ist das technische Kernproblem, ob nämlich die künftigen Lokomotiven elektrischen Strom zu 50 Hertz*) aus den allgemeinen Überlandleitungen der Elt-Werke tanken oder diesen Strom auf der Basis 16 2/3-Hertz-Spannung aus neu zu errichtenden Kraftstationen und Umformern beziehen sollen, noch nicht entschieden.
An dieser Frage aber hängt es, wer in der elektrifizierten Zukunft der Bundesbahn
*) Die Bezeichnung Hertz ist eine Meßzahl in der Elektrotechnik, die beim Wechselstrom die Schwingungen der elektrischen Spannung zwischen Plus und Minus erfaßt. Eine Schwingung pro Sekunde = 1 Hertz. das große Geschäft der Strombelieferung machen wird.
Nordrhein-Westfalens Landesregierung und die Techniker der Bundesbahn plädieren für ihr altes 16 2/3-System, nach dem in Süddeutschland bereits seit vierzig Jahren die Elloks gefahren werden. Als Sprecher dieser Richtung schickten sie in der Vergangenheit immer wieder den Ministerialdirektor Dr. Leo Brandt vom Düsseldorfer Wirtschaftsministerium vor, der auch als Professor der Technischen Hochschule Aachen in seinen Vorlesungen für das 16 2/3-System plädierte.
Seine Todfeinde aber sammelten sich im Hauptquartier der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitäts-Werk AG., Essen, in der seit 1898 Kraftwerke des Rhein-Ruhrgebietes zu einer großen Verbundgemeinschaft zusammengeschlossen sind.
Diese Elt-Männer streiten unter der Devise, daß es ein Wahnsinn sei, zugunsten der nur fünf Prozent bisher in Deutschland unter dem 16 2/3-System elektrifizierten Strecken bei der künftigen Groß-Elektrifizierung auf die Vorzüge zu verzichten, die eine direkte Versorgung aus dem 50-Hertz-Netz der bereits komplett dastehenden Überlandwerke und -leitungen biete.
Ihr Hauptargument in der sich entwickelnden Denkschriften-Schlacht war: Bei der Stromentnahme aus dem Überlandnetz wird der Strom um dreißig Prozent billiger, denn es brauchen keine getrennten Überlandleitungen und keine Extra-Kraftwerke für die Bahn gebaut zu werden.
In einem Dutzend technischer Gutachten bewiesen sich die Gegner in den vergangenen Monaten wissenschaftlich haargenau, daß ihre Argumente und Lokomotiven hervorragend, die gegnerischen aber minderer Güte seien. Es hagelte Kostenaufstellungen, die einander Lügen straften. Die westdeutschen Lokomotivbauer von
der AEG, Siemens, und Brown, Boveri & Cie. schwiegen dazu. Ihnen ist es gleichgültig, welche Typen sie verkaufen.
Um Klarheit über das technische Problem zu schaffen, wurde schließlich eine »Studiengesellschaft für die Elektrifizierung des Rhein-Ruhr-Eisenbahnverkehrs« beauftragt, eine genaue Untersuchung durchzuführen. Bis heute aber ist das erstellte Ergebnis noch nicht offiziell veröffentlicht.
Die Eltwerk-Männer geben an, den Grund dafür zu kennen. Im Text des nur unter der Hand herumgehenden Gutachtens heißt es nämlich: »Gerade im Rhein-Ruhrgebiet erscheint die Schaffung eines 16 2/3-Hochspannungsnetzes um so weniger am Platz, da die Bahnlinien fast parallel zu den bereits vorhandenen 50-Hertz-Leitungen verlaufen.«
Weiter enthält das unveröffentlichte Gutachten einen Satz, der die bis dahin technische Debatte in die Hohe Politik verschob: »Im Hinblick auf die volkswirtschaftlichen Vorzüge sowie auch mit Rücksicht auf die politische Entwicklung muß die 50-Hertz-Lösung als die beste europäische Einzellösung angesehen werden, denn auch Frankreich geht auf das 50-Hertz-System über.«
Nur an diesem Punkt kam die sonst unterirdische Debatte einmal an die Öffentlichkeit. In einem Offenen Brief an den Professor Dr. Brandt vom kreditgebenden Ministerium Nordrhein-Westfalens warfen ihm seine Gegner vor, er weigere sich nur deshalb gegen die Anwendung des neuen 50er-Systems, weil er als Sozialdemokrat die europäische Integrationspolitik zumindest auf dem Bahnsektor torpedieren wolle.
So wurden über der Politik die sachlichen Hintergründe der allmählich zu einer Prestigefrage gewordenen Auseinandersetzung immer mehr verdeckt. In Wirklichkeit geht es neben der Frage nach der besser geeigneten Lokomotive auch um den Strompreis, den die Bahn in Zukunft für ein elektrifiziertes Schienennetz bezahlen muß. Fachleute vermuten, daß die Bundesbahn sich mit dem Versteifen auf das 16 2/3-System in ihrer Stromversorgung unabhängiger machen und die Möglichkeit schaffen will, auf einem freieren Energiemarkt einzukaufen.
Sei es, daß sie (wie für die elektrifizierten Strecken in Süddeutschland) eigene Kraftwerke baut oder daß sie künftig auch von solchen Außenseitern unter den Elt-Betrieben und Zechenkraftwerken Strom bezieht, die für die Erzeugung von 16 2/3-Strom besondere Turbinen oder Umformer aufstellen könnten. Die Bahn hätte dann neben dem Verbundsystem der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitäts-Werke noch andere Lieferanten und könnte sich die niedrigsten Preise auswählen.
Die Verträge aller in der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitäts-Werk AG. zusammengeschlossenen Kraftstationen, der Zechen, Hütten und kommunalen Elt-Werke sind nur auf der 50-Hertz-Basis unterzeichnet. Käme für Westdeutschlands Eisenbahn das bisher in Süddeutschland angewandte System weiter zum Zuge, dann stünde es also allen Kraftwerken frei, auch 16 2/3-Turbinen aufzustellen und unabhängig vom RWE die Bundesbahn zu beliefern. Damit, so behaupten die Anhänger des 16 2/3-Systems, wäre die kartellähnliche RWE-Preisfront dann durchbrochen.
Der Hertz-Krampf um die Bundesbahn steht jetzt vor seinem Höhepunkt. Denn allmählich wird für die endgültige Auftragsvergebung die Entscheidung über den zu bauenden Lokomotivtyp fällig.