Tod in Rathenow
- ️@derspiegel
- ️Sun Jun 15 2003
An den berühmten Tag im Juni mag sich in Rathenow niemand gern erinnern. Ein Aufruf der »Märkischen Allgemeinen«, aus persönlicher Erinnerung über den Aufstand in der Havel-Stadt zu berichten, blieb ohne Echo. Eine offizielle Feier aus Anlass des 50. Jahrestags der DDR-weiten Erhebung ist, anders als in Hunderten ostdeutscher Kommunen, nicht vorgesehen.
Denn dann müsste man über Wilhelm Hagedorn sprechen und über das, was am 17. Juni 1953 mit ihm geschah: Der SED-Mann wurde von einer aufgebrachten Menge gelyncht.
In vielen Orten Ostdeutschlands entlud sich an jenem Tag der Hass gegen die Repräsentanten des Regimes. Aber nur in Rathenow riss die dünne Haut der Zivilisation, und es erlosch jenes Minimum an Empathie, dass Menschen davon abhält, einen wehrlosen Artgenossen zu töten.
Was genau geschah, ist öffentlich nie richtig geklärt worden. Jetzt liegen die Stasi-Unterlagen gesammelt in der Birthler-Behörde, und danach kann es keinen Zweifel geben: Die Lynchjustiz von Rathenow ist der gern vergessene Tiefpunkt des sonst so gerühmten Aufstandes gegen die SED-Obrigkeit.
In dem schwer zerbombten ehemaligen Garnisonsstädtchen begann die Rebellion so wie an vielen anderen Orten auch. Die Beschäftigten der Rathenower Optischen Werke formierten sich morgens zur Demonstration. Tausende schlossen sich an.
Lynchstimmung kam erst auf, als die Hauptkundgebung bereits vorüber war. »Zum HO-Kaufhaus und Hagedorn rausholen«, rief jemand, und einige hundert stürzten los.
In Rathenow war Wilhelm Hagedorn, der 58-jährige Betriebsschutzleiter des HO-Geschäfts, das verhasste Gesicht des Regimes. Gleich nach dem Krieg hatte der gelernte Maler, Kommunist ab 1920, bei der politischen Abteilung der Volkspolizei angeheuert, zuständig für Entnazifizierung. Offenbar nutzte der einfach gestrickte Mann seine Macht, um Missliebige zu verfolgen.
»Das war ein stadtbekannter Spitzel, der etliche Leute an die Russen ausgeliefert hat«, sagt Zeitzeuge Klaus Müller, 66, heute Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung. Den Mord rechtfertigen will der Sozialdemokrat keinesfalls.
Ein Kollege warnte Hagedorn noch vor dem anrückenden Mob. Der Ex-Vopo griff sich einen Gummiknüppel, dann flüchtete er mit seiner Frau Helene durch einen Seitenausgang. »Wir waren kaum 20 Meter gegangen, als ich die Meute brüllen hörte: 'Da rennt er ja, haltet ihn fest'«, gab Helene Hagedorn der Stasi zu Protokoll.
Wer zuerst hinlangte, wird wohl nie zu klären sein. »Da wollte offenbar jeder mal zuhauen«, erinnert sich Klaus Dühring, 63, der damals als Schüler Augenzeuge war und zu den wenigen zählt, die heute über das Geschehen sprechen.
Ein unheilvolles Gebräu aus Hass, Voyeurismus und Massenpsychose stieg in der Menge hoch, und der Ruf wurde immer lauter: »Hängt Hagedorn auf!«
Immerhin zogen ein paar Wohlmeinende den Malträtierten in eine Molkerei, aber zwei junge Männer brachen die Tür auf: »Sein Gesicht war mit Blut beschmiert, und er machte einen hilflosen Eindruck«, sagte einer von ihnen später laut Stasi-Akten. Dennoch zerrten er und ein Freund Hagedorn ins Freie und übergaben ihn der entfesselten Menge: »Hier habt ihr ihn.«
Hunderte Menschen waren dabei, als der blutüberströmte Hagedorn sich in einen Krankenwagen retten wollte. Einige hoben das Auto an einer Seite an und rissen ihr Opfer wieder heraus. Zwei packten den Mann an den Armen und schleppten ihn in Richtung Schleusenkanal: »Ertränkt das Schwein!« Und immer wieder schrie eine Frau: »Er hat auch meinen Mann abgeholt!«
Nahe dem Kanalhafen brach Hagedorn mit gebrochenen Rippen und Schädelverletzungen zusammen. Er wurde zum Kai geschleift: »Ich zähle bis drei, fälle dein Urteil selbst«, brüllte einer. »Ich hoffte im Stillen, dass Hagedorn nicht schwimmen könne«, notierten die Stasi-Ermittler seine Aussage. Hagedorn ließ sich schließlich ins Wasser fallen.
Da der Gepeinigte nicht unterging, ruderten seine Verfolger hinterher. Als der Schwimmer sich verzweifelt an die Reling klammerte, droschen sie auf seine Finger, bis er losließ. Dennoch erreichte er das andere Ufer, wo ihn eine Streife der Volkspolizei schließlich barg. »Russenknechte, Russenknechte«, johlte die Menge. Hagedorn starb Stunden danach im Krankenhaus.
Zwei Männer, die ihn besonders gequält hatten, waren schnell ermittelt: beide Arbeiter und FDJ-Mitglieder, deren »Reife an der untersten Grenze des Durchschnitts« lag, wie ein Sachverständiger gutachtete. Ein Motiv für ihr Verhalten war nicht erkennbar.
Ein anderer Rathenower sagte gestelzt und offenkundig vorformuliert aus: »Ich war durch die Menschenmassen aufgewiegelt und meiner Stärke bewusst, um jetzt diesen Menschen Hagedorn zu schlagen.«
Das wenige Tage nach der Tat tagende Gericht sah indes das Verbrechen gemäß der SED-Propaganda als Teil einer großen Verschwörung »faschistischer Elemente«, die »einen neuen Weltkrieg vom Zaun brechen wollten«.
Die beiden Hauptangeklagten wurden zunächst zum Tode verurteilt, ihre Strafe dann in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Drei weitere Beteiligte erhielten Haftstrafen von bis zu acht Jahren.
Die SED ehrte Hagedorn mit einem offiziellen Trauerakt. Der Oberbürgermeister von Ost-Berlin, Friedrich Ebert, kam eigens angereist, und eine Schalmeienkapelle intonierte das Kampflied »Unsterbliche Opfer«. Auf dem Grabstein stand: »Menschen, ich hatte Euch lieb - seid wachsam!«
Aus Rathenow, erinnert sich Ratsherr Müller, nahm an der Feier »kaum jemand teil«. HANS-ULRICH STOLDT, KLAUS WIEGREFE