Das Phantom von Dimona
- ️@derspiegel
- ️Sun Jan 25 2004
Die »Scheersberg« taucht Ende 1968 in der Südtürkei wieder auf, von der Besatzung fehlt jede Spur. Im Logbuch gibt es für die Reise ab Antwerpen keine Aufzeichnungen. Uran-Käufer Schulzen erklärt, er habe das Geschäft nur im Auftrag ausgeführt, für einen ihm unbekannten Kunden. Er fühle sich »von Geheimdiensten benutzt«. War dabei der Mossad allein am Werk? Oder haben CIA und BND womöglich an der Seite Israels aktiv daran mitgewirkt, den Weg des Judenstaats zur Atommacht zu erleichtern?
Eitan hat solche Hilfe in den wenigen Fällen, als er - nach seinem Rückzug aus dem aktiven Spionagegeschäft - mit Journalisten sprach, vehement verneint. Tatsächlich hat die CIA Jahre gebraucht, um das israelische Atomprogramm zu enttarnen. Als John F. Kennedy Ende 1960 von dem wahren Zweck der »Textilfabrik« von Dimona erfuhr, zeigte er sich äußerst besorgt. Zu Beginn seiner Regierungszeit war JFK Israel zugeneigt wie kaum ein US-Präsident zuvor - »schließlich wurde ich von New Yorker Juden ins Amt gewählt, ich muss was für sie tun«, sagte er Freunden -, doch noch stärker war seine Angst vor der Verbreitung von Nuklearwaffen.
Kennedy verlangte von Ben-Gurion ultimativ, Dimona von Spezialisten kontrollieren zu lassen. Der sperrte sich, erkannte jedoch, dass sich Inspektionen nicht mehr vermeiden ließen. Dem israelischen Geheimdienst gelang es, die US-Wissenschaftler bei ihren - angemeldeten - Besuchen an der Nase herumzuführen.
1967 hat Israel seine erste, primitive Atombombe zusammengebaut, was nicht einmal den Amerikanern verborgen bleibt. Bei Nachfragen speisen die Israelis das Weiße Haus mit einer bewusst schwammig gehaltenen Standardformel ab, die der diplomatische Schimon Peres öfter anwendet und die bis heute Ausdruck der offiziellen Politik ist: »Wir werden nicht die Ersten sein, die im Nahen Osten Atomwaffen einführen.«
Die militärische Lage nach dem Überraschungsangriff der Ägypter und Syrer während des Jom-Kippur-Feiertags 1973 ist so verzweifelt, dass Ministerpräsidentin Golda Meïr - wie man heute aus Geheimdienstberichten weiß - ihrem Verteidigungsminister Mosche Dajan den Befehl erteilt, 13 Bomben gefechtsbereit zu machen. Die Nuklearwaffen werden zu Luftwaffeneinheiten transportiert. Für einige Tage um den 9. Oktober herum steht die Welt am Rande eines Atomkriegs.
Aber noch bevor die Waffen scharf gemacht werden, wendet sich das Blatt, Israels konventionelle Streitkräfte gewinnen die Oberhand. Die 13 Bomben wandern zurück in ihre unterirdischen Wüstenbunker.
Nichts befürchten Israels Politiker mehr, als dass ein feindliches arabisches Land nukleares Vernichtungspotenzial in die Hände bekommen könnte. Mit größter Besorgnis beobachtet Jerusalem seit den siebziger Jahren vor allem die rapiden atomaren Fortschritte des Irak. Saddam Hussein hat in Tuweitha südlich von Bagdad mit Hilfe Frankreichs einen höchst verdächtigen Kernreaktor erbaut. Israels Premier Menachem Begin sieht nur eine Chance, Saddam zu stoppen: Er befiehlt die Ausschaltung der »Osirak«-Anlage.
In den frühen Morgenstunden des 7. Juni 1981 schickt Begin acht F-16-Kampfbomber mit Tausend-Kilo-Bomben los, begleitet von sechs F-15-Abfangjägern. Sie legen den Reaktor, 900 Kilometer von der israelischen Grenze entfernt, in Schutt und Asche. Bevor die Iraker realisiert haben, was da passiert ist, sind die Flugzeuge unbehelligt in ihre Basis nahe Eilat zurückgekehrt.
Es ist ein Triumph des Mossad, der die Pläne für die tollkühne Aktion ausgeheckt hat - und eine Niederlage für Peres. Der vorsichtige Politiker, damals in der Opposition, war als einer der wenigen Politiker in den Plan eingeweiht worden und hatte wegen zu großer Risiken für Leib und Leben der Piloten wie für die künftigen Beziehungen zu den arabischen Staaten vehement abgeraten. Aber nach einem kurzen Sturm der Entrüstung, in den auch die USA ("Verletzung des Völkerrechts") einstimmen, legt sich die Empörung.
Israel gewöhnt sich an seine im Nahen Osten einmalige »Bombe im Keller«, spielt immer selbstbewusster seine Rolle als David mit einer atomar bestückten Schleuder - allen voran der scharfmacherische Verteidigungsminister (und heutige Premier) Ariel Scharon. Er schlägt nach Erkenntnissen des Politikwissenschaftlers Yoel Cohen zu Beginn des Libanon-Feldzugs 1982 im Kabinett allen Ernstes einen Atomschlag gegen Syrien vor, weil die Syrer angeblich drauf und dran seien, die Golanhöhen anzugreifen.
Und doch glauben manche in Jerusalem, dass die Fähigkeit zum nuklearen Erstschlag von den Feinden Israels nicht ernst genug genommen würde. Wie lässt sich die Erkenntnis über Israels Arsenal verbreiten, ohne die eigene Politik der Verheimlichung aufzugeben?
Es beginnt die mysteriöseste Affäre in der Geschichte des mysteriösen israelischen Atomwaffenprogramms. Sie verbindet sich mit einem marokkanisch-jüdischen Namen: Mordechai Vanunu.
Seine Eltern, er Lebensmittelhändler, sie Schneiderin, führen in Marrakesch das Leben einer Mittelklassefamilie. Mordechai ist eines von sechs Kindern; er wächst wie die anderen dreisprachig auf, wobei er Arabisch und Französisch besser beherrscht als Hebräisch. Von Kreditzusagen der »Jewish Agency« lassen sich die sephardischen Juden 1963 ins Heilige Land locken - und finden, nach der Zuteilung eines bescheidenen Hauses in der Wüstenstadt Beerscheba, das Leben eher härter als in der alten Heimat. Der neunjährige Mordechai besucht bis zum Abitur nur streng orthodoxe Schulen.
Er bewährt sich beim Militärdienst als »sehr guter Unteroffizier« (Armeezeugnis), schafft aber weder die Piloten-Examina noch die Eingangsprüfung für den Inlandsgeheimdienst Schin Bet. Er schreibt sich in Tel Aviv im Studienfach Physik ein, bricht nach einem Jahr ab. Wie viele der orientalischen Juden tendiert er politisch stark nach rechts.
Mordechai Vanunu will schnell Geld verdienen und bewirbt sich im »Nuklearforschungszentrum« Dimona. Dort besteht er 1977 einen Intensivkurs in Physik, Chemie, Mathematik und Englisch - und die Sicherheitsprüfung. Er bekommt den Dienstausweis mit der Nummer 320, der ihn zum Betreten von »Machon 2« berechtigt. Dieser achtstöckige, weitgehend unterirdische Gebäudekomplex, so erfahren die Neueingestellten jetzt, dient als Anlage zur Plutoniumgewinnung. Alle müssen eine Geheimhaltungserklärung unterschreiben.
Vanunu wird Kontrolleur der Nachtschicht, eine Aufgabe, bei der er sämtliche Abteilungen von Machon 2 durchläuft. Über neun Jahre macht er, ebenso zuverlässig wie unauffällig, den stumpfsinnigen Routinejob. Zwischenzeitlich schreibt er sich an der Universität von Beerscheba für Philosophiekurse ein, Spezialität Nietzsche. Und wechselt dabei die politischen Lager. Scharons Libanon-Krieg 1982 und Israels harte Besatzungspolitik im Westjordanland treiben ihn zu den extremen Linken. Vanunu gibt der Studentenzeitung aufrührerische Interviews, nimmt an Kursen der israelischen Kommunisten teil - schwer vorstellbar, dass dem allgegenwärtigen Inlandsgeheimdienst dies alles entgangen sein soll.
Im Dezember 1985 werden in Dimona »aus wirtschaftlichen Gründen«, wie es heißt, 180 Arbeiter entlassen. Vanunu gehört zu ihnen - und tritt, noch bevor er seine Papiere abholt, in die KP ein ("Beruf: Student"). Doch der Einzelgänger findet in der Partei keine Freunde, eine Liebesbeziehung zu einer Hebamme scheitert. Vanunu beschließt, eine Weltreise zu machen, Richtung Fernost. Er nimmt auch seine Kamera mit. Ferner im Gepäck: belichtete Filme mit brisanten Bildern, die der Atomwächter - angeblich unbemerkt - in der hoch geheimen Anlage gemacht hat.
Über Athen, Moskau, Bangkok und Katmandu kommt er nach Sydney. Dort schlägt er sich als Taxifahrer durch, freundet sich in der Anglikanischen Kirche St. John mit dem Pfarrer an. Er tritt zum Christentum über. Die pazifistischen Bibelstunden bestärken Vanunu in seiner Ablehnung des israelischen Atomprogramms. »Es ist unmoralisch«, sagt er - und zeigt einigen seiner neuen Brüder Bilder von Dimona. Schnell taucht ein Journalist auf, der ihn zum Enthüllungscoup überredet und den Kontakt zur Londoner »Sunday Times« herstellt. Vanunu wird von dem Blatt in die britische Hauptstadt geflogen.
Die Geschichte, die am 5. Oktober 1986 erscheint, wird zur Weltsensation. Die Politiker mögen sich um eine Bestätigung drücken, die offensichtlich authentischen Bilder und Berichte belegen: Israel besitzt etwa 100 bis 200 Atombomben.
Die israelische Regierung (nun unter Führung von Premier Peres) beschließt bereits vor dem Erscheinen seiner Enthüllungen, Vanunu aus dem Verkehr zu ziehen - mit einer Honigfalle. Eine hübsche blonde Dame macht sich im Auftrag des Mossad in London an ihn heran, lockt ihn zu einem gemeinsamen Urlaub auf eine British-Airways-Maschine nach Rom. Dort verschwindet Vanunu. 40 Tage später bekennt sich die israelische Regierung dazu, den »Verräter« in Gewahrsam zu haben. Gerüchteweise heißt es, er sei in Rom unter Drogen gesetzt und in einem Schiff verschleppt worden. Ein Gericht in Jerusalem verurteilt Vanunu in nichtöffentlicher Verhandlung zu 18 Jahren Gefängnis. Die meiste Zeit muss er in Isolationshaft verbringen.
Bis heute gibt das totale Versagen der Dimona-Überwachungsbehörden Rätsel auf. Oder hat Israels Geheimdienst den Atomwächter Vanunu selbst an der langen Leine geführt? »Die glaubwürdigste Erklärung lautet, dass der Mossad dem Wissenschaftler Vanunu auf die Schliche kam und beschloss, ihm Gelegenheit zu geben, seine brisanten Entdeckungen weiterzuerzählen«, meint der britische Nuklearexperte Frank Barnaby.
Die drei von der atomaren Tankstelle - Schimon der Friedensbewegte, Rafi der Skrupellose und Mordechai der Zweifler - blicken in diesen Tagen in eine zutiefst unterschiedliche Zukunft.
Schimon Peres spricht inzwischen erstaunlich offen über die nukleare Option Israels: »Wir haben uns besondere waffentechnische Möglichkeiten nicht angeeignet, um Hiroschima zu wiederholen, sondern um so etwas wie (den Friedensprozess von) Oslo durchzusetzen.« Auch mit jetzt 80 Jahren hat der allseits Einsetzbare die Hoffnung auf ein hohes Staatsamt nicht aufgegeben - doch Konjunktur haben in Israel auf absehbare Zeit eher die Hardliner.
Rafi Eitan hat sich längst verbittert ins Privatleben zurückgezogen, sich als Geschäftsmann versucht. Mal arbeitete er als Makler im Westjordanland, mal als Zierfischhändler mit Büro in Kuba (wobei er mehrfach Fidel Castro traf). Eitan hat es nicht zum Mossad-Chef gebracht und gilt seit seiner eigenmächtigen Rekrutierung des Wissenschaftlers Jonathan Pollard, der für Israel die USA ausspionierte, in Amerika als Persona non grata.
Man solle PLO-Chef Arafat wie einst Eichmann in Israel den Prozess als Kriegsverbrecher machen, schlug Scharon-Freund Eitan kürzlich im israelischen Radio vor. Auf den Websites durchgeknallter Verschwörungstheoretiker wird Eitan neuerdings als der Mann gehandelt, der hinter dem Terror vom 11. September 2001 in New York stand - und im Auftrag des Mossad eine ähnlich monströse, neue Tat plant.
Mordechai Vanunu soll am 21. April aus dem Gefängnis von Aschkelon entlassen werden. Ein amerikanisches Ehepaar, das ihn adoptiert hat, und ein befreundeter Anglikaner-Priester planen in den USA, wohin der Häftling auswandern will, eine große Party. Fans nominierten ihn für den Friedensnobelpreis.
Noch ist völlig unsicher, ob es zur Freilassung kommt. Das Verteidigungsministerium will Vanunu nach einem sonst nur bei palästinensischen Terrorverdächtigen angewendeten Gesetz weiterhin hinter Gittern halten. Oder ihn allenfalls gegen die Zusicherung laufen lassen, dass er über seine Erfahrungen in Dimona und seine Entführung schweigt.
»Ich glaube an die Redefreiheit, sie ist das höchste demokratische Gut«, hat der »Verräter« seinen Adoptiveltern gesagt.
* Avner Cohen: »Israel and the Bomb«. Columbia UniversityPress, New York; 478 Seiten; 14,70 Dollar. Yoel Cohen: »DieVanunu-Affäre. Israels geheimes Atompotential«. Palmyra Verlag,Heidelberg; 440 Seiten; 12 Euro.