spiegel.de

»Holocaust": Die Vergangenheit kommt zurück

  • ️@derspiegel
  • ️Sun Jan 28 1979

Oder war am Ende doch »die Summe des Wahren an »Holocaust« größer als alle Verfälschungen« ("Die Zeit"), groß genug gar, um »tiefsitzende Traumata freizuschaufeln« ("Frankfurter Rundschau")?

Daß »Holocaust« je eine solch weltweite Grundsatzdebatte aufwerfen würde, hatten sich seine Hersteller wohl nicht träumen lassen. Ihnen ging es eigentlich nur um einen lukrativen Verkaufsartikel.

Anfang 1977, als der Kommerz-Sender ABC mit seinem pseudohistorischen Sklaven-Epos »Roots« gerade alle Zuschauerrekorde gebrochen hatte, fahndete die in der Publikumsgunst abgeschlaffte NBC nach einem Stoff von ähnlicher Sprengkraft. Die Wahl fiel auf »Holocaust«.

Der Romanautor Gerald Green verknappte die maßlose Tragödie zu einem überschaubaren Familiendrama. Marvin Chomsky, als Regisseur von »Roots« und dem Kino-Reißer »Unternehmen Entebbe« einschlägig ausgewiesen, übernahm die Regie.

In 18 Wochen zwischen Juli und November 1977 ließ die TV-Gesellschaft den Vielstünder von 150 Schauspielern und 1000 Komparsen auf 150 Kilometer Film bannen. Da in der DDR und Polen gar nicht erst gefilmt werden sollte und Ungarn wie Tschechoslowaken die Drehgenehmigung wegen »zionistischer Elemente« des Buches verweigerten, entstand der größte Teil der Serie unter Deutschlands und Österreichs freiem Himmel.

Straßenzüge in Berlin-Wedding wurden als Warschauer Getto hergerichtet, die KZ-Szenen von Auschwitz und Buchenwald im österreichischen Lager Mauthausen gestellt.

Kaum waren die Dreharbeiten beendet, ließ man Fatales durchsickern: Ein Berliner habe die Crew mit Bierflaschen beworfen, ein schreiender Greis die Mimen verstört: »ich habe euch Juden schon einmal getötet, ich werde euch noch einmal töten.« Aufnahmegeräte seien mit Hakenkreuzen bepinselt worden, belichtete Filmrollen spurlos verschwunden.

Michael Moriarty, als Erik Dorf der Negativ-Held der Serie, klappte zusammen, als er mit seiner Filmfamilie »Stille Nacht, heilige Nacht« singen mußte: »Wie konnten die so was tun!« Den Engländer Cyril Shaps (Häftling Weinberg) verließen die Kräfte, als er in KZ-Kluft durch Mauthausen torkelte: »Ich glaube, ich kann nicht weitermachen.« Der katholisch erzogene Fritz Weaver, als jüdischer Arzt Weiss die Zentralfigur, fühlte sich nach dem Film »wie ausgewechselt": »Ich wurde ein Jude. Ich denke nur wie ein Jude.«

Der Einstimmung folgte die Aufklärung. Religiöse und weltliche Organisationen verteilten 50 verschiedene Expertisen in über einer Million Exemplaren. Eine jüdische Liga ließ eine Sonderschrift in zehn Millionen Zeitungen beilegen. NBC schleuste einen speziellen »Viewers Guide« in zwei Millionen Schulen und Haushalte.

In der Zuschauergunst allerdings konnte »Holocaust« das Konkurrenz-Produkt »Roots« nicht entthronen: Trotz 120 Millionen Zuschauern - Jahresrekord - mußte sich das Großunternehmen unter den erfolgreichsten TV-Produkten aller Zeiten mit Platz 49 begnügen - nach Spitzenreiter »Roots« und weit hinter Bob Hopes »Christmas Show« von 1970.

Im publizistischen Echo indes übertönte »Holocaust« alles Dagewesene. Zufällig Zeuge dieses Spektakels wurden damals, im April 1978, die SPD-Politiker Georg Leber, Dietrich Stobbe und Horst Ehmke. Heimgekehrt, lobte vor allem Leber das Streitobjekt als »bemerkenswert objektiv«, von »beklemmender Wirkung« und ohne Deutschen-Haß. Der SPD-Parteivorstand beauftragte alle sozialdemokratischen Funkaufseher, sich bei den Sendern für den Ankauf stark zu machen.

Als der WDR sich kurz darauf die Senderechte für 1,2 Millionen Mark sicherte, witterte »Die Welt« ein rotes Zusammenspiel und zieh die Genossen, »auf unzulässige Weise in die Programmgestaltung eingegriffen« zu haben. Doch die Kölner hatten, allem Verdacht zum Trotz, schneller geschaltet, als die Politiker dachten.

Kaum war der Film im Land, kam der WDR unter Beschuß. Münchens konservativer TV-Direktor Oeller drohte, der BR werde sich bei einer Übernahme des »Verkaufsartikels« ins Gemeinschaftsprogramm aus der Senderkette ausklinken. Deutsche Diplomaten fühlten diskret vor, ob das schlimme Lichtspiel denn unbedingt an die Öffentlichkeit müsse.

Um so schriller stritt die ARD. Ihre Serien-Kommission mokierte sich über die »indiskutable Qualität«, die Programmdirektoren schoben das unangenehme Thema unwillig vor sich her.

Aufgeschreckt von dem politischen Wirbel, verlangten nun die Intendanten das letzte Wort. Aber sie kamen gleichfalls nicht klar und gaben die Entscheidungsnot an die Programmdirektoren zurück. Die stimmten nun ab, nur eine schwache Mehrheit votierte für die Sendung im Ersten Programm. Weil man fürchtete, die »Holocaust«-Gegner würden sich ausschalten, wollten die Verantwortlichen den Bruch in der ARD nicht riskieren.

Dem verschnupften WDR den ungeliebten Import für sein Regionalnetz allein zu überlassen, schien den TV-Gewaltigen angesichts der publizistischen Eskalation des Themas auch nicht opportun. Nach monatelangem Hickhack kamen sie schließlich überein für "Holocaust" erstmals alle Dritten Programme gleichzuschalten.

Der schärfste Protest gegen diese Verlegenheitslösung ging erst jetzt ein: Interessenten aus der DDR, in der die Dritten Programme nur in Grenznähe zu empfangen sind, beschwerten sich bei der ARD über die kurzsichtige Entscheidung, sie total von »Holocaust« auszuschließen.

Was hier nun, vier Abende bis tief in die Nacht, bundesweit zum Vorschein kam und überwältigend wirkte, mußte den Eindruck erwecken, als habe es in Deutschland bisher keine nachhaltigen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit gegeben. Dabei ist es nicht so, daß sich der deutsche Film und später das deutsche Fernsehen, daß sich die deutsche Nachkriegsliteratur und das Theater nach 1945 an der Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen vorbeigemogelt hätten.

Der erste durchschlagende Bühnenerfolg des Nachkriegstheaters war Zuckmayers Udet-Stück »Des Teufels General«, in dem Hitlers Rassenwahn zumindest ein Nebenthema bildete. Allerdings war das im Exil entstandene Stück von der furchtbaren Nazi-Realität weit entfernt und verfiel dem Glanz der Uniformen und dem rauhen Barras-Charme des Offizierskasinos.

Filme der Ost-Berliner Defa, wie »Ehe im Schatten«, der vom Selbstmord des mit einer Jüdin verheirateten Schauspielers Joachim Gottschalk handelte, oder wie »Affaire Blum«, der den latenten Antisemitismus in der Weimarer Republik zum Thema hatte, waren in der Analyse und im Treffen der Gemütslagen da schon genauer.

Die deutsche Nachkriegsliteratur, die sich in der Gruppe 47 vereinte, machte den Antifaschismus, die Aufarbeitung der Vergangenheit zu ihrem (nie verkündeten) Programm.

Das, was schließlich zum Schlagwort der »Vergangenheitsbewältigung« verkam und damit auf ungute Weise mit den offiziell und sicher gutwillig veranstalteten Wochen der Brüderlichkeit korrespondierte, stellte die literarische und theatralische Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Juden vor ein Dilemma.

Einerseits gab es das Diktum von Adorno, der gesagt hatte, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Andererseits gab es die »Todesfuge« des dem Holocaust entkommenen Paul Celan ("Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"), ein Gedicht, das damals zumindest viele Studenten bewegte und auf die Vergangenheit verwies.

Vor allem zwei Ereignisse waren es, die beide Pole der Auseinandersetzung mit der Judenausrottung markierten: einmal, 1950, das »Tagebuch der Anne Frank«, als Buch, als Bühnenstück und später im Kino und Fernsehen, von der gerührten Betroffenheit eines breiten Publikums begleitet. Und der Alain-Resnais-Film »Nacht und Nebel«, der 1956 die Zuschauer erstmals mit dokumentarischen Aufnahmen des KZ-Grauens konfrontierte.

Die Reaktionen waren nicht untypisch. Konnte man das Tagebuch des jüdischen Mädchens, das zwei Jahre in einem Versteck und von dauernder Angst umlauert während der Nazi-Okkupation in Holland lebte und in Bergen-Belsen umkam, mit Rührung verarbeiten (ähnlich geht ja auch »Holocaust« vor), so reagierte man auf den Dokumentarfilm von Resnais mit Ablehnung.

Die beiden großen, die Öffentlichkeit lange beschäftigenden Theaterstücke über die Judenvernichtung waren einmal Hochhuths »Stellvertreter« und zum andern »Die Ermittlung« von Peter Weiss.

Hochhuth hatte in einer Mischung aus Schiller-Drama und Dokumentarstück, aus Trivialdrama und flammendem Appell den Weg des Widerstandskämpfers Kurt Gerstein geschildert und dabei eine Mitschuld der katholischen Kirche an der Judenvernichtung postuliert - der Papst habe geschwiegen, selbst dann, als Juden in Rom, also gewissermaßen unter seinen Augen, verschleppt wurden.

Damit war ein deutsches Tabuthema berührt: daß es nämlich auch keinen christlichen Widerstand (wie etwa gegen die Euthanasie) gegen die Entrechtung und Deportation der Juden gegeben habe - im Restaurationsklima der Adenauer-Ära, die das Adjektiv christlich zur Staatsklammer erheben wollte, eine ungeheure Provokation.

Andererseits: Hochhuths »Stellvertreter«, auf den eine ganze Flut von Dokumentarstücken folgte, ließ sich auch als Entschuldigungs- und Rechtfertigungs-Drama für viele Deutsche mißverstehen. Wenn schon der Papst nichts hatte tun können, so lautete die Argumentation, wieviel weniger dann der ohnmächtige einzelne Deutsche.

»Die Ermittlung« von 1965 stellte die erste gründliche Auseinandersetzung eines Schriftstellers mit den großen NS-Prozessen dar.

Das Stück von Peter Weiss, nach dem Muster von Dantes »Inferno« in Gesänge gegliedert, ist die Verarbeitung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses gegen Boger, Kaduk, Klehr und andere. Weiss folgte bei seinem dokumentarischen Verfahren der Berichterstattung Bernd Naumanns in der »FAZ«. Bereits damals wurde ein Phänomen deutlich, das sich jetzt bei »Holocaust« verstärkt wiederholt: daß nämlich die Bühnenfassung weit mehr Betroffenheit, Ablehnung, Erregung provozierte als der dokumentarische Bericht.

Wenn »Holocaust« trotzdem Emotionen wie zum erstenmal freisetzte und die üblichen Sperren und Blockaden durchbrach, die Deutsche vor dem schrecklichsten Kapitel ihrer Vergangenheit aufgerichtet haben, so liegt das daran, daß hier erstmals (relative) Geschichtstreue sich mit den trivialen Mitteln der amerikanischen Fernsehserie verbinden konnte, daß es den amerikanischen TV-Machern gelungen ist, die Judenausrottung in dem Schicksal zweier Familien zu personalisieren, ohne dadurch das kollektive Thema zu zerstören.

Hatte man vor der deutschen Ausstrahlung noch meinen können, die US-Serie verhökere das Thema des Judenmordes zugunsten einer hemmungslos ans Gefühl appellierenden Seifenoper, so zeigte die Anteilnahme und Betroffenheit der Zuschauer, daß gerade diese, den von einer Nazi-Vergangenheit unbelasteten Amerikanern mögliche, Form eine reinigende (kathartische) Wirkung habe wie einst die griechische Tragödie - so jedenfalls der Psychoanalytiker Hendrik de Boor in der »Holocaust«-Diskussion.

Aufgewühlt durch die hautnahe Präsentation des Millionen-Massakers, wagen die Deutschen nun plötzlich den Blick zurück - über den Sendeschluß hinaus.

Berlins Schulsenator Walter Rasch forderte alle Lehrer auf, »Holocaust« im Unterricht zu diskutieren. Diese Serie, rühmte der Vorsitzende des Bayerischen Lehrer-Verbandes, Ebert, habe eine »stärkere didaktische Wirkung« als »abstrakte Statistiken und nackte Fakten« und empfahl das auf Videoband mitgeschnittene Anschauungsmaterial als Lehrstoff.

Der Superintendent des Kirchenkreises Bodenwerder an der Weser wird in seinem Jung-Ehepaar-Kreis über »Holocaust« diskutieren. Die Düsseldorfer Bezirksvertretung 3 hat alle älteren Mitbürger des Stadtteils Bilk gebeten, mit privaten Erlebnissen aus dem Dritten Reich, aufgeschrieben oder auf Tonband gesprochen, an die Öffentlichkeit zu kommen und einschlägige Dokumente, Lebensmittelkarten wie Blockwart-Briefe, für eine Broschüre zur Verfügung zu stellen.

Wissenschaftler wollen erkunden, ob die emotionale Bewegung während der Sendezeit eine längere gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema ausgelöst hat. Im Auftrag des WDR und der Bonner Bildungszentrale startete das Offenbacher Marplan-Institut für 180 000 Mark eine Repräsentativ-Umfrage in drei Stufen: Vor »Holocaust« wurde der allgemeine Wissensstand zu Nazi-Zeit und Judenvernichtung abgefragt; während der Sendung registrierten die Forscher die spontanen Reflexe; in acht Wochen wollen sie die Langzeitwirkung ausloten.

Der Erziehungswissenschaftler Lißmann begann eine Umfrage unter Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren, mit denen er sich das Programm gemeinsam ansah. Das »Ausmaß der Betroffenheit« hat ihn dabei überrascht. Doch er fürchtet: Es könnte sein, daß »Holocaust« keine rational-kritische Auseinandersetzung aufkommen läßt. Lißmann: »Das wird ein Strohfeuer.«