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Spiel mit gebrochenen Herzen

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  • ️Sun Jun 22 2008

Es muss wie ein Zwang gewesen sein. Dieser Wunsch, immer eine andere Rolle zu spielen. Andere Berufe, Beschäftigungen und Identitäten auszuprobieren. Wer, das war die beunruhigende Frage seines Lebens, war er am Ende selbst?

Auf jeden Fall war er Weltkriegspilot, Literat, Filmregisseur und Diplomat. Sein Leben erscheint so irisierend und schwer zu greifen wie eine Blase aus Seifenwasser. Das Ende seines ewigen Maskenspiels bestimmte er dann schließlich selbst: Er schoss sich in den Kopf.

Und natürlich ist sein Werk ebenso vielschichtig und verfranst wie sein Schicksal.

Der Franzose Romain Gary (1914 bis 1980), ein Autor von europäischem Rang, war ein schriftstellerisches Chamäleon. Und eine Provokation. Er hat einen der größten Skandale zu verantworten, den die französische Literatur je erlebt hat.

Der Mann mit den verhangenen traurigen Augen und der ebenso undurchdringlichen Biografie war seit den sechziger Jahren eine der auffallendsten Erscheinungen in Paris in einer neuen Ära, als die Studenten rebellierten, de Gaulle die Macht aus den Händen glitt und französische Regisseure eine neue, frech-frivole und politisch engagierte Richtung im Film verfolgten: die Nouvelle Vague, die das Kino revolutionierte.

Und Gary, der Literat und Diplomat, sollte einen Star dieser neuen Welle heiraten, die jungenhaft-verführerische Amerikanerin Jean Seberg (1938 bis 1979). Ihre Rolle als flippige Zeitungsverkäuferin in Jean-Luc Godards Kultfilm »Außer Atem« (1960) mit Jean-Paul Belmondo hat sie unsterblich gemacht.

1979, nicht einmal eineinhalb Jahre vor dem Freitod Garys, von dem sie seit Jahren geschieden war, sollte auch sie sich in Paris das Leben nehmen. Ihr gemeinsamer Sohn, Diego Gary, 45, ist der Spross und das Opfer dieser tumultuösen, offenen Ehe.

Romain Gary hat rund 30 Romane geschrieben, Drehbücher und Geschichten, er hat fünf Pseudonyme benutzt, auch der Name, unter dem er lebte, war nur geborgt. Geboren wurde er als Roman Kacew in Wilna im heutigen Litauen. Sein Erzeuger ist unbekannt. Die jüdische Mutter, Nina, nährte in ihm die - wohl unberechtigte - Hoffnung, dass er der Abkömmling eines damals berühmten Schauspielers sei. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden machte ihr die Vermittlung der Illusion leichter.

Nina plante und zeichnete seine Biografie quasi im voranstürmenden Voraus, sie malte sich aus, was aus ihm werden sollte. Sie trieb ihn an, umgarnte ihn mit Liebe und erdrückte ihn beinah mit ihrer fordernden Zuwendung. Sie hatte den Masterplan für sein Leben.

Die Mutter hielt ihren Sohn für begnadet: Du wirst Violinvirtuose, Tänzer, Maler, Dichter, Diplomat - egal. Frauen werden dich umschwärmen, und dein gelobtes Land ist Frankreich. Das war wie ein mütterlicher Segensspruch und Fluch zugleich.

Vieles von der Wunschliste seiner Mutter ließ sich nicht realisieren. Aber Gary wurde tatsächlich Dichter, er wurde sogar Diplomat und Frauenheld - und er wurde es in Frankreich. Er hat seiner vor Sohnesliebe tollen Mutter, natürlich, ein literarisches Denkmal gesetzt, den Roman »La promesse de l'aube«, der jetzt in neuer Übersetzung endlich wieder auf Deutsch vorliegt: »Frühes Versprechen"*.

Nach und nach will der Münchner Verlag SchirmerGraf nach diesem charmanten Romanauftakt noch weitere der wichtigsten Bücher von Romain Gary wieder in Deutschland herausbringen.

Der Roman »Frühes Versprechen«, der so viel von Romain Garys Mutter-Geschichte enthält, wenn auch überhöht und zugespitzt, wurde bisher nur als literarisches Dokument der Dankbarkeit wahrgenommen. In Wahrheit ist er aber auch ein - glänzend geschriebener - Beweis der manipulativen Kräfte, die Mütter, wenn sie nur wirklich wollen, aufbieten können.

Garys Leben erscheint in diesem Buch wie die rasante Fahrt auf einer Modelleisenbahn, bei der er der Waggon, die Mutter aber Gleisarbeiter, Schaffner und Lokomotive zugleich ist.

Sie schaffte es, ihren Sohn nach Nizza zu bringen, da war er 13. Er machte Abitur, studierte Jura und wurde Pilot. 1940, die Deutschen hatten Teile von Frankreich besetzt, floh Gary, längst französischer Staatsbürger, nach London, wo er sich der Luftwaffe der Exilstreitkräfte des »Freien

Frankreich« anschloss. Ein Jahr später starb die Mutter.

Sie hat nicht mehr erlebt, wie sich ihre Forderungen an den Sohn nach und nach und mehr oder weniger erfüllten.

Im Jahr des Kriegsendes, 1945, erschien sein erster Roman, und Gary trat in den diplomatischen Dienst Frankreichs ein. Er heiratete - zum ersten Mal: die britische Schriftstellerin Lesley Blanch. Elf Jahre später hatte er schon mehrere Auslandsposten innegehabt, weitere Bücher veröffentlicht und den angesehensten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, gewonnen. Gary war eine Berühmtheit, ein Mann auf dem Weg zum Mythos. Mehr hätte seine Mutter nicht von ihm verlangen können.

1959 begegneten sich die androgyne Seberg und der arrivierte Gary zum ersten Mal. Ein Jahr später beziehen sie in Paris eine gemeinsame Wohnung. 1963, Gary hat sich von seiner ersten Frau scheiden lassen, heiratet das Paar. In demselben Jahr wird der Sohn Diego geboren.

Diego, früher einmal Angestellter bei einem TV-Sender, betreibt heute in Barcelona ein Café mit Galerie und Bücherecke. In Paris, der Stadt seiner schwierigen Kindheit, hat er noch eine kleine Wohnung. Er wirkt fahrig und gehemmt und stottert, wenn er dort über seine Eltern spricht. Er erinnert sich an »den Glamour dieser Zeit«, daran, dass er seiner Mutter »manchmal den Reißverschluss ihres Kleides zumachen durfte, wenn sie, elegant und schön, ausging«. Sie ging oft aus.

Die Ehe zerbröckelte. Beide Partner gingen fremd. 1970, das Ehepaar drehte gemeinsam einen Film, gab Romain Gary auf einer Pressekonferenz am Set das Ende der Ehe bekannt, damals ein ungewöhnlicher Schritt. Diego war sieben Jahre alt.

In der Folgezeit fühlte der Sohn sich oft »wie ein Taxi«, das sich zwischen Vater und Mutter hin und her bewegte. Denn Jean Seberg blieb in demselben Gebäude wohnen wie ihr Ex-Mann. In der Rue du Bac in Paris pendelte der Sohn zwischen den Eltern, überbrachte Botschaften und manchmal Geld vom Vater, das für die Mutter bestimmt war.

Vater und Sohn bekamen mit, dass die Affären, die Jean Seberg unterhielt, nicht immer glücklich waren. Die Beziehung zu einem Mitglied der radikalen Bürgerrechtsorganisation Black Panthers, die sich für die Rechte der Afroamerikaner einsetzte, war die spektakulärste. Die »Panthers« waren in Intellektuellenkreisen auf beiden Seiten des Atlantiks damals sehr en vogue. Sie waren ein prominenter Teil des »radical chic«.

Romain Gary hatte mit dem Image zu kämpfen, ein altmodischer, politisch konservativer Schriftsteller zu sein. Er galt als Gaullist und - in der Literatur - als Traditionalist. Schließlich hatte er den Nouveau Roman bekämpft, diese literarische Erfindung von Alain Robbe-Grillet, Michel Butor und Nathalie Sarraute, die kohärentes Erzählen ablehnten. Er, Gary, wollte hingegen erzählen, saftige, lebensstrotzende Geschichten mit einem ordentlichen Anfang und einem plausiblen Ende.

So suchte Gary nach einem Ausweg. Er fand ihn in einem weiteren Pseudonym: Emile Ajar. Unter diesem Namen veröffentlichte er 1975 seinen größten Erfolg, »La vie devant soi«, der als »Du hast das Leben noch vor dir« auch in Deutschland ein Bestseller wurde. Das Buch, in rund 30 Sprachen übersetzt, hat sich in Frankreich mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft.

Erzählt wird die Geschichte eines Araberjungen, der in Paris von einer alternden jüdischen Ex-Prostituierten mit Essen, Zuwendung und Lebensweisheiten versorgt wird. Als »Madame Rosa«, mit Simone Signoret in der Titelrolle, kam der Stoff ins Kino. Das Buch war so wirkungsstark, dass sich ein paar Jahre später Elemente daraus in dem Roman »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« von Eric-Emmanuel Schmitt auf wundersame Weise wiederfanden.

Das Vorbild für seine Figur der Madame Rosa fand Gary im eigenen Haus. Sohn Diego, von den Eltern weitgehend unbetreut, wuchs bei der Haushälterin Eugenie auf. Wie Rosa ihren Araberjungen, so umsorgte Eugenie, eine Spanierin, den kleinen Diego. »Ich sprach eher spanisch als französisch«, sagt der heute. Und, nicht ohne Stolz: »Der kleine Araberjunge aus dem Roman - das bin ein bisschen ich.«

Brenzlig wurde es für Romain Gary, als das Buch über Madame Rosa 1975 den Prix Goncourt zuerkannt bekam, den Gary schon einmal gewonnen hatte. Die Regeln verbieten es jedoch, dass ein Autor zweimal ausgezeichnet wird. Noch ahnte nie-

mand, dass Gary und Ajar identisch waren. Aber der Argwohn wuchs.

Gary, in Zugzwang gebracht, schob einen entfernten Verwandten vor: Paul Pavlowitch, der zurückgezogen in Südfrankreich lebte und mitzuspielen bereit war, gab sich als Ajar aus. Einige Schlaumeier in der Literaturszene hatten inzwischen nämlich Gary als wahren Verfasser des preisgekrönten Buchs in Verdacht. So bahnte sich einer der größten Skandale der französischen Literaturgeschichte an.

Gary, in die Enge getrieben, setzte das Verwirrspiel fort. Pavlowitch distanzierte sich in dem Buch »Pseudo« von Gary und erklärte wortreich, warum er quasi zwanghaft zu dem Pseudonym Emile Ajar habe greifen müssen. In Wahrheit hatte natürlich Gary auch diese Rechtfertigungsschrift geschrieben. Die Verwirrung war komplett.

Die Affäre, die in allen Details erst nach Garys Tod bekanntwerden sollte, habe seinen Vater, so glaubt Sohn Diego heute, zutiefst verunsichert.

Wie bei einem Jongleur, der zu viele Bälle in der Luft hat, drohte auch Gary an seiner eigenen Verwirrtaktik zu zerbrechen. »Er wurde immer depressiver«, sagt Diego. Am 2. Dezember 1980 erschoss sich der Mann, der sich Romain Gary nannte und doch nie ganz Romain Gary sein wollte.

Weil sich seine Ex-Frau Jean Seberg ebenfalls umgebracht hatte, hinterließ Gary den Medien eine Nachricht, die voreiligen Schlüssen aus seinem Selbstmord vorbeugen sollte: »No connection with Jean Seberg. Lovers of broken hearts are kindly asked to look elsewhere.«

Doch die Freunde trauriger Liebesgeschichten schauten nicht weg, sondern genau hin.

Gebrochene Herzen waren in dieser Geschichte ja genug zu finden. Das von Sohn Diego, der seinem Vater die Tat bis heute nicht verzeihen kann, schlägt noch.

JOACHIM KRONSBEIN

* Romain Gary: »Frühes Versprechen«. Aus dem Französischen vonGiò Waeckerlin Induni. SchirmerGraf Verlag, München; 416 Seiten;22,80 Euro.* Mit Samy Ben Youb und Simone Signoret; nach dem Roman »Duhast das Leben noch vor dir« von Romain Gary alias Emile Ajar.